Claudia am 29. Juni 2010 —

Demokratie: Vom Parteienstaat zur Bürger-Community

Parteien sind in unserer Staatsform „Organe der politischen Willensbildung“, so will es das Grundgesetz. Dabei spricht der Wortlaut des Artikel 21 von einer „Mitwirkung“ an dieser Willensbildung, doch geht die Praxis, die wir seit Jahrzehnten erleben, weit über bloßes Mitwirken hinaus. Anders als Bürgerinitiativen, Lobbys und die Presse sind es schließlich die Parteien, die bestimmen, was im Parlament passiert, wer regiert und was dann tatsächlich umgesetzt wird. Und sie sind nicht nur in den Parlamenten präsent, sondern auch in öffentlich-rechtlichen Anstalten, in den Interessengruppen und Verbänden, in kommunalen Eigenbetrieben und in der Verwaltung.

Dies alles war lange Zeit nicht wirklich umstritten: zwar gab es immer die Kritik an Postengeschacher, Parteienkungelei und Parteibuch-Karrieren, doch leuchtete andrerseits ein, dass das System im Grunde „alternativlos“ war. Zwar konnte man sich Volksabstimmungen zu einzelnen, besonders wichtigen Fragen vorstellen, doch wären auch diese (hätten die Parteien sie befürwortet) immer die große, aufwändig durchzuführende Ausnahme gewesen – nicht wirklich tauglich fürs tägliche Politikgeschäft in all seinen komplexen Verästelungen.

Wer sich mit der eigenen Meinung im Spektrum real existierender Parteien nicht wieder fand, war also darauf verwiesen, eine neue zu gründen. Wie man spätestend bei Wahlen bemerkt, passiert das auch immer wieder, doch haben im eingefahrenen System nur wenige dieser Neugründungen wirklich eine Chance – wie einst DIE GRÜNEN und kürzlich die Piratenpartei. Und man ist geneigt zu sagen: Gut so! Ein Parlament aus unzähligen Splitterparteien: wer glaubt denn im Ernst, dass das ein Fortschritt wäre? (Hier wird dann gerne auf „Weimar“ verwiesen – und nicht zu Unrecht).

Die Unzufriedenheit wächst: Wer will denn noch „Meinung im Gesamtpaket“ ?

Weder sporadische Volksentscheide noch viele bunte Parteien sind das, was man sich als mündiger, interessierter und mitwirkungswilliger Bürger heute als zu etablierende Mitgestaltungsmöglichkeit wünscht. Man will MEHR: genau das, was auch auf vielen anderen Ebenen Gestalt angenommen hat, nämlich die Befreiung vom Zwang, die Dinge „im Bündel“ zu akzeptieren. Wenn ich mich z.B. für den Umbau des Gesundheitssystems interessiere, will ich deshalb noch lange nicht Parteimitglied werden und sämtliche Beschlusslagen der Partei zu vielen anderen Themen „mittragen“. (Schon gar nicht will ich einer entlang am physischen Ort organisierten Parteigliederung beitreten und mich erstmal ein paar Jahre mit Kommunalpolitik befassen). Auch haben heute viele kein Interesse mehr am spezifischen „Wir-Gefühl“ der Parteien. Es wirkt im Gegenteil geradezu abstoßend, dass Sachdiskussionen fortwährend von parteipolitischen Machtkalkülen überwölbt werden – bis dahin, dass man als Funktionsträger gegen die eigene Meinung stimmen muss, was ja nicht nur bei der Bundespräsidentenwahl der Fall ist, sondern häufige Realität auf allen Ebenen.

Wenn Wirtschaft und Gesellschaft sich ändern, muss auch das politische System mitziehen: Wir kaufen nicht mehr die ganze Platte oder CD, sondern das einzelne Musikstück. Wir lesen nicht die ganze Zeitung, sondern den einen oder anderen Artikel. Bestimmte Berufsgruppen gründen wieder kleine, nur sie betreffende Gewerkschaften (Piloten, Eisenbahner), da sie ihre Interessen so besser vertreten können als im „großen Eimer“ von Ver.di. Und seit Jahren laufen den beiden „großen“ Parteien die Mitglieder weg, ohne dass diese der Schrumpfung etwas Substanzielles entgegen setzen, denn sie können ja ihre eigene Entmachtung nicht wollen. Da aber ohne sie letztlich „nichts zu machen“ ist, wächst die Politikverdrossenheit und die Partei der Nichtwähler. Die Demokratie nimmt Schaden, denn sie wird immer weniger als real existierend erlebt: „Die da oben machen ja doch, was sie wollen“ ist die vorherrschende Meinung – und viele kommen für sich zum Schluss, es sei egal, was man wähle, da sich ja doch immer ganz bestimmte Interessen durchsetzen, egal, wer grade regiert.

Piraten-Erfahrungen: Zur Parteiwerdung gezwungen

Dass es die Strukturen selber sind, die nicht mehr befriedigen, kann man an der Entwicklung der Piratenpartei gut sehen, bzw. es wurde von allen erlebt, die dort mal eben alles anders machen wollten. Der erste Vorwurf, der von außen kam, war das angeblich fehlende Gesamtprogramm: ein paar Punkte zur Netzpolitik reichen nicht aus, um als Partei zu reüssieren. Ja, das stimmt – aber das ist NICHT GUT SO und zeigt die strukturellen Defizite des Parteienstaats, der so nicht mehr dem Willen der Bürger entspricht. Warum soll ich mich mit zigtausend Netz-Bewegten auf eine Meinung zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr oder auch nur zum Bildungssystem einigen müssen, bloß um in den Punkten, für die ich mich engagiere, wirkungsmächtiger zu werden?

Die Piraten wurden faktisch gezwungen, sich in die althergebrachte Struktur zu fügen und sind seitdem im Parteiwerdungsgeschäft versackt. Indem sie tun, was man von einer Partei erwartet, sind sie nicht mehr wirklich „sexy“ für all diejenigen, die auf ein Aufbrechen der alten Strukturen und mehr Bürgerbeteiligung auf allen Ebenen setzen. Da hilft es nur wenig, dass innerparteilich in dieser Hinsicht noch Welten zwischen den Piraten und traditionellen Volksparteien liegen, denn man kann sich ja denken, wie sich das entwickeln würde (entwickeln MÜSSTE!), sollten sich die Piraten tatsächlich im Parteienspektrum etablieren.

Erst andere Strukturen ermöglichen andere Parteien: Megatrend Bürgerbeteiligung

Im jetzigen System haben die Parteien das Sagen – alle anderen können allenfalls „eine Welle machen“, die mit Glück von den jeweils aktiven Parteipolitikern ins Kalkül einbezogen wird. An diesem „Welle machen“ können sich dank Internet mittlerweile immerhin viel mehr Individuen und Gruppen beteiligen, da die „Gatekeeper“ in Gestalt der traditionellen Presse nicht mehr alleine bestimmen, was auf die Agenda kommt. Das alleine kann aber nur ein erster Schritt sein, dem weitere folgen müssen, um dem gesellschaftlichen Wandel zu entsprechen. Der Megatrend heißt Bürgerbeteiligung, so schreibt es auch der derzeitige Vorzeige-Philosoph Richard David Precht der SPIEGEL-Leserschaft ins Stammbuch:

„Der Aufstand der Menschen im Internet und anderswo für „ihren“ Bundespräsidentschaftskandidaten Joachim Gauck spricht eine andere Sprache. Er könnte ein Zeichen sein, selbst und gerade dann, wenn Gauck verlieren sollte. Ein Symbol, das größer ist als der Mann. Ein Fanal für den Umbau unseres Staates, gespeist aus der Phantasie und Schwarmintelligenz seiner Bürger. Mehr Verantwortung für alle in den Städten, in den Betrieben und mehr Volksentscheide – dort ist vorn.“ (SPON)

Eine Plattform für das „große Gespräch“: die Staatsbürger-Community

Wie aber ließe sich mehr Bürgerbeteiligung und Mitbestimmung konkret organisieren? Volksentscheide alleine können es definitiv nicht sein, es braucht neue „Organe der politischen Willensbildung“, also andere, nicht schon von den Parteien komplett dominierte Strukturen, an die man als Staatsbürger andocken kann, will man sich mit den eigenen Erfahrungen oder auch der eigenen Expertise an bestimmten Themen beteiligen. Es braucht die Etablierung des „großen Gesprächs“ über die öffentlichen Angelegenheiten (res publica) – also zunächst einmal eine Plattform jenseits privater oder partei-dominierter Trägerschaft, auf der mitwirkungswillige Bürger im eigenen Namen (!) über alle Themen der Politik sprechen können.

Allein die Existenz einer solchen Plattform (bzw. mehrerer, bezogen auf Gemeinde, Länder- und Bundespolitik) hätte bereits Wirkung, je nachdem, wie sie ausgestaltet und genutzt würde. Mittels der technischen und algorithmischen Verfahren, die in lange etablierten E-Communities bekannt sind, könnte man dort Meinungstrends sichtbar machen, ebenso wie Mitglieder, die sich durch besondere Expertise und großes Engagement auszeichnen. Auf allen Kommunikationsebenen, wo heute Politik gemacht wird, gäbe es eine neue Quelle, die ins Kalkül einbezogen werden könnte, alsbald auch einbezogen werden müsste: Neben der Demoskopie, der Beschlusslage in den Parteien, der Meinung organisierter Interessengruppen und etablierter Experten gäbe es den aktuellen Willen der am Thema interessierten Staatsbürger. Jederzeit ablesbar auf der jeweiligen Plattform.

Die neue Qualität: Zur eigenen Meinung stehen

Die Diskussionen und Meinungsbildungsprozesse auf einer solchen Plattform hätten eine andere Qualität als die heute üblichen, hier und dort mitzulesenden Polit-Diskussionen. Denn es wären ausgewiesene, unter eigenem Namen sprechende Bürger – womit gleichermaßen dem „Troll-Wesen“ als auch der Möglichkeit organisierter Einflussnahme enge Grenzen gesetzt würden. Denn als Staatsbürgerin habe ich nur EINE Meinung als meine Meinung zu vertreten. Und mit der will ich mich wohl allermeist weder zum Deppen machen, noch kann ich diese Meinung heute an diesen, morgen an jenen Auftraggeber, Chef oder Kunden verkaufen. (Jedenfalls nicht ohne gleichzeitigen Reputationsverlust, der sich schon bald in den Bewertungen meiner Diskussionsbeiträge nieder schlagen würde).

Eine formelle Petition hat heute zur Folge, dass sich der Petitionsausschuss mit ihr befassen muss. Strukturell bzw. machtpolitisch ist das fast ein Nichts, doch haben wir erfahren, dass die reale Wirkung weit größer sein kann. Eine gut ausgebaute öffentliche „Bürger-Infrastruktur“ hätte jede Chance, den vier Gewalten im Staat eine fünfte hinzuzufügen: auch die Presse hat schließlich keine formale Macht, wohl aber immensen Einfluss.

Ergänzung, nicht Ersetzung

Wie die Inhalte und Meinungsbilder einer Parteien-unabhängigen Bürger-Com auf die vorhandenen „Mächte“ (die sich ALS PERSONEN ja durchaus beteiligen könnten und sollten) rückwirken, kann man nur durch Ausprobieren heraus finden. Dass die herrschenden Parteien solche Experimente nicht befördern, liegt ebenfalls auf der Hand: könnten sie sie doch nicht kontrollieren wie die Tagesordnungen ihrer Parteitage, aber auch nicht komplett ignorieren.

Dass dieser Staat nicht bleiben kann, wie er ist, nämlich alleinige „Beute der Parteien“, zeigt sich in diesen Tagen durch das immense Engagement vieler für einen Bundespräsidentschafts-Kandidaten, der als „überparteilich“ wahrgenommen wird. Es bleibt zu hoffen, dass die Unzufriedenheit mit dem Parteienstaat auf Dauer genug Druck entfaltet, auch dem parteilich bindungsunwilligen Individuum Beteiligungsmöglichkeiten im politischen Tagesgeschäft zu eröffnen. Als Ergänzung, nicht als Ersetzung dessen, was sich zwar lange bewährt hat, jetzt aber zunehmend knirscht.

* * *

Besuchenswert: Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft des deutschen Bundestags – sogar mit einem Forum.

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Diskussion

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17 Kommentare zu „Demokratie: Vom Parteienstaat zur Bürger-Community“.

  1. Hallo Claudia,

    bin müde für heute. Es hat gerade noch dazu gereicht, deinen Artikel so halbwegs aufmerksam zu lesen und zu verbuzzen. Und dir jetzt noch kurz dafür zu danken. Ich hoffe, dass sich diese Gedanken endlich in die Breite der Bevölkerung fressen.

    viele Grüße
    Stefan Münz

  2. Hallo Claudia. Ja.

    ;-) – und weiter für mich: es braucht einen anderen Umgang mit der Meinung anderer. Einen, den ich auch in den Netzgemeinde stark vermisse, bei den Piraten von Anfang an.

    Weniger „wir-hier und ihr-da“ sondern mehr zuhören, zugeben, zu gehen etc… Diese Blockbildungsmentalität sitzt auch noch und gerade in der Netzgemeinde unglaublich fest verankert. Nur mal aus Spaß die alten Zensurdebatten ansehen oder Streetview-diskussionen oder mal bei Wikipedia rein schauen.

    Es ist schwer, einfach mal als Politiker zu sagen: „wir hatten in unserer Fraktion eine irre gute Idee und stellen jetzt fest: die der anderen Fraktion ist ja sogar an manchen Punkten noch besser: machen wir also das.“

    Wir hätten hier in NRW beinahe ein tolles Experiment bekommen. Die CDU wäre an der Macht geblieben, hätte aber für jede Entscheidung sich die Mehrheit suchen müssen. Dazu hätten sie jede Idee also auch von den anderen, ja auch gewählten, großen Parteigruppen abklopfen lassen müssen, somit jede Idee „bevölkerungstragbar“ gestalten müssen, und ich dachte mir, etwas Politikergemein freilich: da kommen die ja mal richtig ans Arbeiten.

    Aber sagte nicht genau das die letzte NRW-Wahl? Wir trauen es echt keiner Partei alleine zu: sie sollen mal endlich zusammen arbeiten, und zwar sachorientiert.

    Die Zeit der Paketparteien ist vorbei. Deswegen muß noch nicht die Zeit der Politiker vorbei sein. Sie müssen nur einmal selbst ihre Gesinnungsschranken runterlassen. Für die grobe Richtung dürfen sie dann noch die Parteifahne schwenken und auf eine leichte Mehrheit hoffen.

    Große Koalitionen sollten echt Gesetz werden, so nach dem Motto: die Ministerbank muß nach Stimmenanteil besetzt werden. Gebe aber zu: das ist echt ein naiver Gedanke fürs Jahr 2114 oder so….

  3. danke, sehr schöner blogpost: das ist es, was blogs (gute) besser können als presse. bei weitgehender übereinstimmung bin ich nur über einen punkt unglücklich:

    die idee, dass die entbündelung der politischen großthemen dasselbe ist, wie die auflösung der großen solidaritäts-verbünde (nicht bloß der gewerkschaften)in unabhängige interessensgemeinsachften a la pilotengewerschaft. das ist ein objektiver trend, aber es ist eine horrorvorstellung.

    in wahrheit lebt das ja nur davon, dass wir seit zig jahren das gefühl haben, es gebe einen parteiübergreifenden konsens, die bundesrepublikanische rundumpolitik quasi, und wir könnten es uns auf dieser ungefährdeten basis leisten, uns auf einzelpositionen zu spezialisieren.

    aber diese basis ist selbst am erodieren. wenn es uns nicht gelingt, mit irgendwelchen mitteln andere umfassende plattformen zu erfinden, sozial und gedanklich, statt der tatsächlich untoten parteiplattformen, dann gnade uns gott.

  4. Individuum und Gemeinschaft, der Teil und das Ganze, ein interessantes philosophisches Thema!

    Ein einfaches Beispiel zeigt, wie es funktioniert: Verschiedene Leute befinden sich in einem Raum und beraten über ein einfaches und wenig komplexes Thema, über die Einstellung der Temperatur in diesem Raum. Natürlich hat jedes Individuum da ganz unterschiedliche Bedürfnisse. Der eine hat hohen Blutdruck, regt sich gerade auf oder treibt gerade Sport, der andere hat niedrigen Blutdruck, möchte ruhen oder sitzt still konzentriert vor dem PC, um mit Worten die Welt zu verbessern. Der Raum, in dem sich aber alle befinden müssen (?) oder wollen, kann aber nur eine bestimmte Temperatur haben, über die man sich nun einmal einigen muss.

    Bei 20 Grad ist es für einige gerade richtig angenehm, für fast ebenso viele aber noch zu kalt und für einen schon zu warm. Was tun? Man erhöht leicht die Temperatur, um es auch denen, die frieren angenehm zu machen. Daß das dem einen, der jetzt schon schwitzt, nicht so gefällt, nimmt man in Kauf, um die Mehrheit zu befriedigen. Dazu kommt, das diesen einen, wegen seines Körpergeruchs sowieso niemand leiden kann. ;) Bei 23 Grad ist es dann für die allermeisten angenehm, für zwei oder drei noch immer zu kalt und die Zahl derer, die es doch gerne kühler hätten, ist ebenfalls auf drei gestiegen. Unter denen, die jetzt mit der Temperatur zufrieden sind, befinden sich ein Profiboxer und ein Rechtsanwalt sowie deren Sexualpartner, Blutsverwandte und Freunde. Die Minderheiten geben ihren Protest auf und fügen sich murrend.

    Ich denke, in einem demokratischen Prozess, mit freien und geheimen Abstimmungen, wäre das Ergebnis gleich oder ähnlich gewesen. Ob sich dabei die Parteien „Zu kalt“, „Zu warm“ oder „Gerade richtig“ gebildet hätten oder ob jeder gleichberechtigte Bürger sein eigenes Votum abgegeben hätte, wäre vermutlich egal. Es wäre auch relativ egal, auf welche Temperatur man sich „geeinigt“ hätte, denn in jedem Fall gäbe es Leute, die genau damit unzufrieden wären.

    Das Unbehagen, welches manche Individuen in ihrer „Community“ verspüren, beruht vielleicht nicht darauf, WIE Gemeinschaftsentscheidungen getroffen werden sondern darauf, daß Gemeinschaftsentscheidungen eben NICHT Individualentscheidungen sind. Wie dem abzuhelfen wäre? Allzeit beliebig viele Räume unterschiedlicher Temperatur vorhalten und volle Bewegungsfreiheit zwischen den Räumen. :)

  5. Warum bekomme ich Reputationsverlust, wenn ich im Verlaufe eines Diskurses mit Anderen meine Meinung ändern möchte?
    Ich finde es gerade sinnvoll eigene Meinungen im Diskurs zu überprüfen können und Argumenten Anderer mehr Gewicht einräumen zu dürfen, wenn sie mich überzeugen.
    Die Gesichter, wegen befürchteten Gesichtsverlustes, stur an ihrer herkömmlichen Spielweise vorgefertigter und unveränderlicher Meinung Verharrender sind nicht immer motivierend und Kreativität versprühend für das Finden
    neuer Lösungen.
    Gedanken, die irrwegig erscheinen, können über Umwege womöglich zu Lösungen führen, wenn sie unbeschwert von Gefahren für die eigene Reputation geäußert und nach Entwicklung des Diskurses auch geändert werden dürfen.
    Das war meine einzige, nicht böse gemeinte, Kritik an diesem Artikel, der neue Möglichkeiten im demokratischen Prozess der Willensbildung aufzeigt.
    Gerade Meinungsflexibiltät fände ich im Entscheidungsfindungsprozess förderlich, solange sie NICHT käuflich wird.

  6. @Uwe: danke für das stimmige und wunderbar durchformulierte Beispiel zu den Basics „politischer Willensbildung“.

    Es eignet sich auch gleich sehr gut, um klar zu machen, warum es in einer nationalstaatlich organisierten „Community“ eben NICHT mehr so zugehen kann: da gibt es nicht EIN, sondern jede Menge zu entscheidende Themen. Und jeder Bürger ist von einem anderen „Themenmix“ betroffen, der sich entlang an der Veränderung der persönlichen Lebensverhältnisse auch noch dauernd ändert.
    “Zu kalt”, “Zu warm” oder “Gerade richtig” ist nur bezogen auf die Temperatur eine Parteienbildung. Es bräuchte unzählige solcher Parteien…. unmöglich! (Jedenfalls NICHT in der Manier heutiger Parteien mit einer „Wahl“ alle 4 Jahre).

    Sich nun aber unter Alles-und-Nichts-sagenden Totembegriffen wie liberal, sozial, konservativ, christlich, grün, rot, gelb zu versammeln, um dann als fester Verband für ein „Programm“ als Pressure-Group zu agieren, ist heute für viele nicht mehr passend, bzw. lässt eine wachsende Anzahl Leute im Regen stehen, die nicht „Partei machen“, sondern nur „bitte ein wenig kühler“ durchsetzen wollen.

    Für das spezielle „bitte ein wenig kühler“ findet der Schwitzende nämlich mit hoher Wahrscheinlichkeit heute in allen größeren Parteien Menschen, die das auch wollen. Ob das Thema dort aber auch „nach oben durchdringt“, ja überhaupt mal von irgendwem richtig angeschaut und durchdiskutiert wird, ist äußerst fraglich! (Und selbst WENN, dann dauert es EWIG, bis „die Partei“ tatsächlich aktiv wird – wobei „aktiv werden“ oft auch nur bedeutet, eine Erklärung abzugeben oder einen neuen schönen Absatz ins nächste Programm zu schreiben.)

    Morgen mehr dazu – dein Beispiel ist echt anregend! :-)

  7. @Indy: gebe dir 100%ig recht, es ist in keiner Weise ehrenrührig, seine Meinung zu ändern, wenn es gute Gründe dafür gibt.

    Ich dachte eher an mögliche Einflussnahmen durch Lobbys, Verbände, Unternehmen, die ja wie man immer wieder hört, durchaus mal Leute bezahlen, um an dieser oder jener Stelle Einfluss zu nehmen, „getarnt“ als ganz normale Leser/User.

    In DER offiziellen Bürger.com zum Thema Gesundheitspolitik (z.B. angesiedelt auf der Website des Gesundheitsministeriums) in die ich nur als Claudia Klinger mit dem eigenen E-Perso einloggen kann, ist solches „gekaufte Posten“ nicht zu erwarten. Denn mit jedem Posting im fremden Interesse würde ich mich selbst der Möglichkeit entledigen, morgen mein wahres Interesse in dieser Sache zu vertreten.

    Es wäre z.B. nicht drin, heute (im Auftrag…) pro Big-Pharma zu argumentieren und sich morgen der Gruppe „Positivliste-jetzt“ anzuschließen und ganz das Gegenteil zu vertreten. Jedenfalls nicht, ohne es erklären zu müssen ODER eben unglaubwürdig zu werden.

    So hatte ich das gemeint.

  8. @Claudia:
    Danke für Deine Erklärung. Ich hatte es falsch verstanden.
    Ich kann jetzt gut nachvollziehen, welche möglichen Gefahren Du aufzeigen wolltest!
    Lg Indy

  9. @uwe:
    wenn ich dein Beispiel reflektiere, kann ich Dir zustimmen, dass der gefundene „Konsens“ in beiden Fällen vermutlich ähnlich gelautet hätte.
    Deinen Ausblick mit den zusätzlichen „Freiräumen“ und Bewegungsmöglichkeiten finde ich hoffnungsvoll für die Minderheiten, die zumindest vorübergehende Ausweichmöglichkeiten hätten und die Temperatur im Raum dann wohl besser vertragen könnten, wenn zeitweise unabdingbare Anwesenheit aller erforderlich wäre.
    Den Vorteil der in Cclaudia’s Artikel aufgezeigten Möglichkeiten sähe ich darin, dass im Willenbildungs- und Entscheidungsprozess mehr Menschen „mitgenommen“ würden, sie
    die schwierigen Problemlagen vielleicht besser nachvollziehen könnten und durch die Möglichkeit des Sich-Engagierens abseits einer Parteilinie ihre Ohnmachtsgefühle sich auflösen könnten zugunsten von mehr gefühlter eigener Vverantwortlichkeit.
    Die Demokratie lebt sicher davon, dass die Menschen
    „mitkommen“ können und sich einbringen können und zwar nicht nur als Politprofis. Sicher wird es nicht alle erreichen, aber alleine das Gefühl besserer Beteiligungsmöglichkeiten, und sei es nur in Teilbereichen, die besonders am Herzen liegen, kann das diffuse Gefühl
    von Ohnmacht beseitigen.

  10. Wie schön respektvoll hier miteinander umgegangen wird! Ich habe gleich einmal den Feed abonniert, auch wenn ich von Demokratie genausoviel halte wie Ihr Begründer, der Grieche Perikles. Der hatte damals, weil er sah, daß die Aristrokraten keine vernünftige Regierung hinbekamen, einfach Leute aus der Gosse aufgesammelt und regieren lassen. Da ging es noch mehr schief als vorher, was, nach weiteren Experimenten, Perikles dazu veranlasste, den Satz zu prägen, daß nicht die Regierungsform entscheidend sei, sondern einzig, ob der Mensch vor dem Staat komme oder der Staat vor dem Menschen. Dem kann ich mich nur anschließen.
    Noch ein Wort zur Herkunft des Begriffes Demokratie: Der stammt keinesfalls von Demos, dem Volk, sonst hieße es nämlich DemoSkratie, sondern vielmehr stammt er von dem Wort Demen ab, was … Gosse bedeutet. Erhellend, oder?

  11. @Infoliner: ja, ich freue mich auch immer wieder darüber, dass man hier nicht herumtrollt, sondern in einiger Gelassenheit und mit Respekt vor der Meinung des Anderen Argumente und Empfindungen teilt!

    Deiner Meinung möchte ich widersprechen: man kann ja viel gegen unsere gewählten Politiker einwenden, nicht aber, dass die „aus der Gosse“ stammen, bloß weil sie halbwegs demokratisch gewählt sind („halbwegs“, weil die Macht der Parteien, per Liste sichere Plätze zu vergeben, ja durchaus umstritten ist).

    Ich sehe die Demokratie (mit Minderheitenschutz) als die beste aller möglichen Regierungen an, da niemand behaupten kann, die Wahrheit gepachtet zu haben und „das Richtige“ ein relativer Begriff ist – je nachdem, wer man ist: ein Anleger mit Millionen-Investment, ein Hartz4-Bezieher, ein Besserverdiener, ein Rentner, ein Facharbeiter oder eine prekäre Aushilfskraft. (Oder Veganer, Fleischesser, Vollwertköstler, Raucher, Nichtraucher, Autofahrer… usw.) Schon gar nicht hat eine wie immer geartete Aristokratie die richtige Sicht der Dinge qua Geburt gepachtet – ein heute auch kaum mehr vertretener Standpunkt.

    „Der Staat“ war zu Perikles Zeiten etwas anderes als heute: heute wollen wir einen funktionalen Dienstleistungsstaat ohne „höhere Weihen“, der eine sinnvolle Umverteilung organisiert, soziale Risiken absichert, Bildung für alle organisiert, und den Rechtsrahmen fürs Geschäftsleben setzt. Es ist normal, dass dabei fortwährend viele Interessengruppen um ihren Einfluss und ihre Zuwendungen streiten – und um die Macht, ihre Wünsche umzusetzen.

    Zum Wort: Demokratie (von demos = Volk) heißt „Volksherrschaft“. Dass das VOLK griechischen Herrschern schon sprachlich synonym für „Gossenpöbel“ stand, erhellt allenfalls die damaligen Verhältnisse, nicht aber, inwieweit eine Beteiligung der Bürger an den politischen Entscheidungen wünschbar ist oder nicht.

  12. Ein komplexes Thema, zu dem ich mir unabhängig von diesem Artikel schon seit langem Gedanken mache. Eine Kernthese aus meinem Brainstorming ist die, dass es eine Partei braucht, die nichts anderes als ein Stimmensammelbecken ist, um den Demokratieprozess in neue Bahnen zu lenken. Gemeint ist, diese Partei ist NIE Teil einer Regierung sondern sorgt mit dem immer „freigegebenen“ Abstimmungsverhalten ihrer gewählten Vertreter dafür, dass Ideen, Projekte und Gesetze – Aufhebung von Subventionen – die parlamentarische Unterstützung finden, die man als Volksvertreter mit Annahme der Wahl als Auftrag des jeweiligen individuellen und spezifischen Wahlkreises entgegengenommen hat.

    Das würde Bewegung in das Verhalten der Parteien bringen, die heute nie ein gutes Wort für einen Vorschlag der Anderen finden, selbst wenn die Regierung 1 zu 1 einen Vorschlag der Opposition aufnimmt und umsetzen will.

    Bei den Parteien geht es immer nur um Macht und Posten, weshalb immer alles von JEDER PARTEI zersaust und niedergemacht wird, was der eigenen Selbstdarstellung nicht hilft.

    Nehmen wir die Proteststimmen, welche die FDP an der letzten Bundeswahl gewonnen hat, die haben zu einem Desaster geführt. Die FDP betrügt sich mit der Annahme selber, sie hätte diesen tollen Zuwachs mit ihren Themen erarbeitet! Und die Wähler, die keine Merkel mit Mehrheit wollten, haben sicher nicht damit gerechnet, dass Westerwelle und FDP den Karren fast an die Wand fahren.

    Die SPD hat Wähler an die Linke verloren, auch aus Protest, aber doch nicht in der Absicht, dass Linke Diktatur und Planwirtschaft wieder Einzug in Deutschland halten sollen.

    Die Bedeutung der CSU gehört auf das reduziert, was sie ist. Eine bedeutende Lokalpartei.

    Wenn die Proteststimmen in einer Partei landen plus die Nichtwähler motiviert werden, dass ihre Stimme Gewicht hat und sei es nur in der Summe der Wähler, die den klassischen Parteien die Rote Karte zeigen, dann zwingt man die etablierten Parteien zu sorgfältigeren Wahlversprechen und zu mehr Ehrlichkeit. Seine Proteststimme einer andern Partei zu „leihen“ oder Wahlenthaltung zu üben, verzerrt das entstehende Spiegelbild des vermuteten Volkswillens.

    Eine „Freie Wählerstimmen-Partei“ könnte selektiv für die Abstimmungsannahme von Gesetzen etc sorgen, unabhängig von welcher Partei der Anstoss kommt. Dies würde die Parteien zu mehr ZUSAMMENARBEIT MOTIVIEREN/ZWINGEN.

    Der heutige Anspruch der Parteien das Volk zu repräsentieren ist eine permanenter Ablöscher. Zum einen weil die Nichtwähler nicht erfasst sind – was zwar deren Problem, jedoch wächst dieser Frustanteil – und zum Anderen Belügen und Betrügen die Volksvertreter die Wähler mit dem, was sie vor der Wahl versprechen und mit dem was sie nach der Wahl machen.

    Ich verstehe nicht, warum Banker zum Feindbild der Gesellschaft geworden sind. Die Politiker sind die viel grösseren permanenten Geldvernichter als die Banker. Die politischen Strukturen und der Fakt, dass Moral und Ethik für Politiker – auch unter Zwang – FAST IMMER einen niedrigeren Stellenwert haben, als Parteigehorsam und Wiederwahltrieb, sind die Erklärung dafür.

    Im NRW-Wahlkampf kam Ministerpräsident Rüttgers mit der Idee, dass Anlageberater eine persönliche Haftung – also mit Privatvermögen – für ihre Beratungsleistung übernehmen müssten. Eine Idee über die man Nachdenken kann, wenn denn die Gültigkeit auf alle Berufe ausgedehnt wird. Insbesondere denke ich dabei an Politiker. Ein erster Schritt in die richtige Richtung wäre dabei, die Einfrierung der Diäten bis fünf Jahre nach Beendigung des Wahlmandats, damit die Wahlkreiswähler in einer Schlussabstimmung festlegen können, ob überhaupt und wenn ja wie viel, von den aufgelaufenen Diäten als verdienter Lohn ausbezahlt wird,

  13. @Relax-Senf: eine Partei, die nicht an die Regierung will, wäre (soviel ich mal gelesen habe) nicht verfassungskonform. Und vermutlich auch nicht reizvoll für viele Wähler, denn man will ja schon wissen, wen man wählt und für was. Für ein bloßes „freies Abstimmen“ nicht näher definierter Abgeordneter würde ich meine Stimme jedenfalls nicht einer neuen Partei geben.
    Ich glaube ganz allgemein nicht an Veränderung über neue Parteien, denn (wie du ja auch siehst)sind es die Parteistrukturen selbst, die zur Enthaltung und Verdrossenheit führen. Die Parteien müssten intern demokratischer werden – und sie müssen durch Bürgervoten ergänzt werden. Zum einen durch mehr Volksentscheide, zum zweiten durch Strukturen, wie ich sie im Artikel beschrieb, denen man ja im Lauf der Erfahrung mehr Mitbestimmung einräumen kann (etwa analog Petition, nur besser).

  14. @ Claudia: „nicht verfassungskonform.“ Ein interessanter Hinweis, den ich nicht kenne, aber durchaus für möglich halte. Schliessen wir diesen Aspekt für diese Diskussion mal aus, da es sich ja hier nur um eine gesellschaftspolitische Option handelt.

    Unbestritten ist wohl, dass die Zeit, wo zwei Volksparteien locker mehr als 80 Prozent der Wahlstimmen auf sich vereinigt – was NICHT 80 Prozent der Wahlberechtigten bedeutet – vorbei ist. Unumkehrbar. Jetzt gibt es ja die Fünf Prozent Regel, um die Verfassungshürde als neue Partei zu schaffen und dies ist gut so. Es gibt nämlich nicht zu wenig gute Ideen und Initiativen unter den Volksvertretern sondern die Machtverhältnisse (Diktatur…) in den Parteien, die sich immer erst am Machterhalt und dem Sichern der üppig gefüllten Geldtöpfe für Volksvertreter orientiert und nicht an parteiübergreifenden Lösungen für die Bürger. Ich habe Renate Künast, Jürgen Trittin oder Andrea Nahles noch gar nie erlebt, dass die nur ein positives Wort für eine Idee der Regierung übrig hatten. Von der Linken rede ich gar nicht erst. Umgekehrt ist es genauso. CDU/CSU und FDP zerreissen jeden Impuls der Opposition.

    Bei meiner Idee geht es darum die Stimmkraft der Bürger über die ganze Legislaturperiode einzusetzen und nicht mit der einmaligen Abgabe am Wahltag den etablierten Parteien einen Blankoscheck auszustellen. Weil es für die „Freien Wählerstimmen-Union“ – Partei entfällt da es keine „geschlossene“ Partei ist – kein „zwingendes“ Parteiprogramm gibt und als Folge davon auch die parteiinternen politischen und disziplinarischen Führungsstrukturen entfallen, braucht es nur eine Struktur für Administration und Verwaltung. Im Alltag wird es zwar zur Suche nach einem gemeinsamen Nenner kommen, aber kein Parlamentarier muss nach Vorgaben der Partei stimmen sondern tut dies nach eigenem Gutdünken bzw. in Übereinstimmung mit seinen Wahlkampfversprechen.

    Daher ist es möglich, sich von Anfang an im Wahlkampf als linker, rechter, liberaler, grüner Politiker etc. zu präsentieren und wählen zu lassen. Für den Wähler ist somit von Anfang an das zu erwartende Abstimmungsverhalten klar, welches in der Regel die Partei begünstigen wird, deren grosse Politlinie befürwortet wird. Doch die Zustimmung gibt es nicht einfach, weil es in Hinterzimmern so beschlossen worden ist sondern „nur“ für überzeugende Argumente. Diese Beispiel zeigt klar auf, dass diese Partei praktisch nie mit einer Stimme sprechen wird, aber man sich im Interesse der Sache zu Zweckbündnissen finden kann, die sich nicht an der Parteienlandschaft und striktem pro und contra Verhalten gemäss Regierungs- und Oppositions-Status orientiert.

    Die Freienvertreter üben ihren Hauptberuf weiterhin aktiv aus, weil es z.B. eine Mandatszeitbeschränkung von höchstens zwei Legislaturperioden geben muss und weil die physische Präsenz im Parlament viel weniger ausgeprägt sein muss, wie bei den Bürgervertretern der anderen Parteien. Die etablierten Parteien „müssen“ mit ihrer Arbeit und ihren Vorschlägen um die „erreichbaren“ Stimmen der Freien werben.

    Die Volksvertretungsgewalt der Freien soll bewirken, dass die Etablierten nach der Wahl nicht schalten und walten können wie sie wollen sondern die Vertretungsstärke – durch Motivierung der Nichtwähler zur Stimmabgabe – der Freien nicht ignoriert werden kann.

    Die Wechselwähler strafen heute mir ihrem Tun die bevorzugte Partei ab, was bei der betroffenen Partei realisiert wird, aber letztlich zu einem nicht besseren Blankoscheck bei der Partei führt, die von den Protest-/Wechsel-Wählern profitieren.

    Mit allen Stimmen der Protest-/Wechsel-Wähler in einem Sammelbecken, entsteht dagegen ein messbares und faktisches Signal, das der „abgestraften“ und den stagnierenden Parteien die gelbe Karte zeigt, dass dieser Teil des Volkes definitiv nicht mit der Arbeit der Polit-Profis einverstanden ist.

    Die Demographie entfaltet durch mehr Alte und weniger Arbeitnehmer/Steuerzahler – verbunden mit einer statistisch erkennbaren Zunahme der Lebensjahre nach der Pensionierung – eine Auswirkung auf die Sozialsysteme – Renten, Krankenkassenprämien etc. – die nicht von einer Regierung gelöst werden können. Gleichgültig welche Parteien abgewählt und welche in die Regierungsbildung gewählt werden.

    Die Probleme von Gesellschaft und Politik verlangen nach einer neuen Lösungsethik, die mit dem bestehenden System – die Mandatsträger leben wie die Maden im Speck – nicht vorangetrieben wird. Deshalb braucht es neue Wege, egal wie unausgegoren dieser Vorschlag auf den ersten Blick aussehen mag. Es geht mir darum einen Denkprozess anzustossen und nicht darum mit wenigen Zeilen ein Lösungskonzept zu präsentieren.

  15. Danke für die Vertiefung, jetzt verstehe ich deine Intention besser! Du denkst diese „Sammelpartei“ ähnlich wie Direktmandate Parteiloser, die es ja auch in der jetzigen Struktur geben könnte – faktisch aber nicht gibt, da diese in aller Regel nicht gegen die Direktkandidaten aus Parteien gewinnen. Ich vermute, das wäre auch mit der „freien Partei“ nicht viel anders, denn du schreibst ja:

    „Daher ist es möglich, sich von Anfang an im Wahlkampf als linker, rechter, liberaler, grüner Politiker etc. zu präsentieren und wählen zu lassen.“

    Es gäbe also einen Wahlkampf von Einzelpersonen unterschiedlicher politischer Ausrichtung – aber wie sollen die gewählt werden? Das macht ja nur über Direktmandate Sinn, denn sonst hättest du z.B. in einer Großstadt mehrere unterschiedliche Kandidaten (links, rechts, grün..), die durch das Kreuzchen bei der „freien Partei“ allesamt (!) gewählt werden müssten.

    Hast du die Entwicklung der Piratenpartei verfolgt? Die hatte ja ursprünglich den Plan, nur mit fester Meinung bezüglich der Netzthemen anzutreten – und ansonsten dann immer nach Sachlage abzustimmen, gestützt auch durch ein extrem demokratisches internes Diskussionsverfahren, an dem auch Nichtmitglieder teilhaben sollten.

    Die sind öffentlich dafür zerrissen worden! Und nicht allein von den traditionellen Parteien und der Presse, sondern auch ein großer Teil der Sympatisanten mahnte ein Programm an: man wolle nicht die Katze im Sack wählen…

    Nun, es wird noch viele Denkanstöße und Diskussionen geben müssen, bevor sich da wirklich was ändert. Immerhin will die SPD aktuell wenigstens mehr Volksentscheide – ob das eine nachhaltige Meinung ist, wird sich noch zeigen.

    Ich wehre mich übrigens dagegen, immer alle Politiker als bloß Macht- und Geld-gierige Gestalten zu sehen: wer sich in diesem Land bereichern will, hat doch in der Wirtschaft sehr viel bessere Möglichkeiten. Und ich habe selbst etliche Politiker gekannt, denen es tatsächlich um Inhalte ging. Mandate in den Gemeinden, in Bezirks- und Landesparlamenten sind auch keinesfalls so üppig ausgestattet – mal grad gegoogelt, hier ein Beispiel eines grünen Landtagsabgeordneten in Hessen. Und auch im Bundestag wird man nicht reich: hier mal die Offenlegung einer „gläsernen Abgeordneten“ der SPD.

    Transparenz sollte herrschen bezüglich sämtlicher Zusatzeinkünfte aus anderen Posten!

    Was die Demographie angeht: ich finde es unglaublich rückständig und dumm, dass sich DE so schwer tut, endlich zu einer aktiven Einwanderungspolitik zu kommen: also qualifizierte Einwanderer anzuwerben, denen man auch eine unbeschnittene Zukunft im Land bietet. Ausländische Studenten haben es nicht leicht, wie man hört – und DANACH müssen sie zurück, nachdem man ihre Ausbildung bezahlt hat! Absurd!

  16. Danke Claudia, deine Hinweise bringen mich selber weiter beim Denkspiel. Habe es vorher nicht erkannt, aber tatsächlich wäre es eine Personenwahl, die nur via Direktmandat ans Ziel führt. Eine hohe Hürde. Trotzdem könnte es in Grossstädten durchaus zu mehr als einem Mandat kommen, denn viele Bürger sind schlicht frustriert über das Parteien-Verhalten vor und nach der Wahl!

    Im Unterschied zur Piratenpartei, fehlt zwar ebenfalls ein gemeinsames Programm, aber jeder Kandidat vertritt eine persönliche klare Position zu den grossen Themenbereichen, die während der Legislaturperiode zur Abstimmung kommen. Dabei kann der „Freie Kandidat“ z. B. gegen Atomkraftwerke sein, für eine Erhöhung des Rentenalters und gegen Steuersenkungen. Das wäre dann 1 x pro Rot/Grün, 1 x pro Schwarz/Gelb und 1 x contra Gelb/Schwarz. Ein Abgeordneter einer etablierten Partei, kann – selbst wenn er/sie will – so nicht abstimmen.

    Das mit mehr Volksentscheiden ist an sich eine gute Idee, aber ich glaube nicht dass dieses „Zangenwerkzeug“ eingeführt wird. Selbst die SPD, die gegenwärtig dafür ist, wird noch genau prüfen – mit rückblickender Analyse – wie scharf die Volksinitiative auch gegen die eigenen Interessen zum Zug gekommen wäre. Ausserdem denke ich, dass auch EU-Recht die Sache weitaus mehr einengt,im vergleichsweise ziemlich unbeschränkten Spielraum der direkten Demokratie in der Schweiz.

    Meine pauschale Kritik an Politikern ist unfair und entspricht nicht meinem üblichen Stil. Recht hast du auch, dass auf Gemeinde- und Kommunal-Ebene sogar Fron- / ehrenamtliche Arbeit eine grosse Rolle spielt. Trotzdem, die MdB Arbeit wird sehr gut bezahlt, was ich auch i. O. finde. Es ist auch Okay, dass jemand der seine Stelle aufgibt um eine Wahl anzunehmen, durch eine gewisse Risikoabsicherung gut gedeckt/versichert ist, damit er bei Nichtwiederwahl nach 4 Jahren NICHT in wirtschaftliche Not gerät. Es ist aber völlig daneben, wenn die kurzfristig vertretbare überproportionale Einkommensabsicherung, sich durch den Zeitfaktor der Parlamentszugehörigkeit sogar progressiv steigert und so zu Rentenansprüchen führt, die sich durchaus mit den so laut gescholtenen Bankmanagern auf höherer Kaderebene vergleichen lassen.

    Während ich nicht erneut die ganze Politikerkaste verunglimpfen möchte, muss ich trotzdem festhalten, dass ich keinen anderen Berufsstand kenne, wo einfach eine grosse Klappe reicht um als MdB einen Verdienst zu erreichen, welche einige Abgeordnete in der freien Wirtschaft bei Weitem nicht erreichen könnten. Es fehlt mir auch eine Messgrösse für erzielte Leistung. Einfach Versprechunge zu machen, genügt nicht.

    Es gibt auch Politgrössen, die soweit ich deren Biographie schon mal mitbekommen habe, noch gar nie Arbeit im richtigen Leben geleistet haben. Solche Leute sind mir ein Graus und Dorn im Auge, denn die sind für mich wirklich nur Dampfluftbläser. Das System gehört geändert, die Demokratie revitalisiert.

    Mit der teueren Ausbildung der ausländischen Studenten hast du recht. Die Strukturen in Deutschland sind verkrustet und der Preis fürs Aufbrechen wird immer höher, je länger Politiker und – in diesem Fall – auch die Gewerkschaften jeden Schritt blockieren, welcher zu notwendigen Struktur Veränderungen führen würde.

  17. […] Demokratie: Vom Parteienstaat zur Bürger-Community “Dass es die Strukturen selber sind, die nicht mehr befriedigen, kann man an der Entwicklung […]