Gelegentlich schaue ich nach, welche Digital Diary-Artikel den größten Anklang finden. Dabei steht lange schon der Beitrag „Vertrauen und Beziehung“ mit großem Abstand an erster Stelle. Der Beitrag hat sechs bis zehnmal so viele Leser wie der nachfolgende, und das dauerhaft!
Mich stimmt das nachdenklich: Vertrauen scheint ein großes Problem zu sein und ich frage mich, ob denn die Menschen heute weniger „vertrauenswürdig“ sind als früher? Oder – dazu neige ich eher – liegt es an den gestiegenen Erwartungen, die an eine Liebesbeziehung gestellt werden?
Aus allen Kanälen wird uns heute nahe gelegt, uns den Bedürfnissen der Wirtschaft anzupassen, hoch flexibel zu sein, lebenslang zu lernen, den Wohnort für eine Arbeit zu wechseln und unser gesamtes Auftreten dem jeweiligen Anlass entsprechend perfekt zu stylen. Als besonders erfolgreich gilt, wer „zur Marke wird“: die Kraft, das eigene Image zu gestalten scheint zwei unvereinbare Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Ressource für dieses Me-Styling ist ja immerhin die eigene Individualität, man verteidigt also einen Rest persönlicher Freiheit und macht damit sogar Kasse. Andrerseits ist so eine „Marke“ dann aber auch ein Hindernis: wer es mal geschafft hat, JEMAND zu sein, kann sich nicht mal eben so erlauben, morgen ganz anders zu werden – jedenfalls nicht ohne Verluste.
Beziehung als entspannte Wellness-Oase?
In der Liebe soll nun alles ganz anders sein. Zwar wird jede Menge Aufwand getrieben, den „Richtigen“ zu finden und sich dabei „ins rechte Licht zu setzen“, doch wenn er dann mal gefunden ist, soll plötzlich alles anders sein: Im Rausch der Verliebtheit fühlt sich der Mensch mit seinem SoSein ANGENOMMEN und erwartet, künftig mühelos und entspannt für das geliebt und begehrt zu werden, was er ohne jegliche „zielgruppenspezifische“ Anpassungsanstrengungen ist. Dass man sich in dieser Phase gegenseitig nur die Schokoladenseite zeigt, steht nicht im Bewusstsein, denn es geschieht ja zunächst „wie von selbst“. Aber jeder Rausch verblasst und im Alltag zeigen irgendwann alle ihre „ganze Person“ mit allen Ecken, Kanten und Defiziten. Ist DAS die Enttäuschung, die als „Vertrauensbruch“ wahrgenommen wird? (Ich liebte dein Märchenprinz-Image – und nun DAS!!)
„Also mein Geliebter und ich haben oft gesimst und uns 4 mal bei ihm getroffen, was superschön war, auch emotional. Ich habe gemerkt, dass er mich mag. Er war immer sehr zuvorkommend und aufmerksam mir gegenüber. Letzten Dienstag habe ich dann alles kaputtgemacht, weil ich spontan ein Treffen wollte und er nicht so wollte, wie ich.“
schrieb eine Leserin. Sie hat ihren Lover dann mit bösen SMS traktiert, sich später entschuldigt, doch „sein Vertrauen“ war unwiederbringlich dahin. Ihres wohl schon vorher, als er nicht so wollte wie sie. Ok, die Geschichte ist ungemein dünn und ein viermaliges Treffen macht noch keine „Beziehung“, wie die meisten sie verstehen. Und doch demonstriert der Vorfall den Kern der meisten „Vertrauensverluste“: Es gibt jede Menge Erwartungen ans Gegenüber, über die niemals gesprochen, geschweige denn ein Konsens erziehlt wurde. Das konnte in früheren Zeiten noch besser gelingen, da es einen kollektiven Konsens darüber gab, wie eine Zweierbeziehung zu gestalten sei – der aber ist heute weg!
Zwar beschreit die Werbung und vielerlei Medien immer noch das romantische Märchen vom „Einen für alles und immer“, doch sieht die Realität lange schon anders aus: die Lebensabschnittspartnerschaft ist der Normalfall und Fernbeziehungen werden immer häufiger. Seitensprungportale etablieren ganz selbstverständlich den Anspruch auf „geilen Sex“ mit Dritten, wenns in der Hauptbeziehung nicht mehr so prickelt. Und die zunehmende „Katalog-Suche“ in vielerlei Flirt- und Kontakt-Communities lassen jeden Teilnehmer spüren, dass die Auswahl groß ist und der Gefundene vielleicht doch noch durch einen „besser Passenden“ ersetzt werden kann – nur ein paar Mausklicks weiter…
Unter solchen Bedingungen ist es im Grunde vermessen, noch die Erwartung zu hegen, dass ab dem „Sich-finden“ auf einmal ganz andere Werte zählen. Bloß weil es erotisch geklappt hat und das anfängliche Zusammensein sich wundervoll anfühlte, ist der Geliebte dennoch nicht in derselben Manier „meiner“, wie es früher üblich war. Was als „Vertrauen“ reklamiert wird, ist oft genug das leidbringende Festhalten und Bestehen auf Erwartungen, wie sie in weniger dynamischen Zeiten im kollektiven Bewusstsein etabliert wurden. Zu Zeiten auch, als Menschen noch kein so extrem individualistisches Selbstverständnis hatten, das es immer schwerer macht, sich aneinander anzupassen und in der Alltagsnähe nervige Reibungsverluste zu vermeiden. Anpassung, die ansonsten allüberall gefordert und belobigt wird, sieht man im vermeintlich entspannten Raum der Beziehung als verzichtbar, ja als Verlust an. Folgt er mir nicht, hat er mein Vertrauen enttäuscht, der Saubär!
Alltagsnähe – nicht ohne gemeinsames Interesse!
Wenn ich meine eigene Geschichte der Lebensabschnittspartnerschaften und Affären betrachte, so war mein Weg raus aus heftigem Beziehungclinch ein weiträumiges Aufgeben von Erwartungen, sowie ein zunehmender Verzicht auf kontinuierliche Alltagsnähe. Stark individualisierte Menschen brauchen persönliche Freiräume, die nicht vom Anspruch, dass man „alles“ zusammen erleben und genießen müsse, befrachtet sind. Das bedeutet lange schon: ich wohne nicht mit meinem Liebsten zusammen, jeder hat eigene Freunde, Interessen und Tätigkeiten, die nicht geteilt werden. Unverzichtbar sind allerdings auch gemeinsame Aktivitäten (!), die über bloßes Genießen/Konsumieren/Erotik hinaus gehen: es gab Beziehungen, da war der „politische Kampf“ das gemeinsame Aktionsfeld, in anderen waren es unternehmerische Aktivitäten, jetzt ist es ein gemeinsamer Garten. Aber keine Regel ohne Ausnahme: auch das „philosophische Gespräch über die Welt“ trug eine Beziehung über zehn Jahre – und trägt sie auch heute noch, denn meine wichtigsten „Ex“ sind meine wahren Freunde geworden.
Gemeinsame Aktivitäten bedeuten Alltagsnähe, die dann gelingt, wenn zwei sich einig sind, die gemeinsame Sache VOR die Beziehung und ihre wechselnden Stimmungen zu stellen. Der Garten muss gegossen werden, auch wenn wir uns mal nicht grün sind – so ein Konsens in Bezug auf gemeinsam für wichtig erachtete Aktionsfelder hat dann etwas Stabilisierendes.
Gesamtgesellschaftlich fände ich es nicht schlecht, es würde statt der staatlichen „Ehe“ künftig die „Elternschaft“ geben, die Rechte und Pflichten im Miteinander begründet. Das hätte vielleicht eine entlastende und kinderfreundliche Wirkung im allgemeinen Erwartungshorizont.
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25 Kommentare zu „Vertrauen in der Liebe – eine schwindende Ressource?“.