Nach acht Jahren Schreiben im Digital Diary zum ersten mal ein „Gesamtinhaltsverzeichnis“ vor Augen zu haben, mutet mich nun doch seltsam an. Ohne Aufwand kann ich mal eben nachsehen, was im Februar 2005 oder 1999 mein Thema war. Es ist, als schaute ich in eine neue Art Spiegel und fragte mich: bin ich das? Hat sich was verändert?? Und dann staune ich, dass sich so wenig verändert hat. Es wirkt, als wäre ich mit dieser Art zu schreiben geboren, ich sehe keine großen Unterschiede und finde das ein wenig erschreckend! Der Mensch muss sich doch verändern, entwickeln, wachsen – hab‘ ich da ein Defizit??
Eine blöde Frage, ich weiß! Dieses Diary war nie als Entwicklungsbericht gemeint, obwohl sporadische Versuche der Selbstverbesserung durchaus vorkommen. Ich wollte immer nur schreiben, was sich schreiben will: ohne Oberthema, ohne Absicht, ohne Ziel. Nun merke ich, wie viel unbewusste Formung und Absicht in diesem Schreiben doch enthalten ist und kann darüber nachsinnen, was das bedeutet.
Jahrelang haben mich Lothar Reschkes Logbuch-Einträge beeinflusst, deren Verschwinden aus dem Web nicht nur ich bedauere. Es war ein Einfluss, an dem entlang ich einerseits meinen Stil verbessern, andrerseits das Eigene finden konnte. Und ich hab‘ einiges gelernt über das Wesen des Literarischen, das umso herzergreifender wirkt, je mehr Leiden dem Autor als Ressource zur Verfügung steht. Womit ich auch gleich den größten Unterschied zwischen seinem und meinem Schreiben benannt habe: ich leide nicht so sehr – und wenn doch mal, dann bekenne ich mich klar dazu, dieses Leiden „nichten“ zu wollen: Erkennen ist gut, ändern ist besser!
Die eigene WAHRHEIT – und wie sie zustande kommt
Diese Grundeinstellung ergibt ein anderes Verhältnis zur „Wahrheit“, die für GLR den obersten Wert darstellt. Auch mir war immer wichtig, hier nie was vom Pferd zu erzählen, mich zu beweihräuchern, nur die guten Seiten darzustellen und das Versagen (z.B. die Unfähigkeit, nachhaltig mit dem Rauchen aufzuhören) zu unterschlagen. Doch habe ich bei der Selbstbeobachtung festgestellt, dass es eine feste Wahrheit über mich selbst gar nicht gibt. Wie ich die Dinge sehe, wie ich auf die eigenen Freuden und Leiden und „die Welt da draußen“ schaue, ist selbst ein Faktor, der Realität erschafft. Auch Denken ist ein Handeln, und so ist jede Beschreibung bereits von mir „gemacht“, auch wenn ich mich noch so sehr anstrenge, „ehrlich zu sein“.
Die Stabilisierung dieser Erkenntnis verdanke ich einem anderen großen Einfluss, den ich von Seiten eines Freundes erfuhr, der mir einige Jahre „Geliebter in der Ferne“ war: Erschaffe deine Welt bewusst, unbewusst tust du es sowieso – Tag für Tag, Augenblick um Augenblick!
Damit ist nicht gemeint, sich um „positives Denken“ zu bemühen, das auf ein bloßes Verdrängen des Leidens hinaus läuft. Es geht darum, sich darüber klar zu werden, wie die je eigene Realität eigentlich zustande kommt und daraus Konsequenzen zu ziehen. Zum Beispiel ist es ja so leicht, im Leiden zu kreisen, wenn ich einfach den Gedanken folge, die auftreten, wenn ich irgend einen Misstand (sei es im persönlichen Leben oder in der Gesellschaft) ins Auge fasse. Nie bleibt das beim bloßen Erkennen stehen, sondern ein Gedanke zieht den nächsten nach sich und locker kann man sich in üble Gefühle (Machtlosigkeit, Wut, Trauer) hinein steigern, die durch die Gedanken ausgelöst werden. Das Befinden verschlechtert sich, man bekommt ein „Opfer-Bewusstsein“ und idealisiert sich selbst zur Ausnahme, die selbstverständlich mit dem inkriminierten „Bösen“ nichts zu tun hat. Dem „Guten“ hat man allerdings durch diese innere Disziplinlosigkeit noch keinesfalls gedient! Im Gegenteil, man tauscht sich womöglich mit Anderen aus, suhlt sich in kommunikativ vermittelten Erregungszuständen, und trägt so dazu bei, dass die üblen Gefühle sich verbreiten und vermehren – ohne dass sich in der Sache irgend etwas ändert!
Die Zwiebel des Ich schälen
Meiner langjährigen Yoga-Praxis verdanke ich die Einsicht, wie automatenhaft und programmiert dieses Erleben von Wirklichkeit üblicherweise abläuft, das gleichzeitig ein „Erschaffen“ ist. Unserer Schau sind unter normalen Bedingungen drei Dimensionen des Erlebens zugänglich: Gefühle, Gedanken und sinnliche Empfindungen. Mit allen sind wir zunächst einigermaßen identifiziert, beziehen aus ihnen unser „Ich-Gefühl“: meine Gedanken, mein Körper, meine Gefühle – alles zusammen ergibt „meine Wahrheit“. (Mein Yoga-Lehrer sprach in diesem Zusammenhang immer von der „Zwiebel des Ich“, die wir schälen, ohne je einen „Kern“ aufzufinden – jegliche neue Selbsterkenntnis ist nur eine weitere Schale, die in einem nächsten Schritt auch wieder wegfällt.)
Diese „eigene Wahrheit“ vom gefühlten Ich erfährt nun im Lauf des Lebens einige Irritationen, die wir ernst nehmen oder auch ignorieren können. Die Identifikation mit dem Körper wird fraglich, wenn dieser auf einmal nicht mehr gehorcht, nicht mehr wie selbstverständlich unserem Willen zur Macht dient: Alter, Krankheit, Schwäche – bin das denn „ich“? Oder stößt mir das nur zu?
Etwas schwieriger ist es, die Identifikation mit dem Denken loszulassen – und doch: wer kann auf Dauer über die eigene Manipulierbarkeit hinweg sehen? Über Selbsttäuschungen im Dienste irgend einer aktuellen Gier, Abneigung oder Angst? Über nachträgliche Rationalisierungen und Rechtfertigungen irrationaler oder destruktiver Verhaltensweisen?? Über Denk-Gewohnheiten und Vorurteile, die aus der medialen Sphäre unhinterfragt übernommen wurden? Deprimierende Einsichten, die jedoch auch ermächtigen, das Denken als ein Phänomen zu begreifen, dessen Gestalt wir mitbestimmen können. Etwa, indem ich mir eine Sache von anderen Standpunkten aus betrachte und meine „ich-zentrierte“ Schau links liegen lasse. Wie ergeht es mir dann? Wie fühlt sich die Realität dann an? Was wird aus meiner Bewertung und wie verändern sich die Gefühle durch diese „andere Sicht“?
So bin ich halt?
Gefühle und sogar Emotionen sind für viele Menschen die letzte Bastion der Wahrheit: was ich fühle, ist authentisch, ist die Wahrheit! Zum Beispiel wird persönliche Liebe als nicht weiter hinterfragbarer Gefühlszustand betrachtet, der eben da ist oder nicht – 10.000 kitschige Schlagertexte besingen diese „Wahrheit“ und die Welt glaubt daran.
Auf den ersten Blick scheint diese Überbewertung der Gefühle nachvollziehbar, denn sie sind unserem DIREKTEN Zugriff entzogen. Ich kann nicht willentlich hassen oder lieben, Wut oder Behagen fühlen, wie ich etwa einen bestimmten Gedanken denken oder meinen Körper bewegen kann. Und doch – das zeigt die Lebenserfahrung und in verdichteter Form die Yoga-Praxis – sind Gefühle „machbar“: Ich kann sie durch meine Gedanken auslösen und verstärken und durch andere Gedanken wieder schwächen und vertreiben. Ebenso ist es möglich, sie über den Körper zu beeinflussen, denn jedes Gefühl ist irgendwo im Körper „verortet“ und hat eine materielle Entsprechung aus Körperspannung und Körperchemie. Wer bewusste Entspannung lernt, erlebt sehr bald, dass zum Beispiel Wut (und Ehrgeiz, Hass, Ärger..) eine Verspannung im Bauch und Solarplexus ist, die mittels Atmen und Entspannen sehr einfach losgelassen werden kann. Man muss es nur wollen – und wer einen entspannten Bauch als NORMALZUSTAND erfährt, wird das auch wollen, denn Wut, Hass und Ärger erscheinen dann als leidvolle Anstrengungen, die man schleunigst wieder neutralisiert.
Auch die Gefühlswelt entpuppt sich also als „bedingt“, massiv beeinflussbar durch Denken und Sinnlichkeit, durch äußere Reize und eigenes Wollen. Nichts „Originales“, gar Substanzielles, zu dem man mit Fug und Recht ICH sagen könnte – wir sehen nur Prozesse, in deren Verästelungen das Ich-Empfinden ein Stück weit hinein reicht und dann immer mehr verblasst, je weiter die Ursache-Wirkungskette von „uns“ weg führt.
Wille zur Macht?
Nach dieser Betrachtung drängt sich die Frage auf: Was bedeutet eigentlich „Identifikation“? Unter welchen Umständen empfinde ich das Ich-Gefühl und was führt dazu, dass ich es in Frage stelle??
Hier zeigt sich mir eine Janusköpfigkeit des Ich-Gefühls, die ich bisher nicht klären konnte. Einerseits erscheint nämlich all das als besonders durchdrungen vom Ich-Gefühl, wo ich persönliche Macht verspüre, etwas zu tun oder zu lassen, es so oder so zu gestalten. Ich kann jetzt vom Stuhl aufstehen und einen Spaziergang machen, das ist die banale Basis der Ich-Identifikation mit dem Körper. Das Ich wäre also „Wille zur Macht“ und wo ich keine Macht verspüre, empfinde ich das entsprechende Phänomen nicht mehr als Teil des Ich (verunfallte Menschen sagen ja: mein Körper gehorcht mir nicht mehr). Auch leblose Gegenstände können als Machtinstrument zum Ich-Bestandteil werden – wenn etwa der Autofahrer auf dem Weg zum Parkplatz sagt: „Ich steh‘ da gleich um die Ecke!“.
Entgegen dieser These weißt jedoch die beschriebene hohe Identifikation mit der Gefühlswelt darauf hin, dass gerade das (zunächst) nicht Machbare als das eigentlich „substanzielle Ich“ erfahren wird: Ich fühle so und kann nicht anders, so bin ich halt!
Wie seltsam! Wie widersprüchlich! Mein Verstand alleine scheint wenig ergiebig, wenn ich mit seiner Hilfe daran gehe, die Zwiebel zu schälen. Verlasse ich jedoch die reine Verstandesebene, kann ich höchstens noch erzählen, nicht aber begründen, definieren, analysieren. Kann berichten, dass ich seit gut 15 Jahren nicht mehr allein das als „ich selbst“ ansehe, was ich genau beschreiben und darstellen kann. Mein mehr oder weniger bewusstes Alltags-Ich mit seinen drei Erlebensdimensionen ist nur die (sprichwörtliche) Spitze eines Eisbergs, der sich komplett der rationalen Erkenntnis entzieht. Bezüglich dieses Eisbergs von „Macht“ zu sprechen wäre so, als wolle der Schwanz mit dem Hund wedeln.
Aber worüber man nicht sprechen kann, darüber soll man schweigen – und also belasse ich es für heute dabei!
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12 Kommentare zu „Die Wahrheit vom gefühlten ICH“.