Parteien sind in unserer Staatsform „Organe der politischen Willensbildung“, so will es das Grundgesetz. Dabei spricht der Wortlaut des Artikel 21 von einer „Mitwirkung“ an dieser Willensbildung, doch geht die Praxis, die wir seit Jahrzehnten erleben, weit über bloßes Mitwirken hinaus. Anders als Bürgerinitiativen, Lobbys und die Presse sind es schließlich die Parteien, die bestimmen, was im Parlament passiert, wer regiert und was dann tatsächlich umgesetzt wird. Und sie sind nicht nur in den Parlamenten präsent, sondern auch in öffentlich-rechtlichen Anstalten, in den Interessengruppen und Verbänden, in kommunalen Eigenbetrieben und in der Verwaltung.
Dies alles war lange Zeit nicht wirklich umstritten: zwar gab es immer die Kritik an Postengeschacher, Parteienkungelei und Parteibuch-Karrieren, doch leuchtete andrerseits ein, dass das System im Grunde „alternativlos“ war. Zwar konnte man sich Volksabstimmungen zu einzelnen, besonders wichtigen Fragen vorstellen, doch wären auch diese (hätten die Parteien sie befürwortet) immer die große, aufwändig durchzuführende Ausnahme gewesen – nicht wirklich tauglich fürs tägliche Politikgeschäft in all seinen komplexen Verästelungen.
Wer sich mit der eigenen Meinung im Spektrum real existierender Parteien nicht wieder fand, war also darauf verwiesen, eine neue zu gründen. Wie man spätestend bei Wahlen bemerkt, passiert das auch immer wieder, doch haben im eingefahrenen System nur wenige dieser Neugründungen wirklich eine Chance – wie einst DIE GRÜNEN und kürzlich die Piratenpartei. Und man ist geneigt zu sagen: Gut so! Ein Parlament aus unzähligen Splitterparteien: wer glaubt denn im Ernst, dass das ein Fortschritt wäre? (Hier wird dann gerne auf „Weimar“ verwiesen – und nicht zu Unrecht).
Die Unzufriedenheit wächst: Wer will denn noch „Meinung im Gesamtpaket“ ?
Weder sporadische Volksentscheide noch viele bunte Parteien sind das, was man sich als mündiger, interessierter und mitwirkungswilliger Bürger heute als zu etablierende Mitgestaltungsmöglichkeit wünscht. Man will MEHR: genau das, was auch auf vielen anderen Ebenen Gestalt angenommen hat, nämlich die Befreiung vom Zwang, die Dinge „im Bündel“ zu akzeptieren. Wenn ich mich z.B. für den Umbau des Gesundheitssystems interessiere, will ich deshalb noch lange nicht Parteimitglied werden und sämtliche Beschlusslagen der Partei zu vielen anderen Themen „mittragen“. (Schon gar nicht will ich einer entlang am physischen Ort organisierten Parteigliederung beitreten und mich erstmal ein paar Jahre mit Kommunalpolitik befassen). Auch haben heute viele kein Interesse mehr am spezifischen „Wir-Gefühl“ der Parteien. Es wirkt im Gegenteil geradezu abstoßend, dass Sachdiskussionen fortwährend von parteipolitischen Machtkalkülen überwölbt werden – bis dahin, dass man als Funktionsträger gegen die eigene Meinung stimmen muss, was ja nicht nur bei der Bundespräsidentenwahl der Fall ist, sondern häufige Realität auf allen Ebenen.
Wenn Wirtschaft und Gesellschaft sich ändern, muss auch das politische System mitziehen: Wir kaufen nicht mehr die ganze Platte oder CD, sondern das einzelne Musikstück. Wir lesen nicht die ganze Zeitung, sondern den einen oder anderen Artikel. Bestimmte Berufsgruppen gründen wieder kleine, nur sie betreffende Gewerkschaften (Piloten, Eisenbahner), da sie ihre Interessen so besser vertreten können als im „großen Eimer“ von Ver.di. Und seit Jahren laufen den beiden „großen“ Parteien die Mitglieder weg, ohne dass diese der Schrumpfung etwas Substanzielles entgegen setzen, denn sie können ja ihre eigene Entmachtung nicht wollen. Da aber ohne sie letztlich „nichts zu machen“ ist, wächst die Politikverdrossenheit und die Partei der Nichtwähler. Die Demokratie nimmt Schaden, denn sie wird immer weniger als real existierend erlebt: „Die da oben machen ja doch, was sie wollen“ ist die vorherrschende Meinung – und viele kommen für sich zum Schluss, es sei egal, was man wähle, da sich ja doch immer ganz bestimmte Interessen durchsetzen, egal, wer grade regiert.
Piraten-Erfahrungen: Zur Parteiwerdung gezwungen
Dass es die Strukturen selber sind, die nicht mehr befriedigen, kann man an der Entwicklung der Piratenpartei gut sehen, bzw. es wurde von allen erlebt, die dort mal eben alles anders machen wollten. Der erste Vorwurf, der von außen kam, war das angeblich fehlende Gesamtprogramm: ein paar Punkte zur Netzpolitik reichen nicht aus, um als Partei zu reüssieren. Ja, das stimmt – aber das ist NICHT GUT SO und zeigt die strukturellen Defizite des Parteienstaats, der so nicht mehr dem Willen der Bürger entspricht. Warum soll ich mich mit zigtausend Netz-Bewegten auf eine Meinung zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr oder auch nur zum Bildungssystem einigen müssen, bloß um in den Punkten, für die ich mich engagiere, wirkungsmächtiger zu werden?
Die Piraten wurden faktisch gezwungen, sich in die althergebrachte Struktur zu fügen und sind seitdem im Parteiwerdungsgeschäft versackt. Indem sie tun, was man von einer Partei erwartet, sind sie nicht mehr wirklich „sexy“ für all diejenigen, die auf ein Aufbrechen der alten Strukturen und mehr Bürgerbeteiligung auf allen Ebenen setzen. Da hilft es nur wenig, dass innerparteilich in dieser Hinsicht noch Welten zwischen den Piraten und traditionellen Volksparteien liegen, denn man kann sich ja denken, wie sich das entwickeln würde (entwickeln MÜSSTE!), sollten sich die Piraten tatsächlich im Parteienspektrum etablieren.
Erst andere Strukturen ermöglichen andere Parteien: Megatrend Bürgerbeteiligung
Im jetzigen System haben die Parteien das Sagen – alle anderen können allenfalls „eine Welle machen“, die mit Glück von den jeweils aktiven Parteipolitikern ins Kalkül einbezogen wird. An diesem „Welle machen“ können sich dank Internet mittlerweile immerhin viel mehr Individuen und Gruppen beteiligen, da die „Gatekeeper“ in Gestalt der traditionellen Presse nicht mehr alleine bestimmen, was auf die Agenda kommt. Das alleine kann aber nur ein erster Schritt sein, dem weitere folgen müssen, um dem gesellschaftlichen Wandel zu entsprechen. Der Megatrend heißt Bürgerbeteiligung, so schreibt es auch der derzeitige Vorzeige-Philosoph Richard David Precht der SPIEGEL-Leserschaft ins Stammbuch:
„Der Aufstand der Menschen im Internet und anderswo für „ihren“ Bundespräsidentschaftskandidaten Joachim Gauck spricht eine andere Sprache. Er könnte ein Zeichen sein, selbst und gerade dann, wenn Gauck verlieren sollte. Ein Symbol, das größer ist als der Mann. Ein Fanal für den Umbau unseres Staates, gespeist aus der Phantasie und Schwarmintelligenz seiner Bürger. Mehr Verantwortung für alle in den Städten, in den Betrieben und mehr Volksentscheide – dort ist vorn.“ (SPON)
Eine Plattform für das „große Gespräch“: die Staatsbürger-Community
Wie aber ließe sich mehr Bürgerbeteiligung und Mitbestimmung konkret organisieren? Volksentscheide alleine können es definitiv nicht sein, es braucht neue „Organe der politischen Willensbildung“, also andere, nicht schon von den Parteien komplett dominierte Strukturen, an die man als Staatsbürger andocken kann, will man sich mit den eigenen Erfahrungen oder auch der eigenen Expertise an bestimmten Themen beteiligen. Es braucht die Etablierung des „großen Gesprächs“ über die öffentlichen Angelegenheiten (res publica) – also zunächst einmal eine Plattform jenseits privater oder partei-dominierter Trägerschaft, auf der mitwirkungswillige Bürger im eigenen Namen (!) über alle Themen der Politik sprechen können.
Allein die Existenz einer solchen Plattform (bzw. mehrerer, bezogen auf Gemeinde, Länder- und Bundespolitik) hätte bereits Wirkung, je nachdem, wie sie ausgestaltet und genutzt würde. Mittels der technischen und algorithmischen Verfahren, die in lange etablierten E-Communities bekannt sind, könnte man dort Meinungstrends sichtbar machen, ebenso wie Mitglieder, die sich durch besondere Expertise und großes Engagement auszeichnen. Auf allen Kommunikationsebenen, wo heute Politik gemacht wird, gäbe es eine neue Quelle, die ins Kalkül einbezogen werden könnte, alsbald auch einbezogen werden müsste: Neben der Demoskopie, der Beschlusslage in den Parteien, der Meinung organisierter Interessengruppen und etablierter Experten gäbe es den aktuellen Willen der am Thema interessierten Staatsbürger. Jederzeit ablesbar auf der jeweiligen Plattform.
Die neue Qualität: Zur eigenen Meinung stehen
Die Diskussionen und Meinungsbildungsprozesse auf einer solchen Plattform hätten eine andere Qualität als die heute üblichen, hier und dort mitzulesenden Polit-Diskussionen. Denn es wären ausgewiesene, unter eigenem Namen sprechende Bürger – womit gleichermaßen dem „Troll-Wesen“ als auch der Möglichkeit organisierter Einflussnahme enge Grenzen gesetzt würden. Denn als Staatsbürgerin habe ich nur EINE Meinung als meine Meinung zu vertreten. Und mit der will ich mich wohl allermeist weder zum Deppen machen, noch kann ich diese Meinung heute an diesen, morgen an jenen Auftraggeber, Chef oder Kunden verkaufen. (Jedenfalls nicht ohne gleichzeitigen Reputationsverlust, der sich schon bald in den Bewertungen meiner Diskussionsbeiträge nieder schlagen würde).
Eine formelle Petition hat heute zur Folge, dass sich der Petitionsausschuss mit ihr befassen muss. Strukturell bzw. machtpolitisch ist das fast ein Nichts, doch haben wir erfahren, dass die reale Wirkung weit größer sein kann. Eine gut ausgebaute öffentliche „Bürger-Infrastruktur“ hätte jede Chance, den vier Gewalten im Staat eine fünfte hinzuzufügen: auch die Presse hat schließlich keine formale Macht, wohl aber immensen Einfluss.
Ergänzung, nicht Ersetzung
Wie die Inhalte und Meinungsbilder einer Parteien-unabhängigen Bürger-Com auf die vorhandenen „Mächte“ (die sich ALS PERSONEN ja durchaus beteiligen könnten und sollten) rückwirken, kann man nur durch Ausprobieren heraus finden. Dass die herrschenden Parteien solche Experimente nicht befördern, liegt ebenfalls auf der Hand: könnten sie sie doch nicht kontrollieren wie die Tagesordnungen ihrer Parteitage, aber auch nicht komplett ignorieren.
Dass dieser Staat nicht bleiben kann, wie er ist, nämlich alleinige „Beute der Parteien“, zeigt sich in diesen Tagen durch das immense Engagement vieler für einen Bundespräsidentschafts-Kandidaten, der als „überparteilich“ wahrgenommen wird. Es bleibt zu hoffen, dass die Unzufriedenheit mit dem Parteienstaat auf Dauer genug Druck entfaltet, auch dem parteilich bindungsunwilligen Individuum Beteiligungsmöglichkeiten im politischen Tagesgeschäft zu eröffnen. Als Ergänzung, nicht als Ersetzung dessen, was sich zwar lange bewährt hat, jetzt aber zunehmend knirscht.
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17 Kommentare zu „Demokratie: Vom Parteienstaat zur Bürger-Community“.