Die Geschichte sollte uns eigentlich gelehrt haben, niemals „nie“ zu sagen. Wer hat in den 80gern schon geglaubt, dass die Sowjetunion zerfallen wird und Deutschlands Wiedervereinigung nicht für immer bloße Sonntagsrede bleibt?
Dieser Einstieg mag sich positiv anhören, doch so ist’s mir leider nicht wirklich zumute. Was rund um Stuttgart21 abgeht, erinnert mich an so viele andere Kämpfe: Atomkraft, Gorleben, Startbahn West – immer mit massivem Engagement breiter Bevölkerungsschichten und mit den immerselben Methoden der „Herrschenden“. Eskalation, Gewalt, unverhältnismäßige Polizeieinsätze, die die „normalen Menschen“ in Angst und Schrecken versetzen sollen, auf dass man den Rest als militante Chaoten (bzw. Links-Extreme) marginalisieren und kriminalisieren kann. Und dazu „Gesprächsangebote“, die keine wirkliche Verhandlungsbereitschaft erkennen lassen.
Das hat nicht immer geklappt, es gab schließlich auch Erfolge. Ein Ausstiegsbeschluss immerhin (der gerade relativiert wird), ein Moratorium für Gorleben (wobei der Salzstock nun wieder „erforscht“ wird) – aber die Startbahn West wurde gebaut und ob man AKWs eines Tages wirklich abschaltet, wissen die Götter.
Jetzt also Stuttgart21: ein Mega-Projekt, das eine attraktive Stadt umwühlt und aufwühlt, den Stadtpark vernichtet, jede Menge Gefahren für die „Häusle“ der Schwaben mit sich bringt und kostenmäßig völlig aus dem Ruder laufen wird (wie so viele, zunächst klein gerechnete Protz-Projekte). Das noch dazu seinen Sinn nicht erfüllen wird, wie man z.B. im Aufklärungs-Video „Widerstand gegen den Widerstand“ im Detail erklärt bekommt.
Zum Argument, das ganze Vorhaben sei schließlich über viele Jahre „demokratisch legitimiert“ worden, schreibt Felix Neumann in seinem Beitrag „Ohnmacht, Wut und repräsentative Demokratie“:
„So sauber legitimiert es ist – es zeigt die Schwächen eines rein repräsentativdemokratischen Systems auf. Daß die Proteste nun durch groteske Polizeigewaltexzesse niedergeschlagen werden (darf ein Rechtsstaat die Erblindung von Menschen in Kauf nehmen, nur um die zeitnahe Umsetzung eines Bauvorhabens durchzusetzen?), ist nicht die Selbstbehauptung des repräsentativdemokratischen Rechtsstaats gegen undemokratische schlechte Verlierer. Es ist eine fast schon autistisch zu nennende an Nabelschau grenzende Reaktion eines selbstgenügsamen politischen Apparats, der sturheil nur seinen Prozeduren zu folgen vermag, ohne sich von Kontexten beeinflussen zu lassen.“
Und weiter:
In Konflikten wie dem um Stuttgart 21 zeigt sich eine Krise des repräsentativ-demokratischen Systems. Es geht nicht darum, ob die Demonstrierenden Recht haben oder sie wenigstens eine gesellschaftliche Mehrheit abbilden – es ist denkbar, daß tatsächlich nur eine wortmächtige Minderheit demonstriert. Es geht darum, daß es in einer pluralen, zunehmend differenzierteren Gesellschaft nicht genügt, die reichlich binäre Entscheidung zwischen einer Handvoll Parteien alle paar Jahre als hinreichende Legitimierung für alles politische Handeln dazwischen anzusehen und jeden Verweis auf Stimmungen in der Gesellschaft mit dem Mantra »Demokratie, nicht Demoskopie« einfach abzutun.
Repräsentative Demokratie ist eine Organisationsform des 19. Jahrhunderts: Organisation unter den Bedingungen langsamer Kommunikation, langwieriger Reisen und damit der Unmöglichkeit, sich mal eben oben einzumischen. Dank homogenerer Milieus – das katholische, das sozialdemokratische, das bürgerliche – und damit homogeneren Interessenslagen funktionierte unter diesen Bedingungen eine repräsentative Interessens-Aggregation gut genug.
Das alles hat sich heute aber drastisch geändert. Weder gibt es noch wenige festgefügte Milieus, noch braucht es „langwierige Reisen“, um – mal angenommen, das würde ermöglicht – an der demokratischen Willensbildung mitzuwirken. Großorganisationen sind Tanker von gestern, sie schrumpfen an Mitgliedern und heben immer mehr ab vom „Volk“, das seinerseits schnell lernt, die neuen Kommunikationstechniken für den Protest und die Selbstorganisation desselben zu nutzen. „Agenda Setting“ gelingt auf diese Weise immer öfter – aber wird es auch zu echten Änderungen im System kommen? Zu mehr Volksentscheiden, zum Recht der nicht in Parteien und Verbänden Organisierten, zu manchem Mega-Thema auch einfach mal NEIN zu sagen?
Stuttgart21, Hartz5, Laufzeitverlängerung, BadBank zu Lasten der Steuerzahler, Selbstbereicherung der Banker öffentlich gestützter Banken, Pleite-Kommunen, Überwachung, Nacktscanner, Sparpaket, trotzdem weiter Großprojekte – und ja, auch die Integrationsdebatte gehört dazu: alles Aufreger, die sich addieren und langsam immer mehr Wut akkumulieren. Wut über die eigene Ohnmacht und das ignorante „weiter so“ der nur noch VERMEINTLICH demokratisch legitimierten Politik. Oder hat jemand all den genannten Punkten wirklich ZUGESTIMMT mit dem Ausfüllen des letzten Wahlzettels?
Wird sich die Aufregung legen und alles so weiter gehen? Oder werden wir doch noch eine – vom Volk erzwungene – Systemveränderung erleben? Ossis halten das vermutlich für weniger unwahrscheinlich als Wessis. Ein Nutzen, den die Vereinigung immerhin AUCH gebracht hat!
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Mehr dazu:
- Bis zum bitteren Ende (Politik.de);
- Demokratische Phänomenologie (Freischwebende Aufmerksamkeit);
- Remember, remember, the 30th of September (Sammelmappe, Linksammlung zum Thema)
- Das Stuttgart-21-Kartell: Im Dunstkreis von Machtmissbrauch und Größenwahn
- Video „Bürgerbeteiligung“ Stuttgart 1997: „Diskussionen in diesem Plenum nicht erwünscht!“. Schon damals war alles bereits abgekartet und die Beteiligung eine Farce!
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10 Kommentare zu „Mehr Demokratie wagen 2.0 – ob wir das noch erleben? #Stuttgart21“.