Claudia am 02. Oktober 2010 —

Mehr Demokratie wagen 2.0 – ob wir das noch erleben? #Stuttgart21

Die Geschichte sollte uns eigentlich gelehrt haben, niemals „nie“ zu sagen. Wer hat in den 80gern schon geglaubt, dass die Sowjetunion zerfallen wird und Deutschlands Wiedervereinigung nicht für immer bloße Sonntagsrede bleibt?

Dieser Einstieg mag sich positiv anhören, doch so ist’s mir leider nicht wirklich zumute. Was rund um Stuttgart21 abgeht, erinnert mich an so viele andere Kämpfe: Atomkraft, Gorleben, Startbahn West – immer mit massivem Engagement breiter Bevölkerungsschichten und mit den immerselben Methoden der „Herrschenden“. Eskalation, Gewalt, unverhältnismäßige Polizeieinsätze, die die „normalen Menschen“ in Angst und Schrecken versetzen sollen, auf dass man den Rest als militante Chaoten (bzw. Links-Extreme) marginalisieren und kriminalisieren kann. Und dazu „Gesprächsangebote“, die keine wirkliche Verhandlungsbereitschaft erkennen lassen.

Das hat nicht immer geklappt, es gab schließlich auch Erfolge. Ein Ausstiegsbeschluss immerhin (der gerade relativiert wird), ein Moratorium für Gorleben (wobei der Salzstock nun wieder „erforscht“ wird) – aber die Startbahn West wurde gebaut und ob man AKWs eines Tages wirklich abschaltet, wissen die Götter.

Jetzt also Stuttgart21: ein Mega-Projekt, das eine attraktive Stadt umwühlt und aufwühlt, den Stadtpark vernichtet, jede Menge Gefahren für die „Häusle“ der Schwaben mit sich bringt und kostenmäßig völlig aus dem Ruder laufen wird (wie so viele, zunächst klein gerechnete Protz-Projekte). Das noch dazu seinen Sinn nicht erfüllen wird, wie man z.B. im Aufklärungs-Video „Widerstand gegen den Widerstand“ im Detail erklärt bekommt.

Zum Argument, das ganze Vorhaben sei schließlich über viele Jahre „demokratisch legitimiert“ worden, schreibt Felix Neumann in seinem Beitrag „Ohnmacht, Wut und repräsentative Demokratie“:

„So sauber legitimiert es ist – es zeigt die Schwächen eines rein repräsentativdemokratischen Systems auf. Daß die Proteste nun durch groteske Polizeigewaltexzesse niedergeschlagen werden (darf ein Rechtsstaat die Erblindung von Menschen in Kauf nehmen, nur um die zeitnahe Umsetzung eines Bauvorhabens durchzusetzen?), ist nicht die Selbstbehauptung des repräsentativdemokratischen Rechtsstaats gegen undemokratische schlechte Verlierer. Es ist eine fast schon autistisch zu nennende an Nabelschau grenzende Reaktion eines selbstgenügsamen politischen Apparats, der sturheil nur seinen Prozeduren zu folgen vermag, ohne sich von Kontexten beeinflussen zu lassen.“

Und weiter:

In Konflikten wie dem um Stuttgart 21 zeigt sich eine Krise des repräsentativ-demokratischen Systems. Es geht nicht darum, ob die Demonstrierenden Recht haben oder sie wenigstens eine gesellschaftliche Mehrheit abbilden – es ist denkbar, daß tatsächlich nur eine wortmächtige Minderheit demonstriert. Es geht darum, daß es in einer pluralen, zunehmend differenzierteren Gesellschaft nicht genügt, die reichlich binäre Entscheidung zwischen einer Handvoll Parteien alle paar Jahre als hinreichende Legitimierung für alles politische Handeln dazwischen anzusehen und jeden Verweis auf Stimmungen in der Gesellschaft mit dem Mantra »Demokratie, nicht Demoskopie« einfach abzutun.

Repräsentative Demokratie ist eine Organisationsform des 19. Jahrhunderts: Organisation unter den Bedingungen langsamer Kommunikation, langwieriger Reisen und damit der Unmöglichkeit, sich mal eben oben einzumischen. Dank homogenerer Milieus – das katholische, das sozialdemokratische, das bürgerliche – und damit homogeneren Interessenslagen funktionierte unter diesen Bedingungen eine repräsentative Interessens-Aggregation gut genug.

Das alles hat sich heute aber drastisch geändert. Weder gibt es noch wenige festgefügte Milieus, noch braucht es „langwierige Reisen“, um – mal angenommen, das würde ermöglicht – an der demokratischen Willensbildung mitzuwirken. Großorganisationen sind Tanker von gestern, sie schrumpfen an Mitgliedern und heben immer mehr ab vom „Volk“, das seinerseits schnell lernt, die neuen Kommunikationstechniken für den Protest und die Selbstorganisation desselben zu nutzen. „Agenda Setting“ gelingt auf diese Weise immer öfter – aber wird es auch zu echten Änderungen im System kommen? Zu mehr Volksentscheiden, zum Recht der nicht in Parteien und Verbänden Organisierten, zu manchem Mega-Thema auch einfach mal NEIN zu sagen?

Stuttgart21, Hartz5, Laufzeitverlängerung, BadBank zu Lasten der Steuerzahler, Selbstbereicherung der Banker öffentlich gestützter Banken, Pleite-Kommunen, Überwachung, Nacktscanner, Sparpaket, trotzdem weiter Großprojekte – und ja, auch die Integrationsdebatte gehört dazu: alles Aufreger, die sich addieren und langsam immer mehr Wut akkumulieren. Wut über die eigene Ohnmacht und das ignorante „weiter so“ der nur noch VERMEINTLICH demokratisch legitimierten Politik. Oder hat jemand all den genannten Punkten wirklich ZUGESTIMMT mit dem Ausfüllen des letzten Wahlzettels?

Wird sich die Aufregung legen und alles so weiter gehen? Oder werden wir doch noch eine – vom Volk erzwungene – Systemveränderung erleben? Ossis halten das vermutlich für weniger unwahrscheinlich als Wessis. Ein Nutzen, den die Vereinigung immerhin AUCH gebracht hat!

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Diskussion

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10 Kommentare zu „Mehr Demokratie wagen 2.0 – ob wir das noch erleben? #Stuttgart21“.

  1. Wobei ich, vollkommen unanbhängig meiner eigenen noch nicht wirklich gebildeten Meinung, es schon amüsant finde, das plötzlich die Formierung einer Meinungshabenden Fraktion im Netz mit dem Hinweis abgetan wird, das eine Gurke und eine Ziege auch Fans anziehe. DAS sollte sich mal die meist ältere Meinungsfraktion bei den Web-2.0 Nutzern erlauben, wenn diese auf das enorme Echo ihrer Meinungsäusserungen in den social-Netzen hinweisen. Ich höre schon wieder Kugelschreiber und Internetausdrucker….

  2. Du meinst das Video „Widerstand gegen den Widerstand“. Den Einstieg fand ich auch nicht so doll – aber die Infos sind dann eben doch sehr gut!

  3. Mein „Problem“: ich neige dazu, die Glaubwürdigkeit an der Art der Kommunikation zu koppeln. Und wenn die erst mal erklären, das eine Gurke auch Fans anziehe und deswegen das ja wohl nichts sage, das es Befürworter gebe und wenn schon, dann nur an Zensur liegen kann, das Befürworter an ihrer Meinung glauben, schalte ich schon teilweise arg ab in meiner Aufnamebereitschaft. Das ist nicht mein Demokratieverständnis, und dieser Kampf um die bessere Demokratie wird ja auch gerne zur Zeit von beiden Seiten so hochgehalten. Zur Zeit tun sich in diesem Punkt beide Seiten echt nicht viel.

    Alles unabhängig freilich von den wirklichen Fakten (Wer immer die alle hat und welche immer das nun genau sind) ums konkrete Projekt.

  4. Kann eine Demokratie 2.0 jemandem, in dessen Leben eingegriffen wird und dessen Interessen im Ergebnis einfach nicht berücksichtigt werden, das Gefühl der Ohnmacht ersparen? Oder gibt es so jemanden in der Demokratie 2.0 nicht mehr?

  5. Nein, kann es nicht, denn am Ende sollte immer eine Entscheidung stehen. Und es wird immer welche geben, die am Ende dann sagen: das ist nicht unsere Entscheidung und wir wurden nicht richtig gehört.

  6. Dass polemisiert wird, ist bei so einer Auseinandersetzung normal. Und dass in einem solchen Video die Gurke (kannte ich noch gar nicht!) etc. gezeigt wird, um eher netzfernen Menschen zu zeigen, dass „viele Fans auf Facebook“ nicht unbedingt etwas bedeuten, finde ich auch akzeptabel.

    Man schaue sich auch das verlinkte Video von 1997 an: da zeigt sich, dass auch schon auf der „Bürgerbeteiligung“ massiv Unmut und Ablehnung da war – und dass (das wird SEHR deutlich) diese Beteiligung ja keine ECHTE war. Wie sie es nahezu NIE ist, wenn im Rahmen des Städtebauförderungsgesetzes „Bürger beteiligt“ werden. (Oder nenn mir einer ein Großprojekt, das auf diese Art gestoppt wurde!)

    Eine „Bürgerbeteiligung“ über das bloße Parteiensystem (Demokratie 1.0) verlangt von den Menschen, sich einem meist recht abstrakt definierten Interessenspektrum anzuschließen. Der Einfluss auf KONKRETE Vorhaben ist dabei marginal bis null, sofern man nicht Parteikarriere macht und dann zu den wenigen gehört, die neben den Amtsträgern noch was zu sagen haben.

    DAS ist es, was m.E. im Argen liegt und angesichts der MÖGLICHKEITEN einfach nicht mehr reicht.

  7. Für mich(!) kennzeichnet Polemisierung immer das Ende einer Kommunikation.

  8. @Claudia
    Wie könnte denn mein Einfluss als Baumfreund und Bahnhofsgegner auf das konkrete Vorhaben in Stuttgart aussehen?

  9. Kommt drauf an, wie viele andere Baumfreunde und Bahnhofsgegner sich noch beteiligen – jedenfalls wäre keiner gezwungen, zwecks Beteiligung „nachhaltig“ einer Partei beizutreten und damit noch für ein ganzes Bündel „Sonstiges“ zu votieren.

    Wenn ich recht erinnere, sind länger schon 70% der Stuttgarter gegen das Projekt. Aktuell sind landesweit 54% dagegen. (Ein Bürgerentscheid wurde übrigens mal versprochen, dann aber abgelehnt -> http://www.kopfbahnhof-21.de/index.php?id=510)

    In einer solchen Lage läge es an den Befürwortern, die Gegner zu überzeugen – und nicht umgekehrt. Was mittlerweise an Details, Fehlplanungen, Verstrickungen und Risiken bekannt geworden ist, geht ja auf keine Kuhhaut! All diese Punkte müssten verhandelt und geklärt werden, wenn man „Bürgerbeteiligung“ ernst nehmen würde.

    Und: Auch ein Baumfreund fährt mal Bahn und wünscht seiner Stadt eine positive Entwicklung. Extrempositionen wie „niemals einen Baum fällen“ würden sich auch nicht halten lassen!

  10. Selbst als Baumfreund fälle ich schon mal einen Baum oder ich verpflanze einen. Auf dem eigenen Grundstück, natürlich nur. ;) Soll ich nun andere daran hindern dasselbe zu tun, wenn mir ihre Absichten nicht gefallen?

    Würde man die 70% Stuttgarter oder die 54% Baden-Württemberger gegen das konkrete Projekt entscheiden lassen (Warum nicht auch alle anderen, die häufig nach Stuttgart reisen?), dann wären womöglich die 30 bzw. 46 Prozent Bahnhofs- und Fortschrittsgläubige ähnlich frustriert, wie es jetzt diejenigen sind, die den Bahnchef bedrohen.

    Oder würde der Internet-Diskurs von Millionen mehr oder weniger persönlich betroffenen Baden-Württembergern eine ganz neue Lösung bringen, die alle Interessen vereint? Meine Erfahrungen in weit übersichtlicheren Kleingruppen ab zwei Personen sprechen zwar dagegen, aber ich bin Wundern gegenüber durchaus aufgeschlossen. :)