Inwieweit ich selbst es bin, die die eigene Welt erschafft, interessiert mich lange schon. Es gibt da Extrempositionen, z.B. die, dass die Welt im Bewusstsein entstehe und nicht das Bewusstsein in der Welt: Das Subjekt, das wir genauso wenig erkennen können wie sich das Auge selber sehen kann, „erschaffe“ das Dasein von Augenblick zu Augenblick.
Schon als Jugendliche hat mich das aufgeregt, egal, ob diese Lehre östlich oder westlich daher kam. Das Ding an sich ist unerkennbar – ok, Herr Kant, aber es ist doch trotzdem DA. Wenn ich sterbe, wird die Welt nicht verschwunden sein, sondern weiter bestehen. Ich konnte nicht ernst nehmen, was da gesagt wird, denn es widersprach allen lebenspraktischen Überlegungen und Erfahrungen, die mir so selbstverständlich sind wie Essen und Trinken, oben und unten, Nacht und Tag.
Halt! „Oben und unten“ nehme ich nur deshalb so wahr, weil ich ein zweibeiniges Tier bin, das sich Richtung Himmel aufrichtet und damit gegen die Schwerkraft agiert. Wäre ich frei fliegendes Bewusstsein, was wäre dann „oben“ und „unten“?
Ein Planet, auf dem kein hörendes Wesen lebt: ein Ast bricht vom Baum – macht er ein Geräusch?
Immer wenn mir das Thema in neuer Form begegnete, reagierte ich darauf mit philosophischen und wissenschaftlichen Argumenten. Ich redete darüber, „wie es eigentlich ist“, bzw. sein könnte, doch war dieses Gerede nur eine nette Freizeitbeschäftigung, weniger belastend als das Reden über Politik oder über Beziehungen, doch im Grunde überflüssig. Noch fehlte mir die Erfahrung, dass MEINE ganze Welt zu Bruch gehen kann und aus den Trümmern eine neue entsteht, die so ganz anders ist als das eben noch Gelebte und für wichtig Befundene.
Als ich diese Erfahrung in einer tiefen Krise Ende dreißig dann gemacht hatte, verstand ich besser, was hier gemeint ist: Das, was ich ca. 15 Jahre als „mein Leben“ und „meine Welt“ erlebt hatte, hatte ganz bestimmte eigene Entscheidungen, Haltungen und Sichtweisen, Engagements und Ängste zur Voraussetzung. Diese bestimmten mein Erleben und Handeln, beschränkten meine Wahrnehmung auf den engen Bereich dessen, was meinen Zwecken diente oder ihnen widersprach. Als sich das alles aufgelöst hatte, war ich nicht mehr dieselbe und konnte mich nur wundern, wie ich es solange unter dieser Fron ausgehalten hatte. Und alles, worunter ich zunehmend gelitten hatte, war tatsächlich „selbst geschaffen“! Niemand hatte mich gezwungen, von der nach spannenden Abenteuern suchenden Hausbesetzerin zur Multi-Funktionärin in Sachen Stadtteilpolitik zu mutieren, in Vereinen und einer Partei Pöstchen zu besetzen, mich „immer im Dienst“ zu befinden und komplett aufzureiben. Mich dabei langsam aber sicher „zur Entspannung“ in den Alkoholismus zu saufen, war rückblickend das Rettende, denn nur durch die damit einhergehende schmerzhafte Selbst-Auflösung wurde ich am Tiefpunkt gewahr, dass es ein Leben jenseits des „Politik machens“ gibt: MEIN Leben als Mensch, als Frau, als fühlendes Wesen.
Mein Staunen war groß, wie LEICHT es nach Erreichen des Tiefpunktes ging, all das hinter mir zu lassen. Auf einmal hatte ich einen neuen „obersten Wert“: mein eigenes Seelenheil, meine Befindlichkeit im Augenblick. Zum ersten Mal schaute ich aufmerksam „nach innen“, denn davon hing mein neues Glück vollständig ab: zu bemerken, wann mich etwas störte, bedrückte, anödete, und dies nicht einfach „im Sinne der Sache“ zu übergehen, sondern daraus die Konsequenz zu ziehen und entsprechend zu handeln. Wie einfach! Und wie UNMÖGLICH mir dies früher vorgekommen war!
Der veränderte Blickwinkel bedeutete, „mich selbst“ als ebenso zwingende Gegebenheit der Welt anzusehen wie alles „da draußen“. Wenn ich mich mit einem Menschen oder in einer Situation nicht wohl fühle, dann ist da nicht mehr die frühere Haltung „Augen zu und durch“: freundlich lächeln und so tun, als wäre alles in Butter, während ich innerlich 1000 Tode sterbe vor Genervtheit. Diese „Genervtheit“ in ihren verschiedenen Gestalten hatte ich in den Jahren zuvor gar nicht mehr wahr genommen. Nun war sie mir Leitschnur und Kompass in ein glücklicheres und freudvolleres Dasein, allerdings nicht im Geiste des „nice to have“, sondern unterfüttert mit der Drohung des Rückfalls in die alkoholische Hölle, die mir als krasse Möglichkeit ähnlich dem Schlagstock des ZEN-Meisters vor Augen stand und mich entsprechend wach hielt.
Schnell erkannte ich auch, dass es nicht möglich ist, diese „einfache Sache“ anderen Menschen, die über ihr Leben oder bestimmte Gegebenheiten jammern, schimpfen und klagen, zu vermitteln, ihnen effektiv zu raten oder zu helfen. Versuche ich es trotzdem, bekomme ich ein „geht nicht, weil…“ zu hören, und dann folgt ein (vermeintlicher) „Sachzwang“, der an all dem Elend schuld sei, an dem sich aber leider nichts ändern ließe. Ja klar, das kenne ich, war ich doch selber viele Jahre „eingeschweißt“ in solche Sachzwänge, ohne den Schimmer einer Chance, zu erkennen, dass ich selbst es bin, die den Stellenwert dieser Dinge festlegt und damit das „Zwingende“ erst erschafft.
Dieses Festlegen geschieht auf der Basis eines Selbstbildes, das zeigt, wie man gerne gesehen werden möchte. Meist ist es ein Konglomerat aller möglichen Tugenden, weniger schöne Aspekte werden als „von außen verursacht“ angesehen, bzw. nach außen, auf Andere projiziert. Da die Selbstwahrnehmung auf diese Weise beschränkt und verzerrt ist, ergibt sich ein fortwährend wirksamer Stress, den Schein zu wahren inmitten eines Lebens, dass doch immer den GANZEN Menschen fordert, nicht bloß die netten, vorzeigbaren Aspekte. Je toller das Selbstbild, das man verteidigt, desto grusliger und nerviger zeigt sich die erlebte Wirklichkeit, desto größer der Stress, sich darin zu bewegen.
Das Aufgeben (bzw. Zerschellen!) der falschen Selbstbilder setzt dagegen alle Energie frei, die in der Anstrengung gebunden war, ihnen zu entsprechen und „die Anderen“ zu bekämpfen. Ich spürte eine ungeheure Erleichterung, die mich ein gutes Jahr wie „schwebend“ fühlen ließ, als zöge mich die Schwerkraft deutlich weniger nach unten. Dass dem eine Art Sterben voraus gegangen war, ließ mich sanftmütig werden, denn es war ja nichts, worauf ich hätte stolz sein können: im Gegenteil, ich hatte mich äußerst verbissen der Kapitulation verweigert, hatte jahrelang krampfhaft am eigenen Elend festgehalten, bis ich regelrecht „weich gekocht“ war und mein „Ich“ (im Sinne des „Egos“ und der falschen Selbstbilder) endlich abdanken konnte.
Die Idee, dies sei nun ein Zustand, auf dem man sich zur Ruhe setzen könne, da der Schlüssel zu einem deutlich leidensfreieren Erleben gefunden ist, ist allerdings ein Trugschluss. Auf jeder neuen Ebene neige ich dazu, mich wieder zu etablieren, wieder an etwas festzuhalten und neue Selbstbilder zu errichten. Das viel diskutierte „Ego“ ist substanzlos und kann sich mit beliebigen Inhalten verbinden, z.B. mit der „gelassenen Schau“, mit Einsicht und „drüber stehen“, was nichts weiter bedeutet als das wieder Aufreißen der Spaltung zwischen dem, was ist, und dem, was sein sollte.
Dessen eingedenk, bleibe ich (hoffentlich!) aufmerksam für Tendenzen, die mich dazu drängen, wieder „ein Haus bauen“ zu wollen auf irgend einem erreichten Zustand. Alles, was ich als Status Quo verteidige, werde ich auch wieder verlieren, denn das Leben ist fortwährende Veränderung und endet mit dem Tod. Die Kunst, mit dem Fluss zu fließen, bzw. sich tragen zu lassen, ist ein aktives und gleichzeitig passives Geschehen, das ich nicht machen, aber auch nicht lassen kann – ein KOAN für den Rest des Lebens.
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