1,4 Millionen Menschen und ein Platz, der höchstens 500.000 fasst. Ein Tunnel als einziger Zugang, damit sich niemand anderswo ein Bier kauft. Ergebnis: 19 Tote, fast 350 Verletzte, eine Mega-Katastrophe, die das halbe Ruhrgebiet lahm legt. Gleichwohl musste weiter gefeiert werden bis in die Nacht: eine Stadt mit nicht mal 500.000 Einwohnern kann solche Massen nicht von jetzt auf gleich los werden. „The Art of Love“ wurde zum Desaster, zum Aus für die Loveparade, deren einstiger „Spirit“ sich sowieso lange schon verabschiedet hatte.
Berlin wollte das Massenspektakel nicht mehr, doch das Ruhrgebiet hat die Marke nicht sterben lassen und der „untoten“ Parade neues Leben eingehaucht. Stephan Schröder (Ruhrbarone) schreibt:
Mein Zorn gilt den Bürokraten in Duisburg. Seit dem Chaos in Dortmund war klar, dass die Loveparade im Ruhrgebiet anders ist als die Szenenummer in Berlin. Aber geblendet von Zahlen und schönen Bildern, hielten ausgerechnet die Bürokraten aufgepeitscht von Public Relation Hoffnungen an der Technobespaßung fest. Dabei war schon Berlin die Fratze hinter den Beats für jeden, der es wissen wollte, zu sehen. Drogenfressen, Livepornodrehs im Tiergarten, Hecken knietief in Pisse und Schlamm dazu tonnenweise Müll…..
…Der Zombie der Loveparade ist unter den Händen der Pottbürokraten heute zu dem geworden was er ist. Eine blutige Bestie, bislang nur am Leben gehalten aus Gier nach Geld und Ruhm.
Schröder konzentriert sich auf die (wichtige!) Frage nach den Verantwortlichen, ich frage mich schon lange: Woher kommt dieser Drang zu immer mehr und immer größeren Massenveranstaltungen? Warum sind so viele Menschen wild darauf, sich in ein unübersichtliches Gedränge zu begeben, stundelang in Mengen oder Schlangen auf Zugänge zu warten und Absperrungen ansonsten öffentlicher Orte aus kommerziellen Gründen hinzunehmen?
Die Loveparade ist ja keine singuläre Erscheinung: CSD, Karneval der Kulturen, Fußball-Fanmeilen, Silvester am Brandenburger Tor – man protzt mit Hunderttausenden und freut sich, wenn die Million „geknackt“ wird. Dabei sehe ich im Fernsehen weit mehr von einem solchen Event als jeder, der sich leibhaftig in die Menge wirft.
Und auch im etwas kleineren Maßstab zeigt sich der Drang zum Bad in der Menge: Viele gehen nie ins Museum außer in der „langen Nacht“, wenn sich die Massen durch die Hallen schieben. Die Schlangen vor aktuellen Kunstausstellungen erfordern stundenlange Wartezeiten und sind schon selber Teil der Veranstaltung. Auch wer nicht nur schauen, sondern sich bewegen will, tut das immer lieber gleichzeitig mit zigtausend anderen: Viertel-, Halb-, und Ganz-Marathon-Läufe, Radtouren als Breitensport-Event und Sternfahrt. Für Autos braucht es kein Eventmanagement, die stauen sich Tag für Tag auf den Autobahnen und viele meinen, zur Fahrt in die Ferien gehöre das Stau-Erlebnis ganz klar dazu.
Sehnsucht nach Gemeinschaft
Wir leben ein immer individuelleres Leben, in dem es immer schwieriger wird, auch nur den einen Menschen zu finden, der so richtig passt. Im Beruf dominieren Konkurrenzkamf, Selbstdarstellungszwang und Mobbing, Familien sind „Patchwork“, Eltern kämpfen für das bestmögliche Weiterkommen der eigenen Kinder, der Rest der Welt ist egal. Probleme und Engpässe soll der Staat lösen, man schimpft auf „die da oben“, auf die Reichen, die Banker, die Bürokraten oder wer immer gerade der Buhmann ist. Überforderte Alleinerziehende beklagen ihren sozialen Abstieg, machen aber nur seltenst Anstalten, ihre Problematik durch Zusammentun mit anderen in ähnlicher Situation zu verbessern. Bloß nicht zu verbindlich ran an den Mitmenschen – man könnte sich ja verstricken, sich Ärger einhandeln, ein Stück der anonymen Großstadtfreiheit verlieren.
All das und noch viel mehr hat aber eben auch eine Rückseite, ein zweites Gesicht: je vereinzelter man lebt, desto mehr wächst unbewusst der Wunsch, diese Vereinzelung abzuwerfen und ins Gegenteil einzutauchen. Massen-Events nutzen diese Befindlichkeit und verschaffen das unverbindliche Gemeinschaftserlebnis, nach dem die mutwillig einsame Seele dürstet. Endlich kein ICH mehr, nur noch das große WIR: tanzend und feiernd im Techno-Gewummer, laufend und schwitzend im Volks-Marathon, jubelnd auf der Fan-Meile – und manchmal eben auch sterbend im Tunnel von Duisburg.
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24 Kommentare zu „Zum Loveparade-Desaster: Der Mensch in der Masse“.