Claudia am 14. August 2010 —

Engagement und Alter: eine persönliche Geschichte

Zwischen 15 und 25 fand um mich herum der große Umbruch statt. 1968 war ich 14 und mein Vater sorgte sich, weil ich „Gammler“ (und bald darauf Hippies) spannend fand. Die saßen im Stadtpark, wo Rasen betreten eigentlich verboten war, spielten Gitarre, sahen wild aus und ließen den Joint kreisen. Wir Gymnasium-Girlies gesellten uns manchmal dazu, träumten von einem schulfreien Leben, von Reisen nach Indien und – tja, Freiheit halt, es war gar nicht nötig, so ganz genau zu wissen, was man wollte. Die alte Welt war in Bewegung geraten und wir wollten einfach mit.

Studentenproteste, APO, SDS und all das „Politische“ jener Zeit berührte mich nur am Rande – ich verstand es noch nicht wirklich, fand den Wirbel aber toll, denn es war offensichtlich etwas, worüber die Eltern sich aufregten. Ich machte brav Abi (immerhin mit Hauptfach Kunst!), studierte ein wenig suchend herum, wohnte endlich alleine, bezog BAFÖG und interessierte mich weit mehr fürs andere Geschlecht als für Politik.

Politik rund um die Uhr

Mit 26 änderte sich das drastisch: Der Umzug nach Berlin katapultierte mich in eine neue, spannende Welt, in der es plötzlich um reale Dinge ging. Wohnungsmangel und Kahlschlagsanierung erzeugten massiven Widerstand gegen die „herrschende Politk“. Ein Senat stürzte über Bauskandale, eine neue alternative Partei zog ins Abgeordnetenhaus ein. Binnen einem Jahr wurde ich aktive Hausbesetzerin, war rund um die Uhr engagiert und erlebte zum ersten Mal in meinem Leben, dass meine Fähigkeiten gebraucht wurden und auch etwas bewirken konnten. Zudem war das Leben in „befreiten Räumen“ total spannend – man konnte diverse andere Lebensweisen erproben, das übliche anonyme Stadtleben in abgeschlossenen Mietwohnungen war aufgehoben. Wir konnten machen, was wir wollten und so zum ersten Mal erfahren, was das konkret bedeutet. Meist war es wirklich toll, doch es stellte sich auch heraus, dass nicht alles, was man sich so vorgestellt hatte, tatsächlich „das Gelbe vom Ei“ war.

Während die einen in dieser „Bewegung“ zunehmend die Systemfrage stellten, wollten die anderen, zu denen ich mich gesellte, ganz konkrete Veränderungen im Stadtteil. Ich wurde Multi-Funktionärin mit vielerlei Posten und Aufgaben, war fast rund um die Uhr aktiv, kannte kein Privatleben mehr (was sollte das auch sein?) und trieb es so bis zum Burnout mit 38. Dann war Schluss mit lustig, ich erlebte einen krassen Tiefpunkt, stieg aus allem aus und begann ein neues Leben. Eines, in dem nicht mehr Einfluss, Wirkung und Leistung, Erfolg und Machtspiele wichtig waren, sondern wie ich mich fühlte bei dem, was ich grade tat. Mein innerer Sklaventreiber war im Burnout gestorben – und es war wirklich kein Verlust!!

Kreatives Netzleben und punktuelles Engagement

Das ist nun auch schon wieder 18 Jahre her. Eine glückliche Zeit, in der ich nur punktuell am politischen Geschehen teilnahm: ein bisschen Netzpolitik hier, mal was Karitatives da – schließlich war ich ein gebranntes Kind und wollte mich nie, nie wieder so verstricken, dass ich alles Andere und mich selbst darüber vergessen könnte. Mitte der 90ger erfasste mich die Begeisterung für die plötzlich in Reichweite gerückte Internet-Welt. Ich gab‘ meinen damaligen Job auf und wurde als Webdesignerin selbständig. Das aber eher beiläufig, denn hauptsächlich widmete ich mich immer neuen eigenen Projekten: Netzliteratur, WebArt, Cyberzines, Webtagebücher – und heute eben „Blogs“.

Nun liegen 15 Jahre Internet hinter mir und vielerlei Kräfte versuchen, das Netz für ihre Zwecke umzugestalten. Die Weltprobleme haben sich verschärft, man taumelt von Krise zu Krise. Unsere ganze Art, zu produzieren und zu konsumieren stößt lange schon an Grenzen, ohne dass dies irgendwelche wesentlichen Änderungen anzustoßen scheint. Die große Mehrheit versucht, weiter zu machen wie bisher – und es ist schwer bis unmöglich, fassbare Alternativen im Voraus zu formulieren.

Wohin des Wegs?

Wo stehe ich in Bezug auf all diese Problematiken – bzw. wo stelle ich mich hin? Seit einiger Zeit reicht es mir nicht mehr, bloß ab und zu einen Artikel zu dieser oder jener Sauerei zu verfassen, dazu ein schönes Kommentargespräch zu erleben – und zapp, das nächste Thema bitte! Und schon gar nicht stellt es mich zufrieden, wenn eines meiner Blogs plötzlich bei einem im Grunde marginalen Nebenthema von 2500 Lesern/Tag überrannt wird, die es mal eben als weitere Arena zum Schlagabtausch nutzen: ich weiß verdammt genau, dass dieser „Sport“ niemandem nutzt und keine Meinung oder Haltung ändert. Es geht dabei allein um Erregungszustände, mit denen man sich Pausen aufpeppt – und das ist mir zu wenig!

Was will ich? Noch weiß ich das nicht so genau, doch spüre ich seit einiger Zeit eine Art Innovations-Sehnsucht. Ich will NÜTZLICH SEIN und nicht nur ein wenig herumbloggen. Möchte Teil der Lösungen sein und nicht aus Trägheit immer mehr zum Teil der Probleme werden. Dass sich etwas verändert, merke ich an zunehmender Anteilnahme, an aufwallender Wut und Aktionsbereitschaft, z.B. jetzt gerade wieder angesichts der widerlichen Expansionsbestrebungen der Hähnchenmast-Mafia. Klar, ich hab‘ die Protest-Aktion unterstützt und rühre keinen Gummi-Adler mehr an. Aber wie lange wird Letzteres anhalten und ist Ersteres schon alles, was man tun kann?

Ich kann nicht in allen Bereichen ‚was tun, in denen mich die herrschenden Übel wütend oder traurig machen. Und ich bemerke mit Sorge die Tendenz zum Wegschauen, die mit der zunehmenden Sensibilität einher geht. Manche Artikel lese ich gar nicht erst, weil ich schon weiß, was drin steht, ich aber auch weiß, dass ich nichts dagegen tun kann. Jedenfalls nicht als Einzelne. Also erspare ich mir das Frust-Erlebnis durch Ignoranz.

Um etwas zu bewirken, braucht es in jedem einzelnen zur Debatte stehenden Punkt eine Massenbewegung. Und nie waren die kommunikationstechnischen Voraussetzungen dafür so günstig wie heute! Gleichzeitig verliere ich mich im Vielerlei der möglichen Engagement-Themen: heute dies, morgen das – und nichts richtig, nichts nachhaltig.

Ist das eine Frage des Alters? Der Gedanke kommt mir in letzter Zeit öfter. Es sind ja meist Jüngere, die sich gegen bestehende Missstände voll einsetzen. Andere dagegen werden erst im Alter richtig kantig und radikal. Wohin werde ich mich selbst bewegen?

Mich einfach nur „bewegen zu lassen“ funktioniert jedenfalls nicht, bzw. ist im Ergebnis zu volatil und somit alles andere als nützlich. Blumen Gießen im eigenen Garten reicht mir Mitte 50 auch noch nicht, um mich über die Übel der Welt hinweg sehen zu lassen (zumal die auch vor dem Gartenzaun nicht halt machen!).

Als kleine Standortbestimmung soll das für heute reichen. Der Weg zeigt sich, wenn man ihn geht, heißt es. Trotzdem bleibt die Frage nach der Richtung der ersten Schritte.

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Diskussion

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53 Kommentare zu „Engagement und Alter: eine persönliche Geschichte“.

  1. „Mein innerer Sklaventreiber war im Burnout gestorben …“

    Ich glaube, er lebt noch. Vielleicht, nur etwas zurückgezogener. ;)

  2. Liebe Claudia, da kannst du ja echt froh sein, das nicht jeder Leser einen Kommentar hinterlässt, sonst würdest du vielleicht doch noch wordpress sprengen:)

    Ja, ich glaube auch, es ist eine Frage des Alters, wo es noch einmal gilt, das Feld neu abzustecken. Wie groß soll es sein, welchen Samen säen wir, und wieviel Kraft haben wir, dieses Feld auch gut zu bestellen, damit es wächst und gedeiht.

    Auch ich würde, wie du und auch viele andere, die Welt gerne verändern. Im Erkennen meiner eigenen persönlichen Grenzen hat es mich letztlich dahin gebracht, das ich Nichts und Viel machen kann. Ich kann keine Massen bewegen, wie vielleicht du, das ist mir nicht gegeben. Ich kann aber in meiner kleinen Welt das vorleben, was ich für wichtig halte. Und manchmal entdecke ich, das der eine oder andere etwas ändert, und wenn es nur eine Entschuldigung ist, wenn der eine den anderen wieder angeschrien hatte.

    Ich kann nur meine kleinen Schritte gehen, und auch das, ist ein oft von Enttäuschungen begleiteter Weg.

    „Willst du dich am Ganzen erquicken,
    so mußt du das Ganze im Kleinsten erblicken“

    Dieses Zitat, was Goethe zugeschrieben wird, aber bekannter aus dem fernöstlichen Denken ist, ist schon seit mehr als 20 jahren mein Begleiter und es zerreist mich noch heute oft. Ja, ich will das Ganze, ich will das große Rad – aber geschaffen bin ich, Menachem, für das Kleine. Und ohne dies, wird es kein großes Ganzes.

    Es ist, so glaube ich auch, nicht immer der persönlich einfachere Weg.

  3. P.S.
    „Entschuldigung“ bezieht sich auf unsere Baustellen, in denen ein rüder Ton ein „Alpha-Tier“-Gehabe darstellt.

  4. @Uwe: seh ich nicht so, denn es geht (anders als damals) lange nicht mehr um irgend einen persönlichen Ehrgeiz. Sondern darum, dass mir die Genügsamkeit des bloß persönlichen Wohlbefindens und des Kümmerns, dass das auch so bleibt, zunehmend als Teil des Problems vorkommt.

    @Menachem: ich alleine kann keine „Massen bewegen“, niemand kann das – aber es wäre schön, mich mal fürs ein oder andere Thema (an dem andere bereits arbeiten) zu entscheiden und da Nägel mit Köpfen zu machen. Bin auch zuversichtlich, dass es nicht mehr sooo lange dauert, bis sich die Unzufriedenheit mit dem „Themen-zappen“ klärt und ich weiß, wohin die Reise gehen soll.

  5. Ich verstehe, daß einem die Genügsamkeit des „bloß“ persönlichen Wohlbefindens problematisch vorkommen kann. Da ist ja dieser Tatendrang und die Stimme, die nach Veränderung und Verbesserung ruft und schließlich hat man ja für sich selbst die Erfahrung gemacht, Probleme ganz gut erkennen und lösen zu können. Der Gedanke liegt nahe, sich dann auch mal an größeren Brocken zu versuchen, die nicht nur mit einem selbst zu tun haben und dabei vielleicht sogar Gutes für viele zu bewirken. Ist das dann Ehrgeiz? Man könnte es so sehen. ;)

    Per Massenbewegung „herrschende Probleme zu lösen“ ist eine schöne Vorstellung. Wenn nur nicht die persönlichen Vorstellungen darüber, WAS die herrschenden Probleme sind und WIE sie zu lösen wären, so auseinandergehen würden.
    Beim Wort „Massenbewegung“ empfinde ich jedenfalls kräftiges Unbehagen, denn wo Massen ihre schwer lenkbaren Kräfte bündeln, da werden leicht mal ein paar Unschuldige zerquetscht und die Lösungen, die dabei herauskommen, sind oft nicht besser, als die Probleme vorher. :)

    Aber, frisch an´s Werk! Jeder tut das, was er braucht, um zufrieden zu sein.

  6. Du sagst: „Um etwas zu bewirken, braucht es in jedem einzelnen zur Debatte stehenden Punkt eine Massenbewegung. Und nie waren die kommunikationstechnischen Voraussetzungen dafür so günstig wie heute!

    Sehr krass losgeplappert: eine falsche Voraussetzung und eine noch falschere Randbedingung.

    a) Noch nie hat eine Massenbewegung etwas bewegt – außer vielleicht der Reaktion auf sie. Willst du das als ‚Bewegen‘ werten, okay, aber das klingt in meinem Ohr mächtig nach Etikettenschwindel.

    Die letzten ‚Massenbewegungen‘, die mir auf die Schnelle einfallen, sind die französische Revolution (der erst die feindliche Allianz und dann ein Bonaparte die expansive Dynamik gaben) oder die der Bolschewiki (was so etwas wie Minderheitler hieß und wohl auch zutraf). Bewegt haben da aber eher der Wiener Kongreß, der einem gebeutelten Mitteleuropa immerhin fast 40 Jahre Frieden brachte, und die Mischung aus Rosinenbombern und Interkontinentalraketen, der das halbwegs auch gelang. Sowie die schleichende Pauperisierung der sowjetischen Funktionärselite, u.a. durch die Drohung mit SDI, die der technischen Intelligenz des Reichs des Bösen den Alltag dermaßen vergällte, daß es auch sie unstillbar nach dem PC und den Topmodels verlangte, mit denen ihr Pendant im Westen sich kommod abspeisen ließ.

    b) Kommunikation spielte in den zahlenmäßig kleinen Schichten der Bürger, der Intelligenz und der Adligen vergangener Jahrhunderte nie eine unbedeutende Rolle, im Gegenteil. Und in der räumlichen Enge des Europa um 1798 oder der Pariser Kommune oder der kleinstaatlichen Lesewut des Vormärz ganz sicher nicht. Was heute an technisch (von Gnaden der Provider und Backbone-Betreiber) vermittelter Kommunikation möglich ist, ist nur eine augenwischende Imitation derselben. Bunt, schnell und unüberschaubar mannigfaltig, deswegen – inhaltslos. Vereinzelte dürfen sich verbunden fühlen, weil ein Gerät ihnen ein paar Stunden bunt ins Gesicht hinein blinzelt, bevor sie zur elektrischen Zahnbürste greifen, um den Lebensabend nicht zahnlos wie ihre Vorderen zu verbringen. Denn Zahnlosigkeit wäre ein schlimmeres Hindernis vor der Teilhabe am Konsum als früher die Armut. Das Netz aber erzählt nichts, sondern es schreit jeden bloß an. Nischen darinnen sind eben das – Nischen. Sie als wesentlich für sein Dasein zu nehmen, ist für mich grundfalsch.

    Ein altes Sprichworte lautet: Wer mit dem Teufel aus einem Topf essen will, muß einen langen Löffel haben.

    Ich habe das Gefühl, dieser Satz trifft viele der gut gemeinten Hoffnungen in Dinge wie das Netz und seine Offenheit sehr gut. Vielleicht reicht der Löffel derer einfach nicht, die ihn sich nur in Plastik und simple-sized leisten können statt aus handgeschliffenem Platin und king-sized. So daß sie alle am Ende froh sein werden, wenn sie einen Napf gefunden haben, aus dem das Auslöffeln der Suppe nicht zu scheußlich mundet. Und der vielleicht sogar einen nach Manufaktur anmutenden Rand aufweist und nicht zu rasch zerbricht.

    Netzkommunikation erhebt den Zufall zum Prinzip, ersetzt Verbindlichkeit durch Verknüpfung und Glaubwürdigkeit durch Authentizität. PR gibt es schon lange, wie sieht sie wohl aus, jetzt im Netz? Roboter spielen Schach wie ein Großmeister, warum sollten sie nicht auch Betroffenheit simulieren? Oder Unmittelbarkeit und Empörung? In einem Meer aus Unsicherheit gibt es weder den Null-Meridian noch N.N. – alles ist Welle, Fluß, in Bewegung.

    Das, was ist, ist so vielfältig bunt, daß es auch immer schon ist, was es nicht ist. Die überbordende Quantität toppt jedes Ding, bis es unterschiedslos wird. Im Netz stirbt sich nicht dauerhaft sentimental. Wenn zig Millionen dort leiden, spendet man hier kaum ein paar Millionen – litten kaum eine Millionen aber da, kamen zig Millionen hier zusammen. Zu bald gibt es die Glosse zum Tod, die Gegendarstellung des Dementis, den Hype um den Hype und die wilde Verschwörungstheorie als Add-on noch dazu. Wenn ein Kübel umfällt, steht die Welt Kopf. Wenn ein Kopf fällt, sehen andere kaum über den Rand ihres Kübels hinweg.

    Natürlich kann man sich verbarrikadieren und sich eine geeignete Peer-Group erschaffen. Ein Halo aus ein paar überschaubaren Stimmen, deren Melodie einem gefällt. Was bleibt einem auch anderes übrig? Doch es sind auch nur Autoritäten, diesmal selbst auserwählt. Das aber ist bereits gut kritisiert: man gehe hinaus aus selbst verschuldeter Unmündigkeit! Irgendwie zu entscheiden, worauf sie sich stütze, ist nichts, was sie ernsthaft behebt. Nur – was für ein Programm!?

    Gibt es einen Klimawandel, ja oder nein? Man findet Argumente für beides, die der Laie kaum entscheiden kann.

    Ist die Blase der giftigen Finanzpapiere geplatzt oder nur noch weiter gespannt? Beides sagen Stimmen, deren Substanz kaum jemand beurteilen kann.

    Baut der Iran an der Bombe und wenn ja, wozu? Aus Hölle wie Himmel schreien Stimmen dazu, und wer trennt sie auf, klingen sie doch alle so ernst?

    Verschüttet China Millionen Menschen in den Lasten seiner Modernisierung oder nur die paar Tausend, die der Westen immer wieder mal sieht? Wer sich müht, findet entsetzliche Stimmen dazu. Wer nicht, glaubt an Pech.

    Gibt es noch irgendwo Staatsanwaltschaften, die trotz Familie angstfrei und unabhängig vom Dienstherren ermitteln? Das Netz schweigt sich aus, was aber keine Antwort wohl ist.

    Sich zu tief in all diese Fragen zu versenken, kann niemand im Ernst leisten. Deswegen trennen wir ab, ziehen Linien, Schlußstriche, glauben, statt zu wissen, und lachen auch mal. Deswegen leben wir in unseren Nischen. Je nachdem gut gepolstert, klimatisiert oder einfach nur nett.

    Manchmal löcken wir wider den Stachel. Aber niemals sehr gern. Nur eines vielleicht:

    Den Rand seines Mustopfs zum Horizont umzudeuten, das bleibe Tabu.

  7. @Susanne: Die ‚Bolschewiki‘ waren die Mehrheitler, ihre Gegner, die Minderheitler, die ‚Menschewiki‘. Beides innerhalb der SDAPR. Vor dem großen Volk waren sie alle nur wenige. / Das Sprichwort kannte ich gar nicht, Merci! Heitler.

  8. @Dirk: Danke für die Korrektur, ich irrte da.

    „He must have a long spoon that must eat with the devil“

    Das ist aus William Shakespeare, The Comedy of Errors. Aber ich meine, es auch im Deutschen gehört zu haben.

  9. @all: beim grade laufenden Serverumzug ist offenbar mein Kommentar von heute Nacht abhanden gekommen! Ich meld‘ mich wieder, sobald alles über die Bühne ist!

  10. @Susanne und alle:

    Was ist mit der „friedlichen Revolution“ von 1989 in der DDR, war das keine Massenbewegung?

    Allerdings, wenn es eine war, untermauert sie deine (und meine) Skepsis, ob Massen tatsächlich etwas zum Guten zu bewegen vermögen. Ich denke, dafür mangelt es der „breiten Masse“ an Bewusstsein, an Refexionsvermögen, an der Fähigkeit (gesellschaftliche) Zusammenhänge zu durchdringen (auch wenn das jetzt überheblich klingen mag).

    Soziologisch gesehen waren die Ereignisse vom Herbst ’89 ja auch alles andere als eine Revolution, sondern eher eine „latente charismatische Situation“.

    Zitat Wikipedia: „Die latente charismatische Situation ist die Voraussetzung dafür, dass ein charismatischer Herrscher durch das Volk akzeptiert wird. Sie ist beispielsweise gegeben, wenn vom Volk eine Krise wahrgenommen wird und die verantwortlichen Akteure diese Krise nicht bewältigen können. Die Delegitimierung der Verantwortlichen schafft ein Machtvakuum, in welchem das Volk auf die Führung eines »starken Mannes« hofft.“

    Das Volk war unzufrieden, die alten Herrscher (Honecker & Co.) mussten weg, ein neuer Herrscher (Kohl, „starker Mann, wird’s schon richten“) musste her. Was hat uns (der Ex-DDR-Bevölkerung) das gebracht, außer dass wir vom Regen in die Traufe (von der Diktatur des Proletarialts in die Diktatur des Kapitals) gekommen sind?

    Alles plappert von wirtschaftlichem Aufschwung, von tausenden Arbeitsplätzen, die gerade neu geschaffen werden, von der Notwendigkeit der Rente mit 67 (alternativ: 70). Ich könnte echt kotzen, wenn ich das höre. Denn Tatsache ist, dass ich seit Wochen erfolglos Bewerbungen quer durch die Republik schicke, weil mein befristeter Arbeitsvertrag als Technischer Zeichner nach vier Jahren ausläuft und nicht verlängert wird. Ich habe Berufserfahrung, ich habe (angeblich) gefragte Spezialkenntnisse (Optomechanik, Feinwerkstechnik, moderne 3D-CAD-Programme), ich habe gute und sehr gute Zeugnisse. Aber ich habe einen entscheidenden „Makel“: Ich bin 51 Jahre alt.

    Auch das ist Fakt: Von Donnerstag, den 05.08. auf Freitag, den 06.08. wurden in der Online-Stellenbörse der Arbeitsagentur republikweit 37 Stellen für Technische Zeichner neu eingestellt bzw. aktulisiert. Darunter befand sich eine einzige, bei der eine Firma (in WÜ) einen Bewerber zur Direkteinstellung (auf ein Jahr befristet) suchte. Bei allen anderen handelte es sich um Stellenanzeigen von Zeitarbeitsfirmen, meist sog. Engineering-Dienstleistern. Der Branchenprimus (oder zumindest einer der Großen) „Ferchau-Engineering“ beschäftigt republikweit 3.600 Mitarbeiter, in der übergroßen Mehrzahl Ingenieure, Konstrukteure und Technische Zeichner. Der Tarifvertrag, den Ferchau mit der IG Metall geschlossen hat, ist ein 70-seitiges Machwerk (kann man sich im Web runterladen), das überwiegend aus Pflichten des Arbeitnehmers besteht. Ein Technischer Zeichner fängt bei Ferchau mit einem Grundgehalt von 1.400 Euro brutto an. Dazu kommen zwar noch Zuschläge, die aber mehr als aufgefressen werden (z.B. durch das nach drei, vier Jahren kaputt gefahrene eigene Auto, das Einstellungsvoraussetzung ist, um zu den diversen Firmen, an die man verliehen wird, zu gelangen).

    Das Privatvermögen der Eigentümer, Gebrüder Ferchau, auch das lässt sich im Internet nachlesen, wird auf 1,2 Milliarden Euro geschätzt. Ein Taschenrechner genügt, um herauszufinden, wie diese Herren an ihr Vermögen gelangt sind. Denn von 1,2 Mia. Euro ließe sich ca. 26 Jahre lang jedem der 3.600 Mitarbeiter monatlich ein menschenwürdiges Gehalt von 1.000 Euro brutto mehr bezahlen.

    Warum lassen Menschen (Massen) das mit sich machen, warum gehen nicht mal 50.000 Zeitarbeitsknechte oder 5.000 Kik-Verkäuferinnen auf die Staße, um zu zeigen, dass sie das nicht mehr länger mit sich machen lassen? Warum ist diese Regierung (und vermutlich jede andere, dem Kapital verpflichtete) nicht in der Lage, derartigen Machenschaften der Mächtigen in diesem Land einen Riegel vorzuschieben?

    In der DDR betrug das Verhältnis der geringsten zu den höchsten Einkommen (Bspl. ein Fließbandarbeiter im Verhältnis zum Kombinatsdirektor) etwa 1:16 (nachzulesen bei Daniela Dahn: „Westwärts und nicht vergessen“). Das war gut und gerecht. Aber kann denn (hier und heute) ein Mensch 100.000 Mal soviel leisten (oder Verantwortung tragen) als ein anderer, was die gigantomanischen Gehälter von Vorständen u.ä. rechtfertigen würde?

    Das zum Thema Massen und was sie zu bewegen oder nicht bewegen vermögen. In dunklen Momenten bin ich überzeugt, dass das kapitalistische System (das, auch wenn es sich „marktwirtschaftlich“ oder „sozialpartnerschaftlich“ nennt, immer noch auf der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beruht, nicht reformierbar ist, dass die einzige Lösung darin besteht, es „kontrolliert gegen die Wand zu fahren“. Oder um mit Samuel Beckett zu sprechen: „Alles seit je. / Nie was anderes. / Immer versucht. / Immer gescheitert. / Einerlei. / Wieder versuchen. / Wieder scheitern. / Besser scheitern.“

  11. @Peter
    Interessanter und inspirierender Beitrag, Peter. Ich wünsche Dir, daß Dir etwas Gutes einfällt, um Deine Fähigkeiten nutzbringend einzusetzen. Vielleicht selbständig? Geh´ nicht zu Ferchau. Wenn kein Einzelner sich dort verdingt, dann fehlt „die Masse“, deren Arbeit sie sich aneignen. Das ist wie mit dem Krieg, der fällt auch aus, wenn keiner hingeht.

    Man trifft ja kaum einen Einzelnen, der sich nicht klüger vorkommt, als die Masse, doch plötzlich ist auch der wieder „Volk“, zuckt in der Masse und ruft nach Herrschern, die es richten, wie seit je. Nie was anderes. Immer versucht. Immer gescheitert … Da hat er Recht, der Beckett.

  12. Was @Peter beschreibt ist ohne Zweifel mit gesundheitlichen Risiken behaftet. Deshalb mein folgender Kommentar ist ausdrücklich nicht an @Peter als Betroffener gerichtet, dem ich im Gegenteil Glück und Erfolg wünsche, wobei ich mich den Zeilen von @Uwe anschliesse. .

    Nicht ignorieren will ich jedoch die von mir so interpretierte Aussage, dass es bei einem Fortbestehen der DDR im 2010 keine Arbeitslosigkeit für deren Bürger geben würde. Die DDR ist bankrott gegangen, Jahrzehnte vor dem Fastbankrott von Griechenland, weil dem sozialen Giesskannenprinzip (ups und natürlich den Militärausgaben) keine genügenden Erträge aus Werten für Industrie, Handel und Dienstleistungen gegenüber gestanden haben.

    Kaum eine Handvoll Länder hätten – ausser der Bundesrepublik – diesen Kraftakt wagen und durchstehen können. Diesen Kraftakt bezahlen die alten Bundesländern insgesamt. Die Infrastruktur hat an vielen Orten Nachkriegsniveau erreicht. Insbesondere die West-Rentner wurden zur Kasse gebeten, denn deren angesammeltes Rentenvermögen wurde zur Finanzierung der angestrebten blühenden Gärten verwendet. Plus die Solisteuer.

    Die Wirtschaftswelt hat sich extrem verändert nach dem Fall von Mauer und Eisernem Vorhang. Ohne dieses Ereignis hätte die Globalisierung nicht die heute etablierte Wirkung erzielt. Hohe wirtschaftliche Verluste für viele. Der Gewinn: Die Kriegsgefahr in Europa ist gebannt.

    Wo das kommunistische Wirtschaftssystem hinführt sehen wir in Kuba und Nordkorea.

    Im Übrigen ist der Boom von Zeitarbeitsfirmen in D den total verkrusteten Arbeitsmarktregulierungen zuzuschreiben. Firmen im Allgemeinen und KMU im Besonderen stellen doch keine Arbeitnehmer ein, die sie anschliessend praktisch nicht mehr los werden können. Gewerkschaften kümmern sich – mit Verlaub – einen Scheiss um Arbeitslose. Sie kümmern sich mit sehr grossem Schwergewicht um die Interessen jener die Arbeit haben und Mitgliedsbeiträge abliefern.

    Ich kenne KMU Besitzer, die lieber auf einen Auftrag verzichten als Personal einzustellen. Die Auftragslage sinkt auch wieder, der Personalbestand dagegen nicht. Ein unkalkulierbares Risiko für den Unternehmer.

  13. Was für ein interessantes Gespräch zum Thema „Massenbewegung“ – und in der Folge über Wirtschaft, Kapitalismus, Arbeit!

    @Peter: angeblich sollen ja bald Fachkräfte mangeln wegen der sich auswirkenden Alterspyramide mit immer weniger Jüngeren. Ich wünsch dir aber alles Gute und viel Glück!

    Mit 51 würde ich mir aber auch überlegen, selbständig was zu machen! Abgesehen von dem, was Relax-Senf über die Problematik der „festen“ Jobs schreibt, glaube ich, dass man im „jungen Team“ als 50plus auch keine Freude hat. Der Altersabstand und die Erfahrung verlangt eigentlich nach einer Leitungsaufgabe, die es in den verflachten Hierarchien heute nicht mehr so viele gibt. Die evtl. jüngeren Chefs haben bestimmt auch ein Problem im Umgang mit dem Älteren – und umgekehrt.

    @Relax: so sehe ich das auch. Wir alle spüren an sämtlichen Ecken, wie schnellebig alles geworden ist, Produktion „just in time“, immer mehr Güter „on demand“ – die Moden wechseln, die Produkte erleben ihre kurzen Hypes und verschwinden in der Versenkung, „Startups“ starten und gehen wieder pleite, langfristige Kundenbeziehungen sind selten, es gibt für vieles immer mal ein neues/besseres Angebot – wie um Himmels Willen soll man da noch unkündbare Arbeitsplätze halten???

    Ich kann gut verstehen, dass die Firmen bei minimaler Kernbelegschaft mit Zeitarbeitern und Freien arbeiten – denn wenn der Auftrag weg ist, das Projekt beeendet, wird man die auch wieder los.

    Hätten wir keinen solch heftigen Kündigungsschutz, hätten Arbeitslose es mit dem Einstieg viel viel leichter! Es gibt zwar die „betriebsbedingte Kündigung“, aber wenn ich mir so durchlese, was dazu erforderlich ist, damit das auch bei Gericht durchgeht, dann verstehe ich, dass man das lieber vermeidet.

    Die Situation mit massenhaft Zeitarbeitern ist direkte Folge einer mangelnden Anpassung des Arbeitsrechts an die Situation. Es läuft nach dem Motto „dass nicht sein kann, was nicht sein darf“ – und die Neuregelung wird dann quasi outgesorced in ganz neue Strukturen (Zeitarbeitsfirmen). Na klasse! (Ganz zu schweigen von fiesen Methoden wie Mobbing, die damit forciert werden!)

  14. @Susanne, @all

    mit „Massenbewegung“ meinte ich eigentlich nicht so eine „klassische“ Bewegung mit der Mehrheit des Volkes protestierend auf den Straßen. Sondern eher: wenn immer mehr Menschen vor lauter Ekel, Wut und Mitgefühl bezüglich der Tiere in der Massentierhaltung nur noch einaml pro Woche Fleisch essen (oder gar keins mehr), dann ändert sich auch was!

    Oder auch: eine KLEINE Masse trifft den Nerv eines Problems und erreicht viel. Das hab ich selbst erlebt:

    Anfang der 80ger wurden in Berlin 150 Häuser besetzt. Es waren ca. 3500 Besetzer, 10.000 aktive Mitmacher, 50.000 lautstarke Unterstützer bis in „bürgerliche Kreise“ hinein – und eine Mieterschaft von vielen Hunderttausenden, die die Nase gestrichen voll hatte vom Wohnungsmangel bei gleichzeitig zunehmendem Leerstand wg. Sanierung oder gar „Kahlschlagsanierung“ mit Abrissen billiger Wohnungen.
    Darüber stürzte der Senat und die Sanierungspolitik wurde deutlich verändert: Instandsetzung statt Luxusmodernisierung und Mitsprache der Mieter, bezahlbare Mieten! Erfolg auf ganzer Linie… (jedenfalls auf DER Linie, die MIR wichtig war).

    Meiner persönliche Suche nach Orientierung in Richtung neuer Projekte hat mit alledem insofern so tun, dass ich mich gerne (auch) „themenspezifischer“ engagieren will: eben in Angelegenheiten, die aus meiner Sicht im Argen liegen, wo es aber bereits vielfältige Aktivitäten gibt, an die ich auch andocken kann. Z.B. im Reich der nachhaltigeren Lebensstile.

    „Gibt es einen Klimawandel, ja oder nein? Man findet Argumente für beides, die der Laie kaum entscheiden kann.“

    Nun, wenn man den Rückgang der Gletscher betrachtet, frag ich mich, wie man das nennen will, wenn nicht Klimawandel! Aber im Prinzip hast du recht! Deshalb will ich auf jeden Fall solche Auseinandersetzungen vermeiden (der Streit Gläubige gegen Leugner in Blog-Kommentaren bringt niemandem etwas), sondern die Themen so kondensieren, dass das einfach obsolet ist.

    Was gerade hier ja nicht schwer ist: egal, ob es Klimawandel gibt oder nicht, ob er von Menschen gemacht ist oder nicht: auf jeden Fall gehen die Ressourcen des Raumschiffs Erde zur Neige, die Förderung der letzten Reste wird immer zerstörerischer (Oil Spill) – also ist es AUF JEDEN FALL sinnvoll, Rohstoffe und Energie zu sparen und von einem Ex- und Hopp-Lebensstil herunter zu kommen.

  15. Engagement und Alter: eine persönliche Geschichte…

    Eine Auseinandersetzung mit dem politisch-gesellschaftlichen Engagement in verschiedenen Lebensaltern. Am eigenen Beispiel und verbunden mit der Suche nach dem nächsten Web-Projekt….

  16. @liebInk: Den Artikel finde ich klasse. Es gehört die Fähigkeit dazu, die Ausgewogenheit beim Schreiben zu finden, d.h. Interesse beim Leser zum Lesen und Weiterlesen zu wecken ohne zu jammern und ohne Oberlehrermässig oder moralinsauere Wegbeschreibungen abzugeben. Die ganze Hirnzellenunterhaltung und die Mitmachfunktion wird gratis angeboten und der Hinweis auf anstehende Aktivitäten erfolgt völlig zu recht. Da ist jemand der nicht wohlstandsverwöhnt und abgehoben über den Alltag schreibt sondern zu erkennen gibt, immer wieder selber gefordert zu sein einen nächsten Auftrag zu finden. Leute die den ganzen Tag die i Unterhaltungsmöglichkeiten nutzen, aber ansonsten erwarten, dass aus der Umverteilungsmaschinerie genügend abfällt und auf dem Silbertablett ans Nest oder an die Potato-Couch geliefert wird, finde ich öde und frustrierend.
    Den Hinweis auf das nächste Web-Projekt lese ich auch nicht primär als Auftragssuche – was für mich Okay ist – sondern als Hinweis auf kreatives Brainstorming …. was fehlt, was frau machen könnte etc. Wohin geht der Trend, wo kann frau vorne dabei sein.

    Ständiges Runtermachen und Neid sind die schlimmsten Erreger zum unaufhörlich mottenden Sozialneid.

  17. @Uwe:
    Danke für Rat und Wünsche. Zu Ferchau & Co. werde ich zumindest so lange nicht gehen, solange ich noch einzelne „normale“ Stellen finde, auf die ich mich bewerben kann (wenn sie mich denn bei Ferchau überhaupt nehmen würden, denn wie ich weiß, bevorzugt man da Bewerber ohne bzw. mit max. ein bis zwei Jahren Berufserfahrung, die gelten laut selbst gegebenen Statuten noch als „berufsunerfahren“ und kosten entsprechend weniger).

    @Claudia:
    Von dem sich angeblich anbahnenden Fachkräftemangel wegen der Alterspyramide habe ich gehört; auch von den derzeitigen Bemühungen der Bundesregierung durch „anonymisierte Bewerbungen“ die Chancen „älterer“ Bewerber auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern (lach!). Danke für deine Hinweise und Überlegungen :-)

    @Relax-Senf:
    Vorweg: um meine Gesundheit und Betroffenheit musst du dir keine Gedanken machen, das tue ich schon selbst.

    Und: irgendwie klingt das ja alles sehr vernünftig (und „ökonomiekompatibel“), was du sagst. Allerderdings, dass es zum heutigen Zeitpunkt in der DDR bei deren Fortbestehen keine Arbeitslosigkeit geben würde, habe ich nicht behauptet. Ich bin kein Prophet und weiß nicht, wohin sich die DDR entwickelt hätte, wenn es beispielsweise gelungen wäre (wie von Runden Tischen und Bürgerinitiativen nach dem Mauerfall kurzzeitig angestrebt), einen „demokratischen Sozialismus“ mit „moderat marktwirtschaftlichen Strukturen“ (nach dem Vorbild der Gorbatschowschen Reformbestrebungen, die ja in der wirtschaftlich maroderen Sowjetunion fünf Jahre lang hoffnungsvolle Entwicklungen nach sich zogen) zu installieren. Denn so pleite und abgewirtschaftet, wie es Kohl-Regierung und Treuhandgesellschaft dem Volk suggerierten (und letzteres es anscheinend tief verinnerlicht hat), war die DDR nicht. Deren Betriebe waren lediglich in der direkten Konfrontation und im gemeinsamen Haifischbecken mit den Konzernen der Bundesrepublik nicht konkurrenzfähig und mussten (auch) deshalb sterben.

    Und dass heute ein mehrfaches der ehemaligen DDR-Staatsschulden in den Osten transferiert werden muss (Geld, dass nun den Kommunen in den alten Ländern, aber nicht nur da, fehlt), um Wirtschaft und Infrastruktur dort halbwegs aufrecht zu erhalten, ist nicht zuletzt dieser rigorosen Plattmachpolitik, die die Bundesrepublik nach der Wende im „Beitrittsgebiet“ betrieben hat, geschuldet (heute gibt es in den neuen Bundesländern weniger als ein Drittel der Anzahl der Industriearbeitsplätze, die in DDR zur Zeit des Mauerfalls bestanden).

    Man wollte sich unliebsame Konkurrenz vom Halse schaffen, dachte es würde genügen (und zum Vorteil des Kapitals gereichen), sich den Osten lediglich als Absatzmarkt zu erschließen. Aber das ging wohl nach hinten los. Übrigens die gleichen Mechanismen, die jetzt auch im Zusammenhang mit der Globalisierung wirken und unter denen die Wirtschaft aller Industriestaaten ächzt. Der globalisierte Kapitalismus mutet mir wie eine Schlange an, die sich in den Schwanz beißt und nach und nach selbst verschlingt. (Schade nur, dass dessen Macher und Strategen nicht wenigstens einige des Tausende Seiten umfassenden Weks von Karl Marx gelesen haben, sonst hätten sie das längst selbst erkannt und würden nicht nach immer mehr „Wachstum“ schreien.)

    Die DDR ist m.E. nicht in erster Linie an ihrem nicht mit dem Westen konkurrenzfähigen Wirtschaftssystem zugrunde gegangen, sondern vielmehr an ihren Selbstzweifeln (bzw. denen der Oberen), die letztlich zu fehlender Transparenz, Problemverdrängung, Lügen- und Vertuschungspolitik führten. Jürgen Kuczynski, Nestor der Wirtschaftswissenschaften in der DDR, hat dafür den Ausdruck „Apologetik des Sozialismus“ geprägt: dafür, dass praktisch per „Glaubenssatz“ der Sozialismus gut und unfehlbar zu sein hatte und alles Negative und alle Probleme auf den (kapitalistischen) Klassenfeind projiziert wurden. Nachdem ich etwa zehn Jahre vor dem Ende der DDR Kuczynskys Buch Dialog mit meinem Urenkel gelesen hatte, glaubte ich nicht mehr an den real existierenden Sozialismus und dessen angebliche Überlegenheit gegenüber dem Kapitalismus.

    Und ich bin kein DDR-Nostalgiker, will auch deren Zustände nicht zurück. Aber ich halte es für durchaus legitim, sich hin und wieder zu erinnern (und vergleichend abzuwägen: wie war es dort und damals – wie ist es hier und heute). Die DDR, das sollte man nicht außer acht lassen, hatte für die Bundesrepublik und deren Wirtschaft auch eine Korrektivfunktion. Und dass der Kapitalismus sich nach Wegfall von Konkurrenz und (vermeintlicher oder tatsächlicher) Bedrohung durch die sozialistischen Staaten um so gieriger und entfesselter zeigt, ist wohl nicht verwunderlich.

    Du schreibst: „Der Gewinn: Die Kriegsgefahr in Europa ist (nach dem Fall von Mauer und Eisernem Vorhang) gebannt“. Ob sie tatsächlich gebannt ist, bezweifle ich. Und fakt ist wohl auch, dass das Damoklesschwert eines (globalen und/oder Atom-) Krieges in den 40 Jahren des Gegenüberstehens von sozialistischem und imperialsitischen Weltsystem zwar stets über den Köpfen der Menschen schwebte. Dass aber andererseits die Menschheit auch zu keinem anderen Zeitpunkt ihrer Geschichte so befriedet war, wie in diesen 40 Jahren. Ich habe mal die Zahl gelesen (weiß nicht, ob sie stimmt, klingt aber durchaus plausibel), dass allein in den ersten zehn Jahren nach dem Fall des Eisernen Vorhangs weltweit mehr Menschen in Bürgerkriegen, regionalen bewaffneten Konflikten und Invasionskriegen ums Leben gekommen sind, als in den 40 Jahren davor (einschließlich Vietnamkrieg der USA und Afghanistankrieg der Sowjetunion). Auch das wird allzu oft vergessen, wenn vom Sieg über die „menschenverachtende Diktatur des Kommunismus“ die Rede ist.

    Und worauf deine Erkenntnis beruht, dass Firmen, die Arbeitnehmer einstellen, sie „anschliessend praktisch nicht mehr los werden können“, müsstest du mir gelegentlich mal genauer erläutern. Das Gesetz gibt Arbeitgebern vielfältige Möglichkeiten an die Hand, Arbeitsverträge zu deckeln und zu befristen (was ich zum Zeitpunkt der gegenwärtig unsicheren Wirtschaftslage auch für – zumindest teilweise – gerechtfertigt halte), siehe z.B. hier:

    Arbeitsrecht für die Praxis – das Online-Kompendium

    Und auch gegen die Kündigung eines unbefristeten Arbeitsvertrages (aus „außer- oder innerbetrieblichen Gründen“, z.B. wegen fehlender Aufträge oder betrieblicher Umstrukturierungen) hat ein Arbeitnehmer (wenn er nicht gerade 25 Jahre im Unternehmen ist und sich so ein Defacto-Bleiberecht erworben hat, aber wer ist das heute schon noch?) kaum eine Chance, etwas zu unternehmen.

    Aber es ist für Firmen (aus mir bisher unbekannten Gründen) offenbar lukrativer, für ca. 45 €/Stunde einen Facharbeiter bei einem Leiharbeitsunternehmen zu mieten (wovon der dann ca. 9 – 10 € brutto bekommt), als jemand befristet oder unbefristet einzustellen. Den Zeitarbeitsknecht kann man schließlich bei Nichtgebrauch wieder wegschicken ohne befürchten zu müssen, dass der irgendwelche Spirenzchen macht, mit Anwalt droht oder so.

    Schöne neue (Arbeits-) Welt, aber alles wird wieder besser, wenn die „momentane Wirtschaftskrise“ (nicht etwa die [dauerhafte] Krise des Kapitalismus, welche nur Altstalinisten und sonstige Miesepeter für existent erachten) erst überwunden ist. Und wer’s glaubt, wird selig. Abschließend noch ein Zitat der Publizistin und Buchautorin Daniela Dahn: „Wenn der Kapitalismus überleben will, muss er aufhören, er selbst zu sein.“ Da er aber, bei Strafe seines Untergangs, letzteres vermeiden muss, bleibt – so oder so – die spannende Frage: Was kommt danach?

  18. Ich konnte aus der Nähe beobachten, wie die Treuhand einer Vielzahl von Unternehmensberatern von Roland Berger, McKinsey und anderen, tausende PRO KOPF UND TAG bezahlt hat. Herausgekommen ist dabei nichts weiter, als daß Filetstücke der Chemiekombinate in Buna und Leuna von Kohl an Elf Aquitaine verschenkt wurden. So kann man die „Kosten der Einheit“ als gigantisches Subventionsprogramm für West-Unternehmen sehen, ähnlich der Abwrackprämie, finanziert auf Pump, entschieden von wenigen, auf Kosten von vielen.

    „Kapitalismus“ und „Sozialismus“ haben mehr gemeinsam, als sie trennt. Beide sind Weiterentwicklungen des römischen Herrschaftssystems. In beiden Fällen entscheidet ein Zirkel von Wissenden und Handelnden über die Verteilung der Ressourcen und damit über die Lebensbedingungen der unterwürfigen Mehrheit, die sich derweil mit Brot und Spielen tröstet und ablenkt. Diese Systeme aus Herrschern und Beherrschten kippen notwendigerweise immer wieder, weil sie im Inneren ungleichgewichtig sind. Sie entstehen aber auch immer wieder, weil die „Spielregeln“ dazu von Generation zu Generation weitergegeben werden. Jeder einzelne denkt im Entweder-Oder von Dominanz und Unterwürfigkeit, kann beide Rollen einnehmen und entwickelt Präferenzen und Strategien. Eine Haltung JENSEITS von Dominanz oder Unterwürfigkeit erscheint dagegen undenkbar. Wenn so ein Herrschaftssystem kippt, dann geschieht das nur scheinbar, denn unter neuer Flagge und in fast gleicher Besetzung geht es sofort weiter, weil nämlich die Innenwelten der beteiligten Menschen die gleichen bleiben und diese nichts anderes kennen, als das gewohnte Spiel.

    Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit können zwar seit einiger Zeit schon gedacht werden, sie können aber noch nicht umgesetzt werden.

  19. @Uwe:
    Kluge Gedanken – dennoch: Einspruch, euer Ehren! Ich z.B. versuche seit langem, mir eine Haltung „jenseits von Dominanz und Unterwürfigkeit“ zu eigen zu machen und bin auch grundsätzlich davon überzeugt, dass es möglich ist, so durchs Leben zu gehen. Nur muss man dabei eben in Kauf nehmen, gegen die herrschenden „Spielregeln“ der Gesellschaft, in der man gerade lebt (ob Kapitalismus, Sozialismus oder sonst was ist egal), zu verstoßen. Und die Konsequenzen daraus können, wie in meinem Falle, auch sein, mit 51 eben nicht etabliert und „angekommen“ zu sein. Und ich denke, es geht Hunderttausenden anderen ebenso.

    Allerdings: die „Stromlinienförmigen“, die ihren Platz in der Hackordnung der Gesellschaft eingenommen und akzeptiert haben, haben es wohl etwas leichter. Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit, da stimme ich dir vollends zu, werden wohl noch lange (oder auf immer) eine schöne Illusion bleiben; das hat nicht zuletzt der gescheiterte Sozialismus eindringlich vor Augen geführt.

    Das Sein bestimmt das Bewusstsein, allderdings wohl nicht in der Form, wie Marx (der sicher auch in vielem irrte) und Lenin es sich dachten, dass eine „höher entwickelte Gesellschaftsformation“ (Sozialimus!) eine „höher entwickelte Bewusstseinsstufe“ des Menschen nach sich ziehen würde. Letzlich hat sich wohl „der Mensch“ im allgemeinen und als solcher als für eine ausbeutungs- und klassenlose Gesellschaft als „nicht reif“ erwiesen (auch ein Grund für das globale Scheitern des Sozialismus) – und es ist fraglich, ob er es je sein wird ???

  20. @Peter, @Uwe

    ok, nix gegen ‚eine Systemdebatte. Doch empfinde ich (wie übrigens schon mit 15, als mein 18-Jähriger Freund mir vom „falschen Bewusstsein“ erzählte, das ich angeblich hätte) Eure Klage als irgendwie abgehoben vom tatsächlichen Erleben vieler Menschen. Es klingt immer so, als seien wir Sklaven und müssten alternativlos auf Galeeren schuften, während irgendwelche bösen Machthaber über unser Schicksal befinden und uns Hungerportionen zuteilen.

    Ok, das ist meine Zuspitzung, aber die Tendenz ist doch so, oder? So habe ich allerdings „den Kapitalismus“ nie erlebt!

    Ich war vom Start weg nicht willens, ein langweiliges 9-to-5-Angestellten-Dasein in Behörden zu leben, wie es mein Vater (kleiner mittelloser Angestellter) gerne gesehen hätte. Für mich kam es nicht in Frage, die meiste Lebenszeit mit irgendwelchen ungeliebten Arbeiten zu verbringen, allein des Geldes ud der „Sicherheit“ wegen.

    Und abgesehen von ein paar völlig freiwilligen Jobs während des Studiums hab ich das auch mein ganzes Leben lang nicht tun müssen. Ich studierte „suchend“ herum, kam in Kunsterziehung nicht rein (gottlob!), landete schließlich bei Jura, brach aber mit allen Scheinen ab, weil ich auf den weiteren Weg hin zum Juristen einfach keine Lust hatte. Zog nach Berlin, begann ein neues Leben, ein neues Studium (das ich auch abschloss) und wurde Stadtteil-Aktivistin. Immer mal ein Mini-Honorarvertrag aus der Sachmittelpauschaule unseres Mieterladens finanzierte mich abwechselnd mit Arbeitslosenhilfe (bekam ich, weil wir uns auch mal ein halbes Jahr beim eigenen Verein angestellt hatten). Zeitweise war ich dann auch selbständig mir einer Stadtteil-Zeitung, ein Experiment mit eigener Kneipe zeigte mir, dass das Leben am Tresen auf Dauer nicht erträglich ist.

    Nach meinem Burnout mit 38 bekam ich eine Umschulung/Weiterbildung zur EDV-Fachkraft – ich war entzückt, dass das möglich war, denn ich hatte begonnen, mich für Computer zu interessieren! Danach servierte man mir eine ABM-Stelle: Energiesparkampagnen durchführen bei Mietern, Gewerben etc. – wie für mich gemacht! Nach drei Monaten wurde ich als Projektleiterin beim Träger angestellt und genoss nun „analog BAT 3a“. Hat mich auch nicht groß beeindruckt, ich blieb 2 Jahre, bis ich die Nase voll von den Rahmenbedingungen hatte. Als mal wegen Einsparungen nur noch halbtags angesagt war, ging ich lieber – und erforschte autodidaktisch die Möglichkeiten des Internets. Nach einigen Eigenprojekten meldeten sich die ersten Kunden: mach doch auch mal für uns! Seitdem bin ich selbständig, aber auf eine recht gemütliche Art. Und ich empfinde mich nach wie vor als selbst bestimmt und genau so lebend, wie ich es möchte.
    Sollte ich mal deutlich weniger verdienen, dann werde ich halt „Aufstocker“ – werde aber immer weiter versuchen, auf irgend eine Weise, die mir gefällt, nützlich zu sein. Und so aus dieser Situation auch wieder heraus zu kommen.

    Ich habe von diesem Staat also eine Menge bekommen: große Freiheit bei der Wahl, was ich tun möchte – und auch die Möglichkeit, das immer mal wieder zu ändern. Ich wurde vom sozialen Netz nicht unerheblich „zwischenfinanziert“, wenn ich kein eigenes Einkommen hatte – und ich konnte auch richtig auf den Putz hauen, zivilen Ungehorsam leisten, mich anlegen mit den jeweils „Herrschenden“ (nämlich die, die für die Wohnungspolitik der 80ger verantwortlich waren), ohne deshalb in den Knast zu kommen oder sonst irgendwelche Nachteile im späteren Leben zu haben.

    Welches SEIN hat denn bittschön mein Bewusstsein bestimmt? Ich führte ein diametral anderes Leben als das meiner Herkunftsfamilie, ich konnte überall hin reisen (wollte aber meist nicht weg, weil es hier so spannend war!), konnte unbehindert publizieren und kann leben wie ich mag!

    Hätte mir Geld je viel bedeutet, hätte ich mich DAFÜR engagiert und wär jetzt wahrscheinlich deutlich reicher. Auch dafür gibts ja viele Beispiele „im Kapitalismus“ – auch in Deutschland.

    Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit ? Na klar, gerne! Dafür muss man aber auch diesselben Bedingungen haben! Es klappt nicht, wenn die einen die Verantwortung und das Risiko tragen und die anderen nur den gesicherten Job und eine ruhige Kugel wollen. Das hab ich in einigen Arbeitszusammenhängen hautnah und leidvoll erlebt! Deshalb hab ich keine Firma und kein Team, sondern arbeite alleine. Und wenn ich eine besondere Qualifikation brauche, suche ich mir einen netten Sub, der zum Festpreis macht, was ich brauche. Beim Kaffee sind wir aber trotzdem „brüderlich“ auf Augenhöhe!

  21. @Peter
    Danke für Deine Gedanken!
    Es ist einleuchtend, daß jemand, der es ablehnt zu führen und anderen seinen Willen aufzunötigen und es ebenso ablehnt, widerspruchslos Anweisungen auszuführen, irgendwie am Rand steht. Aber ist das ein Nachteil? Ich finde, das ist Freiheit.

    Ich meine, die Probleme fangen in dem Moment an, wo sich jemand hinstellt und anderen das verordnen möchte, was ihm, aus irgendeinem Grund (und gute Gründe finden sich immer), sinnvoll erscheint, egal ob er Marx, Lenin, Napoleon oder Hitler heißt oder ob es sich um ein anonymes Kosortium handelt und egal welcher Ismus gepredigt wird. Je einengender diese Vorstellungen auf andere wirken, desto mehr Widerstand bildet sich dagegen und umso weniger funktioniert der Ismus, wie er geplant war. Es ist wie das Auftürmen einer Düne im Sand oder einer hohen Welle im Meer. Der Wind schafft es mit großer Stärke und viel Ausdauer aber dennoch haben diese Phänomene keinen Bestand. :)

    @Claudia
    Das tatsächliche Erleben ist eben bei jedem Menschen anders. Wir leben zur gleichen Zeit an fast gleichem Ort und jeder erlebt etwas anderes, nimmt anderes als wahr an und dann hat noch jeder seine Theorien und Vorstellungen darüber, WARUM er es so erlebt. Es ist alles sehr vielschichtig und ich finde das spannend. :)

    Wie Du, habe ich Wege und Nischen gefunden und habe keinen Grund zu klagen. Hätte ich einen, würde ich vermutlich auch nicht klagen. ;)

    Wie das Bewußtsein das Sein bestimmt, liegt auf der Hand: Aus kleinen, „mittellosen“ Verhältnissen stammend, war es kein Ziel für Dich, Geld anzuhäufen, denn das Leben im Reichtum ist Dir ungewohnt. Aus dem Beamtenhaushalt bekannt ist dagegen die Erfahrung, Geld vom Staat zu erhalten, ihn deshalb als notwendig und nützlich zu betrachten. Bekannt auch, daß es Vorschriften, Regeln und Gesetze geben muss, deren Einhaltung ganz wichtig ist.

    An dieser Stelle kann ich vielleicht noch etwas zum eigentlichen Thema „Engagement und Alter“ beitragen:

    Ich habe beobachtet und am eigenen Leib erfahren, wie das Leben sich zunächst rebellierend von den Wurzeln der Vorfahren entfernt, nichts damit zu tun haben will und alles besser machen, um dann, fast unbemerkt, in einem eleganten Bogen fast genau dort zu enden, wo die Altvorderen standen. :)

  22. @Claudia:
    Ich bin mir nicht sicher, ob es tatsächlich möglich (und wünschenswert) ist, System- und Ideologiefragen aus Gesprächen, von denen man mehr als einen Austausch von Nettigkeiten erwartet, herauszuhalten (aber das Thema hatten wir hier ja schon mal unlängst im Zusammenhang mit deinem Empathie-Posting).

    Unterschiedliche Auffassungen, Weltanschaungen, Erfahrungen … sind was ganz normales, wie ich denke und auch Uwe es schon sagte. Und Nichtübereinstimmung hat nichts damit zu tun, dass eine/r der Beteiligten ein „falsches Bewusstsein“ hat. Ich für meinen Teil halte es für wichtig, die Dinge ab und an bei ihrem Namen zu nennen; und ich werde den Kapitalismus auch weiterhin als solchen bezeichnen und nicht in Gänsefüßchen setzen. Du hingegegen magst meine (System-) Kritik als überzogen und abgehoben ansehen, weil sie sich nicht mit deiner Erfahung (und möglicherweise der deines sozialen Umfelds) deckt.

    Und es geht mir auch nicht um „Jammern auf hohem Niveau“ oder „im gesicherten Job eine ruhige Kugel schieben wollen“ (Zitat C.), sondern darum, dass ich zunehmend das Gefühl habe, dass der Mensch in unserer Gesellschaft immer mehr zum Schaf mutiert: Je widriger die Verhältnisse, um so größer die Bereitschaft, sich den Dingen zu fügen.

    Es kann und darf – verdammt noch mal! – nicht sein, dass es in dieser Gesellschaft ein paar Tausend gibt, die nicht wissen wohin mit ihrer Kohle (die bereits erwähnten Brüder Ferchau gehören mit ihren 1,2 Milliarden € Vermögen noch nicht mal zu den Top-100 der reichsten Deutschen), während Millionen andere (in diesem Land und anderswo auf der Welt) in Zeitarbeitsfirmen, Minijobs, Multijobs, Knochenjobs etc. schuften und dennoch nicht wissen, wie sie sich und ihre Familien über die Runden bringen sollen.

    Es kotzt mich, mit Verlaub, an, wenn ich z.B. abends aus dem Fenster gucke und sehe schräg gegenüber im hell erleuchteten BMW-Autohaus durch die Glasfront auf drei Etagen zwei Dutzend verschiedene Luxuskarossen funkeln. Dazwischen Catering-Tische und schick kostümierte Damen und Herren, die da „im gediegenen Ambiente“ das Firmenjubiläum ihrer Medienagentur (alternativ: Bank, Consulting-Unternehmen oder-was-weiß-ich) feiern. Und die eine Hälfte der Beteiligten ist offenbar so tumb und abgestumpft, dass sie gar nicht merken, wie unmoralisch und verlogen dieses Treiben gegenüber jenen (der Mehrheit der Bevölkerung) ist, die sich niemals trauen würden, einen Fuß in einen solch „heiligen Tempel“ zu setzen. Und die andere Hälfte der dunkel beanzugten Schafherde merkt es zwar, hält aber lieber das Maul. Man will ja schließlich nicht als Spielverderber gelten oder gar seinen Job aufs Spiel setzen. Am Morgen danach kommt dann ein Geschwader Blaumänner und -Frauen mit Wischmopps und poliert die Fettpfoten wieder von den Nobel-Limousinen. Schließlich sollen ja alle ihren Spaß dabei haben.

    Das, Claudia (deine Frage), meinte vermutlich Marx, wenn er sagte „das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein“ (obwohl er den bayerischen Luxuslimousinenhersteller nicht kannte). Ob und – wenn ja – was er/sie davon für sich gelten lässt, möge jede/r für sich selbst entscheiden (schließlich fahren ja Menschen mit Idealimus und Gottesfürchtigkeit/-gläubigkeit seit Jahrhunderten auch nicht ganz schlecht).

    Deine Überlelgung/Hinweis, mich doch selbständig zu machen, halte ich prinzipiell schon für drüber nachdenkenswert. Allerdings hätte ich momentan nicht mal ’ne Idee, wie und mit was (Technischer Zeichner [Maschinenbau] dürfte schwierig sein, ich kenne niemanden, der das macht; allein schon die Softwarelizenzen für zwei oder drei 3D-CAD-Programme, die man dafür braucht, würden mich jährlich wohl mehr kosten, als ich momentan verdiene [nicht zu vergleichen mit den Kosten der DTP-Programme, die du beispielsweise für deine Webseiten benötigst]).

    Und ich sperre mich vehement gegen den Gedanken, mit 51 „zu alt für den Arbeitsmarkt“ zu sein. Wenn das so ist und sich als wahr herausstellen sollte (noch kann ich es nur vermuten, habe aber gerade heute wieder zwei Absagen in meinem Mailpostfach gefunden), dann stimmt etwas nicht im sozialen Gefüge dieser Gesellschaft, dann knirscht es ganz gewaltig im Gebälk. Niemand (schon gar nicht ich) verlangt ernsthaft nach „Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit“. Aber eine Gesellschaft (unsere!), die sich immer mehr von der Zwei-Drittel- zur Ein-Drittel-Gesellschaft wandelt, in der es immer weniger gelingt (bezahlte) Arbeit und (im Überfluss vorhandene) materielle Güter gerecht zu verteilen, kann ja wohl nicht das Ziel sein …

    P.S.: Mit „einen netten Sub suchen“ meintest du hoffentlich einen Sub-Unternehmer/-dienstleister und nicht einen, den du in Kachelmann’scher Manier (zum Festpreis) mit der Reitpeitsche traktiertst ;-)

    @Uwe:
    Danke auch für dein Feedback. Und so ganz unfrei und am Rande stehend empfinde ich mich ja auch nicht. Im übrigen war es nicht meine Intention, irgend jemandem eines (oder mehrere) meiner „-Ismen“ aufzuoktruieren. Sollte das bei dir oder jemand anderem so angekommen sein, bitte ich um Entschuldigung. Selbst sehe ich es so: ich gebe etwas in die Runde (das durchaus auch ideologisch oder sonst wie gefärbt sein kann), und so lange Resonanz erfolgt, gehe ich davon aus, dass es nicht ganz falsch und/oder unbedeutend gewesen sein kann.

    Wenn man tiefer in die Materie eindringen würde, müsste man sich wohl auch mit der Frage auseinander setzen, wie man damit umgeht, dass die Kommunikationsstile von Menschen, die ihre Sozialisation in der Bundesrepublik erfahren haben und solchen, die in der DDR aufgewachsen sind, recht unterschiedlich sind. Das fällt mir (der ich seit nun 18 Jahren im „Westen“ lebe) immer wieder auf, sobald Gespräche über das Smalltalk-Niveau hinausgehen.

    Deinen letzten Satz finde ich sehr bemerkenswert (und schön formuliert).

  23. Nein, Peter, mich stört nichts von dem, was Du sagst und ich habe keineswegs das Gefühl, daß Du mir etwas aufoktruieren willst.

    Es stören Dich Dinge, die in mir nicht so starke Emotionen auslösen aber das ist ja klar, denn „Unterschiedliche Auffassungen, Weltanschaungen, Erfahrungen … sind was ganz normales“ :)

  24. Lieber Peter,

    auch mich stört gar nichts von dem, was du sagst – und auch nicht, wie du es sagst. Ganz im Gegenteil, ich kann deine Empörung sehr gut nachvollziehen und oft genug auch teilen. Und die „Systemdebatte“ hab ich ja explizit NICHT abgelehnt, dann jedoch auch eigene Jugenderinnerungen an diesselbe zum Besten gegeben (was du nicht auf dich beziehen musst!).

    Mein Freund Matt machte mich auch darauf aufmerksam, dass ich ja nicht den Kapitalismus verteidige, sondern den Sozialstaat (der mir viel Bewegungsfreiheit gab) – und er hat recht. Eine Alternative zum Kapitalimus (funktionierender und freier als die bereits ausprobierten) fällt aber auch niemandem ein.

    Gleichwohl sind wir mit der Kritik an den neoliberalen Ausuferungen der letzten Jahre nicht alleine, sondern sogar Mainstream, wenn man dem SPIEGEL glaube mag:

    Umfrage: Neun von zehn Deutschen fordern neue Wirtschaftsordnung.

    Dass es für dich nicht so einfach ist, dich selbständig zu machen, sehe ich auch ein. (Ich brauch ja nicht mal ein DTP-Programm, sondern code „händisch“… :-).

    @Uwe: klar, diese Bewegung im Kreis sehe ich auch – mit Abstrichen. Denn mein Vater war durchaus „das Leben im Reichtum gewöhnt“. Das war allerdings lange vor meiner Geburt. Er war Prager-Deutscher, Sohn eines stinkreichen Konzernlenkers mit 145 Firmen in aller Welt. Wurde vom Chauffeur zur Schule gefahren und erzählte später uns Kindern immer gern von den Koffern voll Geld, die man in jenen Zeiten gerne mit sich führte. Dann aber die Vertreibung, der Fall ins Nichts, Not-Abi für meinen Vater und Kriegseinsatz + anschließend Gefangenschaft. Und irgendwann später dann BAT 9d in der Abteilung Hollerith im Statistischen Bundesamt, wo er bis zur Frühpensionierung blieb und uns Kindern vermittelte, Geld sei das einzig Entscheidende im Leben. Wogegen ich natürlich in Opposition ging…

    Ich bin ja gespannt, ob wir nochmal eine drastische Veränderung erleben – angesichts der allgemeinen Entsolidarisierung fürchte ich diese aber auch. Eine Thema für einen extra Beitrag!

  25. @Uwe:
    Na denn is ja jut. Ich habe mir angewöhnt, zumal ich öfter „gegen den Strom schwimme“ (nicht nur in Webforen), mich besser einmal zu viel zu entschuldigen als einmal zu wenig. Dabei breche ich mir keinen Zacken aus der Krone, und man kann sich beim nächsten Mal wieder auf Augenhöhe begegnen. Bis dahin.

    @Claudia:
    Wenn man zwischen Kapitalismus und Sozialstaat (von dem ja auch ich demnächst möglicherweise – leider – wieder zu profitieren habe) differenziert, wird’s klarer. Guter Gedanke, dem kann ich mich anschließen.

    Bin auch mal gespannt, ob wir noch Veränderungen in diesem Land erleben werden, die über die „Systemkosmetik“ der letzten 20 Jahre hinausgehen. Der Sozialismus ist wohl (vorerst!) „verbrannt“, und Deutschlands „Chefanarchist“ Horst Stowasser hatte lange vor seinem Ableben im vergangenen Jahr (wenige Wochen davor hatte ich noch das Vergnügen, ihn live zu erleben) schon der Anarchie abgeschworen. Die Hoffnung – immerhin – lebt aber noch!

  26. Die Hoffnung kann der Motor sein, mich zu engagieren.
    Schön, dass sie noch lebt!
    Nicht mehr so euphorisch gefühlt wie in den Zeiten der
    bewegten Endsechziger. Die Widersprüche geschlossener
    Systeme wie Real Existenzierender Sozialismus oder
    Neoliberalismus schreien geradezu nach einer neuen Qualität.
    Vom Entweder-Oder zum Sowohl-als-auch?
    Wie damals fange ich bei mir selbst an mit dem „anarchistischen Gefühl“, mein Leben selbst steuern zu
    wollen und nicht als Sklave von Niedriglohn-Outsourcing-Absahnern
    fristen zu müssen, nicht, von der Geilheit nach Geld und unnötigem Konsum getrieben, mich in die Abhängigkeit von Banken begeben zu müssen und vieles mehr.
    Meine Empathie für andere, die unter den System-Widersprüchen leiden, und die schöne Welt, deren Lebensgrundlagen es zu erhalten gilt, lässt mich meine Anliegen finden, wo ich mich mit meinen Stärken einbringen kann in Projekte, die mir sinnvoll
    erscheinen. Dass ich die Welt nicht alleine retten kann
    soll mich nicht lähmen können. Wenn ich gar nix tun würde, wäre das Gefühl weitaus bedrückender für mich.
    Es geht nicht um Systemkosmetik, es geht um eine andere, neue Qualität.
    Die kann sich ergeben, wenn wir unseren Part übernehmen und
    die Trends nicht den Gewinnoptimierern alleine überlassen.
    Das ist meine Hoffnung, gerade wenn ich die Seite und die Vielfalt der Kommentare lese.
    Danke dafür, sie helfen mir bei meiner eigenen
    Standortbetimmung und Visionssuche.

  27. Auf die Gefahr hin, als böse Hexe verschrien zu werden – aber zu dem letzten, unter ‚indy‘ laufenden Kommentar habe ich nur einen:

    was für ein hirnloses Gebrabbel!

    Und nehme zur Entlastung der eigenen Gefühlswelt mal an, daß es sich um einen Robotertext handelt, der aus Versatzstücken anderer Texte gebastelt und zielgruppengenau kompiliert wurde.

  28. Welche Zielgruppe?
    Gruß vom Roboter

  29. Ich nenne sie bei mir immer ‚Die-böse-Mädchen-Jungs‘

  30. Ich schaue mal nach bei Dir

  31. @Susanne:
    Philosomaten, Spiritumaten, Esomaten … nennt man diese nützlichen kleinen Roboter. Ich bediene mich hin und wieder ganz gern meines Marxomaten, wirklich praktisch so ein Teil.

    @Indy:
    Wenn du in deinem Positivomaten, bevor du ihm den Text per copy and paste entnimmst und hier reinstellst, das Häkchen bei Format/Zeilenumbruch weg machst, passt schon mal die Form. Und du wirst sehen, der Inhalt folgt alsbald – von wegen der Hoffnung, die noch lebt ;-)

  32. @Peter:

    Ich glaube eher, das Ding heißt ‚Bewerbomat‘ und hilft womöglich tatsächlich Absolventen der Kommunikationswissenschaften, sich dort anzupassen, wo so etwas als dernier cri bezeichnet würde, wenn diese Worte nicht aus dem Französischen entlehnt wären, was zu heftig nach yesterday’s papers röche statt nach flow.

    Wirklich current wärst du allerdings wohl nur, wenn du es als applyForApp auf deinem eiFohn hättest.

    Gott, was rege ich mich auf, die Sonne scheint..

  33. @Susanne:

    Für all das bin ich wohl nicht smart und systemkompatibel genug, als dass es mir hülfe.

    Allerdings, du wirst’s nicht glauben: Manchmal menschelt es sogar auch in dieser Welt noch. Denn als ich unlängst bei einem großen Coburger Autozulieferer anrief, um mich nach dem Stand meiner Bewerbung (händisch und ohne …mat verfasst) zu erkundigen, meldetete sich am anderen Ende der Leitung statt der von mir erwarteten jungdynamischen Teamassistentin (welche früher, als sie noch nicht über einen betriebswirtschaftlichen Hochschulabschluss zu verfügen und in mind. drei Sprachen „verhandlungssicher“ zu sein hatte, Sekretärin genannt wurde) eine der Stimme nach ältere Frau in breitestem oberfränkischen Dialekt (mich hat’s vor Rührung beinahe vom Hocker gehau’n).

    Naja, die Absage jedenfalls kam dann ein paar Tage später (um meine Innenwelt wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen!) doch wieder gewohnt wohlfeil formuliert und mit „Kind Regards“.

    „@all“ dasselbe und sonniges WE.

  34. hihi, sind wir nicht alle solch Automaten. Und sind wir nicht noch stolz darauf und nennen das Überzeugung, eigene Meinung, ‚mein Verstand‘. Leg ich mir wirklich Rechenschaft darüber ab, welches Denkwerkzeug ich einsetze und warum ich am anderen vorbeirede. Er hat ganz unrecht, denn er verwendet ein anderes Denkwerkzeug. Aber seid ehrlich. Wie ist das anders zu machen. Für Vorschläge währe ich dankbar.

    Ottmar

  35. Keine Ahnung, was Ihr für Probleme mit Indys Text habt! (Danke, Indy!) Es gibt durchaus Menschen, die ihre Kommentare aufgrund Verschwinde-Erfahrungen in anderen Editoren schreiben – und dann halt die Umbrüche ungewollt mitimportieren!

    Inhaltlich hab ich da nix auszusetzen.

    „Meine Empathie für andere, die unter den System-Widersprüchen leiden, und die schöne Welt, deren Lebensgrundlagen es zu erhalten gilt, lässt mich meine Anliegen finden, wo ich mich mit meinen Stärken einbringen kann in Projekte, die mir sinnvoll erscheinen.“

    Ja, genau so. Im Moment bin ich grade in Richtung „Bäume erhalten“ leidhaft sensibilisiert (gestern wieder! Man schaue ins MoMag!) Und auch das Thema Ernährung („Tiere essen“) treibt mich zunehmend um und nimmt schon Einfluss auf meinen Speiseplan.

    Wo man nichts fühlt, kann man schlecht aktiv sein. Ein Meta-Thema neben den Einzel-Themen ist also auch der Umgang mit Gefühlen: wehre ich negative Gefühle rundweg ab (=dickes Fell) oder bleibe ich sensibel, setze mich dem Leiden anderer aus?

    Am liebsten hätte man da gerne einen Schalter, den man wiederum nach Belieben an und ausschalten kann. Ist aber auch eine Sackgasse, denn wenn man ihn gefunden hat, mangelt es an der Motivation, ihn nochmal einzuschalten…

  36. Wow!!! So ein schöner Rückblick und Ausblick. Am meisten gefällt mir die Aussagen: ICH WILL NÜTZLICH SEIN. Das ist der absolute Kern für mich. Es ist schön, wenn man etwas bewegen kann, Spuren zu hinterlassen und Dinge positiv zu beeinflußen, jenseits von Geld und Ego.

    Ganz nach dem Motto: „Ich kann nicht die ganze Welt verändern, aber meinen kleinen Bereich in dem ich lebe, wohne und mein soziales Umfeld habe. Hier kann jeder beginnen.“ Und wenn viele so denken, dann kommt eine echte Veränderung in Gang. Und das Netz, insbesondere Blogs sind so ein große Hilfe und Unterstützung.

    Wir wissen nicht, was in 18 Jahren ist oder manche fragen sich, ob sie 2012 „überleben“. Aber das ist egal, wenn wir bereit sind, den Moment zu leben und Dinge positiv voran zu bringen.

    Mach so weiter und BLEIBE NICHT SO WIE DU BIST.
    Namaste‘

    Silvio

  37. Nach der unerwarteten Reaktion auf meinen Kommentar, habe ich ihn selbst nochmal reflektiert. Was ich aussenden
    wollte wurde wohl von manchen als Schönfärberei und Aneinanderreihung von Versatzstücken und Worthülsen empfangen und mit allen möglichen Absichten verknüpft.

    Zugrunde lag meine Denkart, mit der ich selbst das Leben
    bewältigen kann in den Verhältnissen, die existieren und die sich wandeln.
    Beeinflusst war meine Schreibweise sicher durch vorhergehende Texte, die ich fertigte.
    Das wurde mir durch den „Verriß“ bewusst.
    Beispiel:
    Ich erstellte aus persönlichem Engagement für eine nahe Angehörige Konzepte und andere Texte für eine Initiative zur Einrichtung von Demenzwohngruppen.
    Dabei witzelten wir oft über die Textvorschläge, weil alles unter dem Leitbild Pflege und Betreuung mit Kompetenz und Herz und einem Lächeln stand und zu glatt und harmonisierend wirkte.

    Mein Positivomat ist wohl seitdem drauf programmiert, weil er in letzter Zeit etliche ähnliche Aufgaben hatte.
    Die vorhergehenden Zweifel, die meinern Texten vorausgehen, glättet er vielleicht zu automatisch.

    Was die Denkwerkzeuge betrifft, die Ottmar anspricht:
    Ich kann drüber reflektieren und einen Austausch mit
    jemand machen, wenn er/sie das selbst möchte. Ich kann dann selbst nachfragen um ihn/sie besser verstehen zu können und umgekehrt selbst besser verstanden zu werden eventuell.
    Ich kann das aber auch vermeiden und jemand in eine mir bekannte Denkschublade stecken.

  38. @Indy: es freut mich, dass du dich nicht hast verschrecken lassen und selbst nochmal nachgedacht hast, woran es wohl gelegen haben könnte!

    @alle:
    Für mich ist das grade recht lehrreich, hebt es doch ein Problem deutlicher ins Bewusstsein, mit dem ich auf jeden Fall umzugehen haben werde, wenn ich mein angedachtes Mag/Blog rund um „anders/besser leben“ tatsächlich beginne.

    Das Wort „Positivomat“ passt da gut und steht für eine Kommunikationsweise, die Negatives/Störendes ausblendet und sich auf Ermunterndes beschränkt, das motivieren soll, aber bei vielen grad den gegenteiligen Effekt hat (Indys Beitrag fand ich in der Richtung gar nicht so krass – da kenn ich viel viel Heftigeres!).

    Das Buch "Tiere essen", das ich grade lese, ist ein super Beispiel, wie es anders geht. Der Autor beginnt mit seiner eigenen Geschichte, in der es mehrere Vegetarier-Phasen gab, die er auch immer wieder hinter sich ließ: weil er Fleisch gerne ißt, weil es bequemer ist und nicht aneckt, und und und – eine Geschichte, mit der man sich ganz leicht identifizieren kann. Denn wer hat nicht (zumindest in der Jugend) so ein paar „Jetzt-mach-ich-alles-ganz-anders-Phasen“ erlebt? Inkl. des Verblassens des Engagements, des Scheiterns an den eigenen Ansprüchen etc. usw.

    Dann folgt erstaunlicherweise ein Kapitel mit einem Plädoyer für den Verzehr von Hunden: nicht etwa als aggressive Satire oder bös-zynisches Rumwitzeln, sondern ganz rational und mit vielen Infos durchdekliniert. Am Ende merkt er dann an, dass Astronomen gerne an etwas „vorbei sehen“, wenn es nicht richtig zu erkennen ist – denn in den Randbereichen der Scharf-seh-Zone der Augen sind die lichtempfindlichsten Stellen. „Über Hunde nachzudenken und über ihre Beziehung zu den Tieren, die wir essen, hat etwas von diesem Vobeischauen, um so das Unsichtbare (=am Thema Tiere essen) sichtbar zu machen“.

    Das nur mal als Beispiel, wie man „Positivomat-Sein“ gut umschiffen kann, bzw. dessen Gegenteil, das aggressiv-fanatische selbstgerechte Besserwissen und Angreifen anderer als böse immer-noch-Sünder.

  39. In meiner eigenen Denkweise blende ich das Negativ-störende gar nicht aus, es bedrückt mich anfangs eh‘ meist viel zu sehr und ich fühle mich oft handlungsunfähig.
    Es ging ja in deinem Thread um Standortbestimmung und das Fokussieren auf deine Prioritäten, wenn ich es richtig verstanden habe.
    Ich hatte dann in meinem Kommentar nur verkürzt und geglättet das vorläufige Ergebnis meiner eigenen Überlegungen dargestellt, das mich selbst handlungsfähig macht, ohne an dem ganzen Leid zu verzweifeln.

    Den für mich selbst mühsamen Prozess hatte ich im Kommentar nicht dargestellt.
    Ich möchte meine Vorgehensweise und Eigenmotivation nicht aufdrängen, ich weiß wohl, dass sich andere durch Zweckpessimismus selbst besser motivieren können oder andere Motivationswerkzeuge einsetzen.
    Bei der Präsentation meiner Gedanken lerne ich gerne dazu, weil ich selbst nicht professionell schreibe.
    Ich möchte sicher nicht so schreiben, dass ich alle möglichen Widerstände ausschließe – ich möchte aber
    weniger Missverständnisse provozieren durch meine Schreibweise.

    Beispiel:
    Schlüsselworte wie Empathie können bewirken, dass ich als Esoteriker eingeordnet werde.
    Diese Gefahr sehe ich durch Kommentare von Peter.
    Ich habe sicher bei Esoterikern gelesen, ich habe auch Karl Marx wiederholt gelesen, ich habe lösungsorientierte Therapien kennengelernt und vieles mehr.
    Dies alles fließt sicher in meine Denkweise ein, ohne dass ich mich selbst als Marxist oder Esoteriker einordnen möchte.
    Ich kann ein Problem das ich habe, mit mehreren „Methoden“ durchspielen, zum Beispiel mit der Methode des Inneren Teams. Ich stelle mir dann vor:
    Was würde mir ein mittelständischer Unternehmer dazu sagen,
    was würde mir ein Marxist dazu sagen,
    was würde mir eine Susanne dazu sagen,
    was würde mir ein systemischer Therapeut dazu sagen.
    Ich sammle dann diese Beiträge meines „Teams“, denke selbst drüber nach und fokussiere.
    In Threads kann ich oft ein Inneres Team sehen, wenn ich die Kommentatoren in Ihrer Vielfalt lese.
    Ich muss mir dann weniger vorstellen, was mir der oder diejenige wohl sagen würde, ich lese es.
    Warum schreibe ich soviel zu meiner Rechtfertigung?
    Hat es mich verletzt?
    Kann ich daraus lernen?
    Beides!
    Und letzteres sollte mehr Raum bekommen in meinem „Positivomaten“, für den ich noch kein anderes Wort gefunden habe.

  40. @Indy: ich freue mich, dass du hierher gefunden hast. Es gibt nicht viele Menschen, die „mal eben so“ im Stande sind, eine Verletztheit zuzugeben – in einem Kommentarthread völlig fremder Menschen!

    Was ist eigentlich „Zweckpessimismus“? Ein Pessimismus, der sich als Realismus ausgibt, zum Zweck des nicht-enttäuscht-werden-wollens – oder? Wie könnte der motivieren? Ich sehe das eher als Abwehr „schlechter“ Gefühle (Machtlosigkeit), nicht als Möglichkeit der Motivation.

    Du hast recht, mir gehts grade um Prioritätenfindung: etwas Neues machen, mich einem Thema verpflichten.

    Das „innere Team“ ist mir vertraut, ohne dass ich das jetzt explizit so benennen würde. In meinen Schreibkursen haben wir mit dem „inneren Kritiker“ gearbeitet, auch der innere Sklaventreiber ist mir bekannt und lange schon das „innere Kind“.

    Ich konnte anderen recht gut mit solchen Methoden Anregung geben – selber warte ich aber auf etwas anderes. Keine Ahnung auf was, vielleicht auf die „Kraft des Augenblicks“, auf eine plötzliche intuitive Entschlossenheit. Und langsam deucht mir, dass so etwas in meinem Alter vielleicht einfach nicht mehr kommt!

    Das kann man beklagen, vielleicht aber auch positiv sehen: ich bin nicht mehr getrieben, tue nichts mehr nur um „jemand“ zu sein – sondern muss (kann!) den Weg einfach selber wählen, werde nicht mehr von unbewussten Kräften gedrängt – aber eben auch nicht getragen.

    „Ich sammle dann diese Beiträge meines “Teams”, denke selbst drüber nach und fokussiere.“

    Was bedeutet „fokussieren“ konkret? Klar kenne ich die Wortbedeutung, aber wie findet das bei dir statt? Wägst du ab, was die Teammitglieder sagen? Gleichst es mit Werte-Skalen ab? Oder weißt du auf einmal, wo es lang geht?

  41. @Claudia:
    Danke, dass Du diesen Raum moderierst!
    Ich habe ihn über die Wildgans gefunden.
    Ich vermutete, dass es eine Art „Denkwertstatt“ ist, wo Versuch und Irrtum möglich ist im Diskurs mit anderen.
    Wenn ich „Aua“ sage und nicht die Zähne zusammenbeiße im Moment, in dem ich einen Tritt ans Schienbein spüre,
    hilft es mir selbst. Ich war überrascht, dass so eine brilliante „Spielerin“ wie Susanne mir dort hintritt.
    Vielleicht war es aber für mich hilfreich, weil ich mir den Ball einfach zu weit vorgelegt hatte.
    Das soll kein Zurücktreten gegen Susanne werden!
    Ich freue mich sehr, dass Sie hier auf ihre Art mitspielt!

    Was dein Warten auf eine eventuelle intuitive Entschlossenheit betrifft:
    Rückfrage: Sehe ich es richtig, dass es eine Umbruchsphase
    zwischen zwei Lebensphasen, eine Art „neue Pubertät“ ist?
    Ich selbst fühle das für mich so. Ich war im Jahr 1968 siebzehn Jahre und sehr „bewegt“.
    Nachdem ich Jahrzehntelang in Aufgaben steckte, die mein Leben füllten, denke ich selbst schon geraume Zeit darüber nach, was ich im Alter machen möchte, wie ich leben möchte und welche Aufgaben ich mir antun möchte. Die Geburt dieser neuen „Visionen“ ist in meinem Falle ein mühsamer Prozess.
    „Vision“ nicht verknüpft mit Prophetentum oder Esoterik!
    „Vision“ im Sinne von Anliegen, Aufgaben, die mir sinnvoll erscheinen und auch für mich mögliche Lebensweisen!
    Ich selbst fand heraus, dass ich berufsbedingt (technischer Beruf) sehr kopfgesteuert bin, bzw. dass ich intuitive
    Fähigkeiten völlig verloren hatte.
    Ich brauchte erst eine Weile um das wieder zu trainieren.
    Dabei kam ich auf Techniken, die das fördern können.
    Neugierig, wie ich bin, probierte ich verschiedene Techniken aus und kam durch Versuch und Irrtum auf ein mir selbst hilfreiches Repertoire.
    Umrisshaft kenne ich meine Aufgaben, die ich mir antun möchte für die bevorstehende Lebensphase des Alters.
    Meine Kinder sind erwachsen geworden und es entsteht eine Lücke, bzw. ein Freiraum für mich.

    Was Deinen Fragenkomplex zum Thema „Fokussieren“ betrifft:
    Je nach untersuchter Problematik wähle ich aus meinem Repertoire an Werkzeugen diejenigen aus, die ich dazu
    benötige.
    Grob gesagt: Verstand, Intuition, Gefühlsbarometer, manchmal auch Wertekatalog.
    Ich bin wohl ein eher visueller Mensch und mir helfen
    oft große Papiere, in denen ich Fakten, Gedankengänge meinerseits und meines „inneren Teams“ aufschreiben kann.
    Ich kann dann beim Lesen dieser aufgeschriebenen
    Schlagwörter und Sätze manches einkreisen.
    Ich kreise ein, was mich begeistert und ich kreise ein, was ich als großes Risiko sehe. Die Nebenaspekte sind dann Thema
    bei einer etwaigen Realisation.
    Zwischendrin gehe ich gerne in die Natur (z.B. Garten, See, Berg) wegen der
    Entspannung, Bewegung und wegen Intuition.
    Ich habe danach eingekreiste Schlagwörter und Sätze, die ich dann wieder überdenken, verknüpfen und einkreisen (fokussieren) kann.
    Wenn es klappt, erkenne ich endlich die „Lösung“. Sie kann mein „Leitbild“ werden.
    Du weißt, es gibt hunderte von Anleitungen dazu.
    Es gibt auch einen kritisch zu betrachteden Markt dafür, der Menschen fit und systemkompatibel machen soll oder ihnen fragwürdige Heilsversprechungen suggeriert.
    Ich scheue mich selbst wenig Werkzeuge zu nutzen, die andere zu möglicherweise anderen Vorhaben nutzen.
    Abschließend gesagt:
    Ich selbst tue mir oft schwer, herauszufinden, wo es genau lang geht!
    Das einzige was ich für mich weiß:
    Resignation ist keine Alternative für mich, damit kann ich nicht leben, trotz harter Fakten und harter Realität.
    In diese Richtung führt mein eigener Weg.
    Das brauche ich für mich als „Sicherheit“.

  42. @indy

    Ich will gerne versuchen, meine schroffe Ablehnung des Textes ein wenig deutlicher zu machen. Und zwar an einem Beispiel, das mir persönlich die Augen für die Problematik geöffnet hat und dessen Gegenstand anscheinend nicht ganz fern liegt.

    Ich besuche seit einiger Zeit Bewohner von Altenheimen, die von Angehörigen selten oder gar keinen Besuch zu erwarten haben. Das wird von der Pflege sehr gern gesehen (auch aus ökonomischen Gründen, es spart Stunden der teuren Beschäftigungstherapeuten und außerdem können solche freiwilligen Helfer immer mal wieder via Gewissensmassage als billige Arbeitskräfte bei Feiern und diversen personalintensiven Aktivitäten und sogar bei Notfällen eingesetzt werden, auch wenn das natürlich nie offiziell zugegeben würde.) Und es ist etwas, das ich anfangs uneingeschränkt positiv sah. Mein Gott, dachte ich ziemlich naiv, die müssen sich doch einfach freuen, die armen Seelen, daß überhaupt jemand zu ihnen kommt. Und ich kann doch so sonnig und fröhlich sein und bringe ihnen Leben und Licht in die gräßlich düstere Bude. Wie wunderbar (von mir)!

    (Das zu: „Meine Empathie für andere, die unter den System-Widersprüchen leiden, und die schöne Welt, deren Lebensgrundlagen es zu erhalten gilt, lässt mich meine Anliegen finden, wo ich mich mit meinen Stärken einbringen kann in Projekte, die mir sinnvoll erscheinen.““)

    Nun also. Viele (ha, was sage ich, eigentlich alle!) meiner Besuchten sind dement, in verschiedenen Stadien der Demenz. Sie erkennen mich selten wieder. Verwechseln mich mit Menschen, die ihnen viel wichtiger und präsenter als ich sind (ihre Freunde, Partner, Kinder, Geschwister und Eltern, die alle noch in ihnen leben). Sie denken nicht im Traum daran, mich etwa zu loben, weil ich sie besuche und nach einer Stunde oder so wieder gehe und sie nicht mit ins Leben zurück nehme (was sie mir zu Recht übel nehmen, haben sie auch nur einen Funken Verstand im Leibe behalten). Sie freuen sich nicht, wenn ich ihnen etwas mitbringe, womit sie nichts anfangen können oder das ihnen nicht gefällt, etwa weil ich keine Zeit erübrigt habe, genauer darüber nachzudenken, was ihnen Freude machen könnte. Und endlich – und das war für mich wirklich schwer zu akzeptieren – haben sie sogar Angst vor mir, wenn ich mit meiner munteren Unbeschwertheit (wie ich sie Kindern und Kranken und Verrückten entgegen bringe, wenn ich nicht nachdenke) und dem sonst so wirksamen hektischen Staubaufwirbeln (damit nur ja nichts an mir kratzen kann!) ihre Mängel hinweg schieben zu können glaube. Und aus dieser Angst heraus werden sie dann gemein, beleidigend, bösartig bis beinahe gewalttätig und absolut gar nicht immer nett zu mir!

    Das hat mich schwer getroffen, bis eine in meinen Augen sehr kluge Pflegekraft mir klar machte, was da eigentlich passiert.

    Sie sagte, ich solle mir vorstellen, mein Auto stünde nicht auf dem Parkplatz, wenn ich gleich wieder hinaus ginge. Und wenn ich herein käme und fragte, ob jemand mein Auto weggefahren habe, dann würde man mich mit großen Augen anschauen und mir ausweichende Antworten geben und mir erst einmal einen Kaffee aufdrängen und meine Haare loben. Bis ich langsam auf den Verdacht käme, daß alle außer mir glaubten, ich wäre gar nicht mit dem Auto gekommen und bildete mir das nur ein. Und das, sagte sie, würde mir ein dutzend Mal jeden Tag passieren. Und dann käme immer wieder jemand herbei, der sich plötzlich zu mir setzte und sagte: „Susannchen, ist doch alles nicht so schlimm, mach dir keinen Kopf, schau wie schön die Sonne draußen scheint, und hier habe ich eine wunderbare Tafel Schokolade für dich, ach natürlich magst du Schokolade, jeder mag die, komm, wir schneiden zusammen ein Stück für dich ab und dann spielen wir Kegeln in der BT mit dem freundlichen Herren von nebenan, das hat dir doch gestern so viel Spaß gemacht, sicher kennst du den, den hast du doch immer gern gehabt, nun zieh dir deine Lieblingsjacke an, ja, wo hast du sie denn, nein, die doch nicht, die da, genau das ist sie, doch sicher, und nun los, sonst sind alle schon wieder zu Bett gegangen!“ Und ob ich dann nicht vielleicht zornig würde, tief innen drin, und wenn das nichts nützte, womöglich sehr ängstlich, weil es könnte ja sein, daß die anderen Recht haben und ich wäre mit dem, was ich glaubte, für immer ganz mutterseelenallein. Und ob sich dann nicht alles verdüstern würde für mich und ich niemanden mehr sehen und nur noch in mir sein wollte und nichts wäre gut?

    Ich habe mir das angehört und darüber nachgedacht und habe als Antwort gefunden: Ja!

    Diese Besuchten leben in einer Welt, die nicht schön ist. Und aus der es nur noch einen Ausweg gibt. Meine Stärken verpuffen darin. Und selbst wenn ich eine ganze Woche nur darüber nachdächte, was ich am Freitag mit Frau Z. anstellen werde, und wenn es dann auch sehr gut würde und alles schiene hell und schön – am nächsten Freitag wird sie mich vielleicht nicht kennen und mich kratzen oder sich gar verstecken, sobald sie mich sieht. Und jeden Freitag wieder, bis sie stirbt oder ich nicht mehr komme, um das nicht mehr miterleben zu müssen.

    Soweit ich das beurteilen kann, gibt es nur eines, was Demenz einigermaßen begrenzen kann: ein selbstbestimmtes Leben mit körperlicher Beweglichkeit, so lange es irgend noch geht. Alltägliche Routinen aus dem eigenen Leben und nicht die einer neuen Umgebung wie ein Heim oder einer mobilen Pflegekraft, die erst einmal die Wohnung umorganisieren muß, damit sie ihren engen Zeitplan einhalten kann. Selbst das ist vermutlich nur eine Art Aufschub. Etwas, das in diesem Gesundheitssystem des Wegsperrens und Ausgrenzens des nicht Bezahlbaren und der Dominanz des BWL-Kalküls über Menschen, die das Geld nicht haben, zu kaufen, was allein ihnen hülfe, eine schiere Unmöglichkeit ist. Das Projekt, hier und heute in diesem Punkt auch nur einen Ansatz zu einer gesellschaftlich spürbaren Verbesserung zu erreichen, gibt es in dieser Gesellschaft nicht und wird es in keiner Gesellschaft geben, in der Pflege gekauft werden muß. Selbst ein Puff ist dagegen ein Ort der Humanität! Aber das ist ein anderes Thema.

    Vor allem muß ich, damit keiner mich mißversteht, noch eines betonen: daß es mit der Altenpflege überhaupt nur noch irgendwie geht, liegt allein am Personal. Menschen, die für einen Appel und ein Ei (Entlohnungen, die so lachhaft sind, daß kein Besserwisser aus besserverdienenden Kreisen seinen Terrier dafür arbeiten schicken würde, und was das angeht, kennen diese Menschen keine Verwandten!) ihren Körper und ihren Geist zerrütten (den Arbeitsbedingungen und -zeiten nach und der Wirkung des Elends, das sie täglich mit ansehen müssen!) und dabei stets mit einem halben Bein im Gefängnis stehen, falls ihnen der geringste Fehler unterläuft (und das ohne die Pflaster der Boni und Übergangszahlungen). Aber genug Galle verspritzt!

    Was ich damit sagen will ist, daß es Problemfelder gibt, da geht es nicht darum, die eigenen Stärken in Projekte einzubringen, die mir sinnvoll erscheinen, sondern nur darum, etwas zu tun, was nach den Kriterien und Notwendigkeiten anderer Menschen sinnvoll ist. Und womöglich nicht einmal sinnvoll, weil es vielleicht gar nichts mehr bringt. Sondern bloß getan werden muß, weil es nichts anderes gibt. Das – oder es sein zu lassen, wenn mir meine Zeit dafür zu schade ist.

    (das zu: “Es geht nicht um Systemkosmetik, es geht um eine andere, neue Qualität.“)

    Außer daß ich mit meinen Besuchen mächtig angeben (wie gerade jetzt) und ggf. herausgeben kann, falls mich jemand als nichtsnutziges Luxuskätzchen versucht hinzustellen, bringen sie mir in den Fällen fortgeschrittener Demenz persönlich kaum etwas bis gar nichts. Im Gegenteil, manchmal deprimieren sie mich auch in den Fällen ’normaler‘ Demenz ganz gewaltig. Nur dort, wo Demenz kaum zupackt, kann ich mein persönliches Interesse, das sich anfangs darauf richtete, Biografien zu sammeln und ggf. zu retten, befriedigen. Ein Interesse, das durchaus selbstsüchtig ist, auch wenn es wohlwollend als therapeutischer Ansatz in der Altenpflege betrachtet werden kann.

    Und bevor einer glaubt, ich wäre besonders edel: Ich schwänze auch mal einen Besuch mit Hilfe fadenscheiniger Gründe oder freue mich heimlich, wenn einer wg. Krankheit abgesagt wird. Viele Besuche mache ich nur, weil ich mich schämen würde, bliese ich sie ab. Und spiele dennoch oft mit dem Gedanken, es einfach zu tun. Und natürlich sonne ich mich eitel im Lob aus den Reihen der Pflege, obwohl ich weiß, die würden mich noch loben, wenn ich meine Besuchte ans Fenster schöbe und auf ihrem Bett eine Stunde lang Chachacha tanzte. Naja, jedenfalls fast.

    MfG Susanne

  43. Was mir zu schaffen macht, ist, dass ich in meiner Jugend nicht gelernt habe, für Dinge und Ansichten einzustehen. Immer hieß es, komm, sei ruhig, des Friedens willen. Wir haben genug durchgemacht.

    Wenn ich heute in der Tram oder auf der Straße Unrecht zusehen muss, und es mir immer noch nicht möglich ist aufzusteh`n und ich in meiner Feigheit erstarre – dann möchte ich mich im Anschluss eigentlich selbst nur noch fortwerfen oder mein Selbst erspeien. Schon diese einleitende Erklärung widert mich Selbst an.

    Für mich selbst macht es auch keinen einen Unterschied, ob jemand in der Straßenbahn von Springerstiefeln zusammen getreten wird, oder ob verbal „zugeschlagen“ wird. Das zweite trifft härter und beides hat für mich die gleiche zerstörerische Wirkung, und besonders dann, wenn mit einem brillanten Hirn und einer hohen Sprachbegabung 1000 andere Variationen gegeben hätte, das, was ausgedrückt werden will, hier mitzuteilen.

    Respekt, @Indy, ich hätte das nicht so souverän meistern können, wie du. Und wenn Peter meint, hier würden nur Leser vorbeischau`n, denen sich ein Inhalt nur durch ein richtig gesetztes Zeilenumbruchhäckchen erschließt, bin ich anderer Meinung.

    Wenn du, Claudia, über anders/besser leben nachdenkst und auch irgendwie das zu meinem Thema des gemeinsamen Lebens gehört, dann denke ich, passt noch mal zum Thema Fleisch/Vegetarierer und überhaupt der alte Griechenspruch:

    Schau NICHT was du isst, sondern mit WEM du isst.

  44. @ Susanne:
    Den Auslöser der Kontroverse, Kom. vom 19.08.10, fand ich echt schräg. Aus der Hüfte geschossen, weil die persönliche Stimmung gerade nach Blut lechzte und da kam Indy gerade recht. Indy war dann ein willkürliches Opfer, weil Karl May Assoziationen im Kopf die Oberhand gewannen und der gequälte Frauennerv schrie nach einem Skalp und der von Indy war spontan im Blickfeld und passte. Mit dem folgenden Kommentar konnte ich auch nichts anfangen und der „Susanne überspringen“ Gedanke tauchte im Wartemodus auf.

    Aber mit dem heutigen Kommentar vom 23.08.10 ist diese Denkhaltung gelöscht. Das ist ein verdammt starker Text, den ich fertig gelesen habe. Und das ist dann bei der Länge, eine Wertung für sich auf meiner Skala. Diese Mischung aus Offenheit und realistischer und nachvollziehbarer Textveredlung, würde bei den vom Thema Betroffenen sicher einen AHA-Effekt auslösen. Einen Effekt, welcher sicher sehr hilfreich im Umgang mit Erlebnissen und Verletzungen wäre.

    Wie so oft bei Blog Diskussionen, hat die Dynamik der Debatte – für mich – vom Startthema weggeführt, aber ich jetzt bin ich gar froh wie es gekommen ist sonst wäre es nicht zum Extraklasse Beitrag gekommen. Danke Susanne.

  45. Auch mich hat der Text von Susanne sehr nachdenklich gemacht und sehe das Ausmass erstmals in dieser Deutlichkeit. Es ist schlimmer, als ich dachte. Laß diesen Kelch an mir vorüberzieh`n.

  46. Ja, ein wahrlich beeindruckender Text, Susanne! Ich bewundere dich für dieses Festhalten am Engagement!

    Nachfrage: Einerseits sagst du, da sei überhaupt nichts zu machen im Sinne positiver Veränderungen. Andrerseits steht da der Satz: „die das Geld nicht haben, zu kaufen, was allein ihnen hülfe“. Was wäre das?

    Es gibt den Trend zur Alten-WG, durchaus auch unter Einbeziehung Dementer. Den finde ich persönlich gut, denn große Heime sind ja schon strukturell als Umgebung unangenehmer als kleine Einheiten.

    Ich bin mal einige Zeit bei einem Verein „Freunde alter Menschen“ ehrenamtlich aktiv gewesen. Durfte aber erstmal nicht besuchen, sondern nur telefonieren: eine Liste mit diversen Alten, die keine Besuche wünschten. Da traf ich einige, die das im Grunde nicht gebraucht hätten, andere aber waren derart mies drauf, dass ich gut verstand. dass Sozialkontakt nur noch tröpfelnd zustande kam. Und nicht immer schien es an Krankheit oder Behinderung zu liegen, sondern auch an einer psychischen Versteinerung und Verbitterung, deren Gründe ich in einem halbstündigen Telefonat nicht erfuhr. Meine Motivation erhielt da auch alsbald einen deutlichen Dämpfer! Denn mir kam schnell der Gedanke: verdammt, wenn die das auch noch als Belästigung empfinden, warum soll man sie überhaupt anrufen?

    Ich finde, niemand sollte ein schlechtes Gewissen angesichts der menschlichen Tatsachen haben, dass man eigentlich (bewusst oder unbewusst) immer einen Austausch anstrebt, ein Geben und Nehmen (und sei es das gute Gefühl, hilfreich und nützlich zu sein, das halt auch eine Bestätigung, ein Feedback braucht). Dass es Situationen gibt, in denen Menschen nichts mehr zurück geben können, ist tragisch, trifft uns aber wohl alle mal. Und eben deshalb darf das nicht das Ende der Solidarität sein!

    Ich bin schwer dafür, die Bezahlung und Wertschätzung der Pflegenden zu steigern – und dafür durchaus auch die Beiträge zu erhöhen. Allerdings sehe ich andrerseits ein riesiges Einsparpotenzial bei BigPharma! Grade hat man z.B. ein Cannabis-Medikament zur Schmerzlinderug zugelassen: 400 Euro pro Monat und Patient!! (Anstatt Cannabis-Anbau und Gebrauch zumindest für Patienten zu legalisieren: siehe Kalifornien).

    Aber um nochmal auf den Artikel zurück zu kommen: der ist motiviert von der Qual der Wahl eines neuen Themas für ein Web-Mag/Blog, das natürlich NÜTZLICH sein soll, doch auch ganz klar meiner beruflich-ökonomischen Sphäre zuzuordnen ist (ich hab auch in Vor-Internet-Zeiten immer wieder Medien gestaltet). Das ist eine andere Nummer als das persönliche, ehrenamtliche Engagement „an der Basis“ – zu der ich auch immer wieder mal einen neuen Zugang suche.

    Deshalb nochmal danke für diesen Einblick!

  47. @Menachem
    Dein Kommentar vom 23.8. hat mich bestürzt.
    Ich nehme Dich hier als sehr aufrechten Menschen intuitiv wahr.

    @Relax-Senf
    Meinen Skalp kann ich mir gar nicht abnehmen lassen.
    Daran erkennt mich meine zunehmend dementer werdende „Mutti“. Sie musste schon immer darüber den Kopf schütteln und lachen.

    @Susanne:
    Ich selbst könnte es nie so eindringlich darstellen!
    Wahrgenommen habe ich dies und anderes durch mein sehr bewegtes Leben hautnah. Ich ging oft selbst dorthin, wo es weh tut oder geriet dort rein.
    Ich selbst weiß im Moment auch nicht, ob mein mühsames
    Engagement in diesem laufenden
    Projekt zur Einrichtung von Ambulant Betreuten Demenz-Wohngruppen denen hilft, die dann mal drin wohnen mögen.
    Im Moment ist der Wohnraum für die erste Gruppe soweit umgebaut, die Konzepte für die Verhandlungen mit den Kostenträgern sind erstellt.
    Priorität hat für mich derzeit die Unterstützung für die Initiatorin, die wiedermal um’s Überleben Ihres kleinen, familiären
    Pflegeheims und ihres Ambulanten Pflegedienstes kämpft.
    Eine Frau aus dem Osten von Schrot und Korn und einer nichtbetulichen Herzlichkeit.
    Nachts zerbrechen wir uns die Köpfe über die Empfehlungen des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen, über die vor Wochen geforderte Fortschreibung des Qualitätssicherungsmanagements, darüber, wie die Pflegekräfte endlich die geforderte lückenlose Dokumentation neben ihrer Pflegearbeit schaffen können.
    Das alles ist essentiell wichtig für die Abrechnung mit
    Kassen und für die Bewertung Ihres Unternehmens.
    Der geforderte bürokratische Aufwand, gedacht zur Sicherstellung der Pflegequalität, nimmt den Pflegekräften
    immer mehr Zeit für die Pflege.
    Zwischendrin kommt die Nachtwache schonmal vorbei, und
    informiert über den Exitus eines Heimbewohners.
    Tags fährt meine Freundin Früh- und Nachtdienst, und macht dazwischen das hektische operative Tagesgeschäft als Geschäftsführerin.
    Drei examinierte Pflegekräfte kündigten, weil sie nach Österreich gingen. Dort bekommen sie 400 Euro mehr und vierzehn Monatsgehälter und haben wesentlich weniger
    Schreibarbeit.
    Wenn wir mit ihrer Mutti wiedermal Eisessen fahren können,
    fragt sie mich:
    Indy, in welcher Welt meinst du, lebt sie?
    Nimmt sie uns überhaupt wahr?
    Wenn sie wirklich in die Wohngruppe mal einziehen kann, wird sie nicht mehr mitkochen können, wie sie es immer gerne mit uns machte, als ihre Demenz noch in jüngerem Stadium war. Sie wird die Haustiere dort wohl auch nicht mehr wahrnehmen und streicheln können.
    Nach Susannes eindringlichem Artikel zweifle ich selbst auch noch mehr, ob den zukünftigen Bewohnern das was bringt, was wir als zusätzliche Lebensqualität sahen gegenüber der „Verwahrung“ im Pflegeheim.
    Momentanes Zwischenfazit des Projekts:
    Ich schätze mal, es kann nicht schaden. Ob es unsere Mühen
    bei der Installierung aber lohnt und ob es einen Nutzen hat für die dementen Menschen, die drin wohnen mögen,
    kann ich nicht sagen. Nonverbale Kommunikation mit ihnen
    kann schwer einschätzen, wie sie sich selbst wohl fühlen mögen.
    Ziemlich sicher bin ich, dass Mutti mich immer mal wieder
    bei unseren Begegnungen über meinen Skalp erkennen mag, weil sie drüber den Kopf schüttelt und zunehmend kürzer lacht.
    Genauso sicher bin ich, dass sie ihre Tochter manchmal
    spüren mag, wenn sie ihre Hand beim Führen des Kuchenlöffels spürt. Ansonsten starrt sie ins Leere und lebt wohl in ihrer eigenen Welt.
    Wenn wir mal dazu kommen abends tanzen zu gehen und mit
    Gleichaltrigen Leuten beim Bier zusammenstehen, erzählt sie
    von ihren Zeiten als Gemeindeschwester in der selben
    Plattenbausiedlung, in der sie jetzt ihr Unternehmen betreibt.

  48. Nachtrag:
    Meine Freundin gründete vor 16 Jahren Ihr Unternehmen mit dem für sie nach wie vor gültigen Leitgedanken:

    „Ein Lächeln ersetzt manches Medikament“

    Ich selbst schrieb das damals nicht, weil ich sie noch nicht kannte.

  49. „Ein Lächeln ersetzt manches Medikament“

    boaaah, wie gut schon allein das Lesen tut:-)

  50. Das hat mich jetzt glatt zum nächsten Beitrag inspiriert.

    @Menachem: sehr berührend, dein Kommentar! Ich denke, du musst dich nicht dauernd selbst in die Pfanne hauen, davon hat ja auch niemand was!
    Vielleicht einfach „im Kleinen“ mit dem Widersprechen anfangen? Das kann man auch noch in spätere Jahren anfangen, um so dringlicher, weil es der eigene Seelenfriede braucht!

  51. Claudia,

    ich verfolge Deine Seiten schon eine Weile und möchte das auch weiterhin machen und mich vielleicht mal wieder einbringen mit einem Kommentar. Vielleicht schaffe ich es bis dahin auch, das mit dem Zeilenumbruch hinzubekommen (Scherz).
    Danke, dass Du mich trotzdem zu Wort kommen ließest!
    Ich habe dabei selbst eigene Muster kennengelernt, die mir vorher nicht so bewusst waren. Vielleicht ähnlich, wie Menachem das bei sich erkannt zu haben scheint.
    Es gibt ja Handlungsanleitungen zur Installierung neuer Muster. Ich schau‘ mal, ob ich zwischenzeitlich dazukomme,
    die zu installieren, bis ich mich mal wieder hier melde.
    Ich bin wirklich niemand böse! Ich habe viel gelernt!

    Viel Glück weiterhin allen!

  52. @Claudia

    Ich wollte an sich keine Diskussion zur Altenpflege anstoßen, obwohl die sicherlich spannend ausfiele. Da Du aber fragtest, hier dennoch kurz: Mein Pessimismus nährt sich aus der in meinen Augen innerhalb einer am Profit orientierten Geldökonomie unumkehrbaren, zunehmenden Ablösung direkter, menschlicher Beziehungen (Familie, Freundschaft, Nachbarschaft) durch Tauschbeziehungen (gekaufte Dienstleistungen), deren Konsequenzen sich immer deutlicher bei den Schwachen (Kinder, Kranke, Alte, Arbeitslose) bemerkbar machen. Die Möglichkeit eines wenn auch nur partiellen roll-back auf diesem Gleis vermag ich nicht zu sehen. Prosperität würde ein wenig lindern, würde sie dem privaten Konsum zugute kommen. Worauf zu vertrauen angesichts der aktuellen Entwicklungen für mich der Hoffnung auf den Weihnachtsmann gleich käme.

    Soziale Systeme bauen auf mehr als nur der materiellen Reproduktion auf und kollabieren daher früher oder später, wenn dieser Teil ihres Ganzen ihre Struktur dominiert. Geld als Kapital tut das in unseren Gesellschaften immer umfassender, ist aber nicht in der Lage, andere Funktionen (Legitimation, Integration usw.) dauerhaft zu erfüllen. Diese werden heute noch halbwegs durch tradierte Teilsystem abgedeckt, die durch die Ökonomie des Geld aber offenbar nach und nach zerstört werden (siehe Familie als Pflegeinstanz, betriebliche Ausbildung, Garantie des Existenzminimums durch Wohlfahrt usw.)

    In der Altenpflege wird das durch ein Motto wie ‚Ein Lächeln ersetzt manches Medikament‘ deutlich, wenn du dieses Motto einmal seiner romantischen Hülle entkleidest und es anders formuliert: ‚Ein Lächeln ist durch gekaufte Ware nur schlecht zu ersetzen‘. Die Verknappung bis hin zum Verzicht auf Pflegedienstleistungen, die im Betriebsablauf nicht materiell bewertet werden können (Wieviel Lächeln braucht der Mensch? Wieviel mehr Lächeln bekomme ich für 20 Cent pro Stunde mehr? Und umgekehrt!!) verwandelt qua notwendiger Kostenreduktion (und da stehen wir heute wohl erst am Anfang) sukzessive die menschliche Zuwendung in der Pflege in eine Resttätigkeit, die von den Pflegekräften irgendwann komplett unentgeltlich zu erbringen wäre, was diese – gestresst, falsch ausgebildet oder angeleitet, verärgert und unterbezahlt – irgendwann verweigern werden.

    Mein Beispiel aus der Pflege sollte aber eigentlich einen ganz anderen Gedanken illustrieren und anstoßen: daß der Rahmen möglicher eigener Tätigkeiten (sei es beruflich oder privat) sich eben nicht nur in sinnvollen, zufrieden stellenden Projekten, in denen ich mich und meine Fähigkeiten und Stärken einbringen und wieder erkennen kann, erschöpft, sondern immer auch eine große Menge an Tätigkeiten enthalten wird, die all das heftigst vermissen lassen. Und daß diese Tätigkeiten (die fast immer Frust, Langweile, Ödnis, Erschöpfung und Zorn mit sich bringen) keineswegs unwichtiger sind – oder gar vernachlässigbar. Endlich daß auch eine Gesellschaft mit menschlicherem Gesicht als die, in der wir leben, die Erledigung solche Tätigkeiten verlangen wird.

    Ein Kuchen, aus dem jeder sich die Rosinen heraus picken will, wird nur als Haufen Müll, den keiner möchte, übrig bleiben. Und ein Ruderboot mit lauter Steuerleuten wird vielleicht in die korrekte Richtung weisen, aber kaum voran kommen. Wenn das Allokationsmittel Geld, das heute eben dafür sorgt (durch die Androhung von Armut. Es Anreiz durch Belohnung zu nennen, sträubt sich mir angesichts mancher Löhne die Feder), durch etwas anderes ersetzt oder ergänzt werden sollte (was in meinen Augen früher oder später geschehen wird, bei Strafe eines Kollapses des sozialen Systems) muß eben auch für die Allokation der weniger berauschenden Details des Alltags gesorgt werden. Plakativ gesagt: auch ein Volk der Dichter und Denker braucht Richter und Henker.

    Jede Vorstellung zu einer möglicherweise humaneren gesellschaftlichen Praxis, die sich um diese Überlegung nicht schert und sich in weniger vorzeigbaren Handlungsfeldern auf ein ‚Jemand-wird-es-schon-machen‘ (die Basisillusion des Tausches unter Bedingungen einer anarchischen Arbeitsteilung, die annimmt, alles könne käuflich erworben werden, ergo: alles würde auch irgendwo hergestellt) verläßt, ist schöne Illusion und nicht mehr.

  53. @Susanne: sorry, diesen Eintrag lese ich erst jetzt (27., 15.53). Er hätte inhaltlich den von mir kritisierten „Schlagabtausch“ im im nächsten Thread ein wenig mit fassbarer Meinung unterfüttert – eigentlich gehört er eher DORTHIN. Ich werde eine Anmerkung machen, bzw. ihn dort zitieren.