Irritationen auf dem Weg zu einer Netikette für soziale Netze
In den letzten Wochen haben wir hier viel über „virtuelle Beziehungen“ diskutiert, also vornehmlich über die Wertigkeit und den Umgang mit Netzkontakten, die man nur übers Internet kennt.
Antje Schrupp, deren Beiträge für mich zum Besten gehören, was die Welt der Blogs derzeit zu bieten hat, nimmt nun einen viel bedeutenderen Aspekt des neuen „Geschwurbels“ in den sozialen Medien ins Visier. In „Das Ende der Heuchelei“ betrachtet sie die Folgen eines entgrenzten Miteinanders, in dem auf einmal reale Bekannte, Kollegen, Freunde und Partner auch andere Persönlichkeitsaspekte und Aktivitäten einer Person mitbekommen, um die sie zuvor in der eher „privaten“ oder streng „geschäftlichen“ Beziehung gar nicht wussten:
„da kann es zuweilen zu interessanten Irritationen kommen, wenn die jetzt auf Facebook alle miteinander zu tun haben. Wenn ich also Informationen von mir nicht mehr selbst filtere je nach “Szene”, an die sie gerichtet sind, sondern wenn plötzlich alle alles mitbekommen. Wenn die Gleichstellungsbeauftragte, die mich schon öfter zu Vorträgen eingeladen hat, erfährt, dass ich Anarchistin bin. Wenn mein politisch konservativer Onkel anfängt, sich mit meinen feministischen Freundinnen zu streiten. Wenn meine politischen “linken” Gesinnungsgenossen damit konfrontiert werden, dass ich mit anderen ernsthaft über Gott diskutiere. Oder wenn die Lesben, die mich als radikale Feministin kannten (und womöglich dachten, ich wäre auch lesbisch) plötzlich wissen, dass ich mit einem Mann verheiratet bin.“
Wenn alle alles wissen
Antje begreift die Herausforderungen, die sich so ergeben, als produktive und befreiende Veränderung, die es zunehmend verunmöglicht, Beziehungen allzu eingleisig (und wie sie meint: heuchlerisch) und Nutzen-orientiert zu führen – wie etwa die vom Privaten stark getrennten Geschäftsbeziehungen der alten Welt. Und sie sieht das Wegbleiben, Zögern und Zaudern vieler, die den sozialen Netzen kritisch gegenüber stehen, vor allem als Angst vor dieser Unübersichtlichkeit: je mehr ich öffentlich von mir zeige, desto mehr können „alle möglichen“ Leute auch von mir wissen – ein Machtverlust bezüglich der eigenen Außenwirkung in den bisherigen sozialen Rollen, der nicht jedem behagt.
Den Weg, nur das mit der Welt zu teilen, was man auch bisher mit sämtlichen Beziehungen geteilt hätte, ergibt eine so kleine Schnittmenge, dass für Antje daraus nichts als die große Langeweile entsteht. Sie fordert ein Einüben der neuen Offenheit, die einen positiven kulturellen Wandel befördere und der „alten Heuchelei“ ein Ende mache. Dazu gehöre zum Beispiel das Vertrauen:
„Wir brauchen letztlich Vertrauen in die Person, mit der wir “befreundet” sind – nämlich das Vertrauen darauf, dass ihre vielen unterschiedlichen Facetten wohl schon irgendwie zusammenpassen, auch wenn wir das grade nicht kapieren. Und dass es interessant für mich sein kann, jene anderen Facetten aus ihrem Leben kennen zu lernen, ohne dass ich damit gleich eifersüchtig werde, weil es nicht genau das ist, was mir bisher an dieser Person wichtig war.“
Persönlich neige ich dazu, das ähnlich zu sehen, jedenfalls, soweit es meine näheren Freunde betrifft: Sie werden sicher nicht durch irgend etwas, was ich aus meinem Leben hier oder anderswo zum Besten gebe, groß irritiert. Das aber muss nicht für alle Menschen zutreffen, ohne dass ich deren Bedenken und Wunsch nach einem „übersichtlichen“ Rollenverhalten durchweg mit dem negativ wertenden Wort „Heuchelei“ belegen würde. Dass wir soziale Rollen mit je spezifischem Verhalten spielen, hat ja auch seinen positiven Sinn: es konzentriert auf das jeweils aktuelle Miteinander, auf den Sinn der jeweiligen Beziehung, die vielleicht gar nicht bereichert würde durch ein allzu „ganzheitliches“ Outing sämtlicher bisher nicht vermittelter Aspekte.
Vertrauen ist gut, Netikette ist besser
Es gibt einen brisanten Aspekt des „sich Zeigens“, der nicht mit dem Verweis auf eine zu entwickelnde Kultur mit mehr Offenheit und Vertrauen abzubügeln ist: Da ich als Mensch in einem Beziehungsnetz stehe, zeige ich nicht nur mich, wenn ich über diese Beziehungen bzw. meinen Alltag mit ihnen schreibe, sondern immer auch den Anderen, der da mit mir verbunden ist. In der alten Welt gab es dazu die einfache Benimmregel, die mir als Kind recht vehement vermittelt wurde: Über Andere spricht man nicht!
Anstatt darauf zu setzen, dass alle sich daran gewöhnen, von Freunden und Bekannten „besprochen“ und veröffentlicht zu werden, läge es doch viel näher, diesen menschenfreundichen und Konflikte vermeidenden Grundsatz auch in den sozialen Netzen zu berücksichtigen. Der Grund dafür ist einfach und wie ich meine sehr nachvollziehbar: Jeder sollte selbst darüber bestimmen dürfen, was er von sich öffentlich macht und was nicht. Dieser Grundsatz zieht sich durch unser gesamtes Datenschutzrecht, warum sollte er ausgerechnet im persönlichen Miteinander sozialer Netze entfallen?
Wenn ich berichte, mit wem ich gestern abend unterwegs war und was wir dabei erlebt haben, kann es durchaus sein, dass dieser Jemand einem Dritten genau das verschwiegen oder einfach noch nicht mitgeteilt hat. Dafür kann es gute oder schlechte Gründe geben, die ich (für mich!) bewerten kann, doch habe ich kein Recht, deshalb übergriffig zu werden und FÜR IHN zu bestimmen, was öffentlich wird und was nicht.
Neue Kultur – oder mediale Vergewaltigung?
Dieser Aspekt einer „neuen Offenheit“, die keine Privatheit mehr kennt, kommt in Antje Schrupps anregender Betrachtung nicht vor – und auch nicht bei Anderen, die in diesselbe Richtung argumentieren. Im Artikel „Von sich schreiben – Webdiarys und mehr“ bin ich im Jahr 2003 dieser Problematik ausführlicher nachgegangen, aus dem ich, weil es so punktgenau passt, ausnahmsweise mal zitiere:
„…auch das eigene Erleben zu schildern, ist problematisch. Ich gebe zu, dass ich schon mal interessiert mitlese, wenn jemand sich über das langweilig gewordene Liebesleben mit seiner Frau auslässt – aber gleichzeitig läuft mir ein Schauer über den Rücken! Ich empfinde das als eine Art Verrat, eine Illoyalität gegenüber der Intimität der Beziehung, die auch dadurch nicht „geheilt“ wird, dass so mancher das dann seiner Frau auch noch zu lesen gibt – so ganz offen und ehrlich…! Manchmal fühlen sich die Autoren in der Anonymität relativ sicher: insbesondere in den ersten Jahren des Netzes war es eher unwahrscheinlich, dass das eigene Umfeld mitliest, was man im Web so verbreitet. Das hat sich mittlerweile drastisch geändert und gelegentlich konnte ich mitbekommen, wie hart es für die Autoren manchmal war, wenn der „Clash of Cultures“ plötzlich DOCH statt fand.
Es macht dabei sicher einen Unterschied, ob der Schreibende etwas berichtet, was er auch dem „Gemeinten“ in aller Offenheit ins Gesicht sagt, oder ob es etwas ist, das dem Betroffenen ganz neu ist. Zuhause den Mund nicht aufkriegen, aber im Web jammern, klagen, schimpfen, fordern, das ist so ziemlich die unterste Stufe möglichen Verhaltens, wenn man es moralisch betrachtet – und das tue ich hier, es geht ja um „die gute Sitte“ im persönlichen Schreiben.
Doch auch wenn „nur“ geschrieben wird, was auch dem Betroffenen bekannt ist, ist es doch ein Übergriff auf dessen Leben: Er oder sie muss gewärtigen, dass nun irgend jemand aus dem Bekannten- oder Kollegenkreis haarklein darüber Bescheid weiß, was zu Hause gerade los ist – kein schöner Zustand. Es gibt vielleicht Menschen, die ganz frei mit so etwas umgehen können, aber der Normalfall ist es gewiss nicht. Eher bedeutet es eine Art mediale Vergewaltigung, das Intimleben eines anderen öffentlich zu machen. Deshalb sind dem ja auch in der Welt traditioneller Medien rechtliche Grenzen gesetzt.“
Natürlich ist das gewählte Beispiel etwas drastisch, doch gilt dasselbe auch genauso für weniger intime Angelegenheiten. Und auch, wenn ich „nur“ bei Facebook ein Foto einstelle und darauf abgebildete Freunde „tagge“, sie also mit Namen, Zeitpunkt und Ort auf eine Weise oute, die sie nicht selbst gewählt haben, würde ich gegen die Nettikette verstoßen, die ich mir als für alle geltend wünsche!
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8 Kommentare zu „Entgrenzte Beziehungen: Problem oder Befreiung?“.