Stuttgart21, Verlängerung der AKW-Laufzeiten, Gesundheits-„Reform“, Hartz IV, Autobahnneu- und Ausbauten, Schulreformen/Turbo-Abitur, Bologna-Prozess, zunehmende Überwachung, Protzprojekte in vielen Städten, die Welt als Ansammlung von Profit-Centern und Shoppingmalls – alles natürlich Sachzwang, völlig alternativlos! Wir sollen uns hochmobil und maximal anpassungswillig dem „Druck der Globalisierung“, der Beschleunigung aller Prozesse beugen und dabei einsehen, dass es unabwendbares Schicksal ist, dass die Reichen immer reicher und die Massen immer ärmer werden.
Von den Groß-Medien wird die neue Protestkultur gegen alles, was nervt, derzeit ausgiebig analysiert. DIE ZEIT widmet dem Phänomen einen vierseitigen, sehr lesenswerten Artikel („Wir haben die Nase voll“) und kommt zum Fazit:
„Bis jetzt lautet der Befund, Protest rege sich immer dort, wo die Bürger an der »Vernunft« von Wachstums- und Beschleunigungsdruck zweifeln, an den Verheißungen von Fortschritt, Reform und Ökonomisierung. Dieses Unbehagen ist strukturell konservativ, man kämpft nicht für etwas, man kämpft gegen etwas. Atomkraftgegner kämpfen gegen die verlängerte Produktion von radioaktivem Hochrisiko; Studenten und Professoren möchten verhindern, dass ihre Universität progressiv zum Profitcenter umgebaut wird, Eltern wollen, dass eine Schule eine Schule bleibt, und protestieren – ob zu Recht oder zu Unrecht – gegen die bürokratische Rationalität einer eingreifenden Verwaltung. Künstler wehren sich gegen den »symbolischen Kapitalismus« des Stadtmarketings und bestehen auf der Unterscheidung von Kunst und Reklame. Und für die demonstrierenden schwäbischen Bürger ist Stuttgart 21 eine sinnlose Verausgabung von Energie und das Nullsummenspiel eines technokratischen Denkens, das niemanden mehr glücklich macht.“
Doch, es macht diejenigen glücklich, die den Politikern ihre Gesetze schreiben (Z.B. BigPharma) und die „Sachzwänge“ diktieren. Ob ein Projekt nach Fertigstellung einen greifbaren Nutzen hat, ist egal, denn alleine die Durchführung hat ja schon „die Wirtschaft“ massiv bereichert. Und ja, auch Arbeitsplätze „gesichert“, die dann allerdings wieder durch ein weiteres Mega-Projekt erhalten werden müssen. Wer fragt schon nach dem Sinn des Tuns, solange die Kasse stimmt?
Anna Reimann betrachtet im SPIEGEL ONLINE rebellische Rentner beim Aufstand der Silberköpfe. „Der Hippie von gestern ist der Opa von heute“ – aber dem wird mal eben so von einem anderen SPIEGEL-Autor (Dirk Kurbjuweit) vorgeworfen, als alter Mensch und „Wutbürger“ nicht mehr an DIE ZUKUNFT zu denken, sondern das egoistische Interesse in der Abwehr von Veränderungen auszuleben.
Ja, ja, wenn das alles so weiter geht, ist wahrlich der Standort Deutschland in Gefahr! Die Wirtschaft klagt über die allzu renitenten Bürger und fordert bei Großprojekten schnellere Entscheidungen und weniger Einspruchrechte. Wie die FR berichtet, ist unsere Kanzlerin Merkel da ganz einverstanden:
Sie beklagte bei einem Auftritt vor dem Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft ebenfalls die sich häufenden Proteste gegen Infrastrukturprojekte. In Deutschland eskaliere vielerorts der Bau von Hochspannungsleitungen oder Kohlekraftwerken zu einem „örtlichen Drama“, kritisierte Merkel. Die Bevölkerung müsse offen bleiben für Innovationen. Konkurrierende Länder in Osteuropa und Asien warteten nicht, bis sich die Deutschen entschieden hätten, meinte Merkel.
Inwiefern sind Politiker dafür da, der Bevölkerung anzusagen, was sie wollen soll ? War es nicht mal umgekehrt so gedacht, dass die gewählten Repräsentanten umsetzen, was das Wahlvolk mehrheitlich will? Konkurrierende Länder in Osteuropa und Asien haben einen immensen Nachholbedarf und weithin unentwickelte Infrastrukturen und Produktionskapazitäten. Es sei ihnen gegönnt, sich ihren Teil am Fortschritt (nach-) zu holen.
Hierzulande sieht die Sache anders aus: es ist kaum zu vermitteln, dass man für einen geringen Geschwindigkeitsgewinn viele Milliarden in die Umwühlung von Stuttgart investiert – und DAS ist ja auch nicht der wahre Grund. Sondern die Gewinnerwartung des damit zusammen hängenden Mega-Immobilienprojekts: Wo Bahnhof und Geleise waren, kann dann GEBAUT WERDEN. Und es muss nun mal immer GEBAUT WERDEN, was sollen denn sonst die ganzen Planer, Architekten und Bauarbeiter machen? Ganz zu schweigen von den Investoren: wo soll das arme notleidende Kapital denn hin, wenn der Bürger zu allem „Nein, wollen wir nicht, brauchen wir nicht!“ sagt???
Ja, wir sind eine alternde Republik, die auch schon weitgehend „zugebaut“ ist. Das Durchschnittsalter lag 2007 bei 43, liegt jetzt vielleicht schon bei 45 Jahren (=keine aktuellen Daten, nur Hochrechnungen gefunden). Obwohl nur Durchschnitt, bedeutet das insgesamt doch, dass nicht mehr alles nur deshalb, weil es NEU ist, auch schon gleich gut gefunden wird. Die Vorhaben und Projekte müssen ihre Sinnhaftigkeit beweisen, bevor sie akzeptiert werden – und damit ist eben NICHT der Sinn für wenige Profiteure, sondern der Nutzen für die Allgemeinheit gemeint.
Ob das die vielen Betonköpfe und Technokraten unter unseren Politikern nochmal begreifen werden? Angesichts der Verstrickungen, die zwischen Politik und Wirtschaft offenbar zur Normalität gehören, rechne ich nicht mit viel Einsichtsfähigkeit.
Und freue mich über jeglichen Widerstand, der dem „höher, schneller, weiter“-Trend Sand ins Getriebe streut! Da bin ich gerne „strukturell konservativ“!!
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16 Kommentare zu „Nase voll – nicht nur von Stuttgart21“.