Claudia am 14. November 2010 —

Können Politiker auch anders? Was kommt nach Schwarz-Gelb?

Kürzlich erschien im FREITAG ein lesenswerter Artikel mit dem Titel „Jenseits der Illusionen“. Knapp drei Jahre vor der nächsten Bundestagswahl (also wahrlich RECHTZEITIG!) macht sich Jürgen Trittin da Gedanken, was eigentlich werden soll, wenn die konservativ-neoliberale CDU/FDP-Regierung abgelöst wird – bzw. WIE das gehen könnte:

Fundamentale Bedingung linker Regierungspolitik ist zunächst, dass man regieren will. Das klingt trivial, ist aber nicht in allen Parteien links der Mitte Konsens. Eine glaubhafte Botschaft der Gerechtigkeit muss mit seriösen und realistischen Konzepten verbunden werden. Nur dann gibt es eine Chance auf eine Mehrheit links von der Mitte. Über die zentralen Themen wird man sich schnell einig werden – dazu gehören Energiekonzept, Klimaschutz, Mindestlohn, höhere Transferleistungen, eine Bürgerversicherung im Gesundheitssystem, massive Investitionen in die Bildungsinfrastruktur, gerechte Besteuerung von Gutverdienenden und Vermögenden.

Was ihn bewegt, ist das Dilemma des gewöhnlichen Politik-Geschäfts: Die Opposition kritisiert üblicherweise fast alles konkrete Regierungshandeln und setzt andere WÜNSCHE dagegen, verbunden mit Vorwürfen bezüglich mangelnder Gerechtigkeit, Unwilligkeit, Klientel-Politik, Lobby-Hörigkeit und und und.

Kommt die Opposition dann tatsächlich an die Macht, sieht sie sich plötzlich im Gefängnis der real existierenden Sachzwänge. Z.B. zuvorderst dem der Finanzierbarkeit: Woher soll das Geld kommen, um all die gewünschten (und vom Wähler GEWÄHLTEN) Wohltaten zu bezahlen? Man muss es anderen wegnehmen ODER sich weiter verschulden.

Der letztere Weg ist durch die ins Grundgesetz geschriebene Schuldenbremse verbaut, bzw. zumindest SEHR erschwert (man kann evtl. noch einiges mit „Schattenhaushalten“ machen, aber eben nicht alles). Zudem ist die weitere Verschuldung ja ein Fehlweg, der auch von links/rot/grün immer wieder abgelehnt wird. Wer also 2013 eine Regierungsmehrheit bildet, wird weiter einsparen müssen, um der Schuldenbremse zu genügen – allein im ersten Jahr ca. 10 Milliarden.

Trittin:

„Egal, wie man die Schuldenbremse findet, man wird sie einhalten müssen. Wer 2013 die Regierung übernehmen will, der muss sich darauf vorbereiten. Man wird sonst riesige Enttäuschungen produzieren, die im derzeitigen Stimmungsgemisch von Rechtspopulismus, Abstiegsangst und Politikverdrossenheit katastrophale Auswirkungen haben könnten.“

Und er wir dann auch sehr konkret:

Wer 2013 die Rücknahme der Sozialkürzungen (9,9 Milliarden Euro) und die genannten Maßnahmen zur sozialen Gerechtigkeit finanzieren will, muss zeigen, wie das geht. Die Umgestaltung des Ehegattensplittings kann 2,7 Milliarden Euro bringen, der Abbau ökologisch schädlicher Subventionen realistischerweise rund 8 Milliarden Euro, und eine höhere Brennelementesteuer noch einmal rund eine Milliarde Euro. Die Abschmelzung des Dienstwagenprivilegs würde 1,2 Milliarden bringen, die Anhebung des Spitzensteuersatzes auf 45 Prozent rund eine weitere Milliarde.
All das würde bereits massive Widerstände produzieren, es wäre aber bei weitem noch zu wenig, um all das zu finanzieren, was links der Mitte in Deutschland für sinnvoll gehalten wird. Investitionen in den Green New Deal sind hierbei noch gar nicht berücksichtigt.

Trittin führt dann weiter aus, was GRÜNE zu alledem denken und vorhaben. Was mich dann unendlich anödet ist die Kommentardiskussion, die über lange Strecken auf die vorgebrachten Fragen gar nicht eingeht. Sondern statt dessen Trittin angreift, parteipolitisches Hickhack pflegt, die Nettikette diskutiert und dergleichen Nebenthemen – genau wie bei Anne Will die Dinge oft vom Sachgespräch in bloßen kindergartenhaften Schlagabtausch übergehen (weshalb ich das nur noch selten gucke).

Die Systemfrage stellen?

Davon abgesehen bringt ein Kommentierer namens „Lethe“ die Dinge SO auf den Punkt:

„das eigentliche Problem besteht darin, dass es mittlerweile und schon seit geraumer Zeit völlig gleichgültig geworden ist, wer gerade herrscht. Ob es den Leuten unter einer schwarz-gelben, schwarz-grünen, gelb-roten, grün-roten oder Jamaica-farbenen Regierung beschissen geht, spielt nicht mehr wirklich die große Rolle. Eine Politik, die wieder ernstgenommen werden will, müsste weitaus mehr tun, als mit parteispezifisch eingefärbten Almosen das grundliegende gesellschaftliche Syndrom zu retten. Die Systemfrage ist längst gestellt, selbst wenn sie öffentlich nicht gehört werden darf.“

Wie soll denn bittschön eine Bundesregierung (!) „die Systemfrage stellen“??? Die wird doch sofort weggejagt, wenn sie das täte! Die Systemfrage kann nur „das Volk“ stellen. Und heute auch nicht mehr nur national, sondern zumindest europäisch, so richtig erfolgreich nur international. Es ist also nichts als eine Träumerei, der ich wenig abgewinnen kann, so lange keine konkrete Alternative zum „System“ in Sicht ist – wohlgemerkt eine, die von großen Mehrheiten auch GEWOLLT werden kann!

Abgesehen davon ist es eine grundsätzlich falsche Vorstellung, dass es alleine an den gerade an der „Macht“ befindlichen Politikern liegt, ob es „den Leuten beschissen geht“. Das ist geradezu eine vormoderne Denke, die dem Kaiser (oder dem Pharao) alle Macht zuordnet. Etwas, was durch ein bisschen politische Bildung behoben werden könnte, sofern man es denn will.

Machtlosigkeit zugeben und das Volk befragen!

Im Grunde sind Trittins Überlegungen darauf gerichtet, wie man mit realer Machtlosigkeit umgeht. Weder kann eine Regierung Geld drucken, noch kann sie „ein anderes System“ einführen. Sie wird im Gegenteil gewählt, um als Regierung genau die Themen möglichst weitgehend umzusetzen, mit denen sie zur Wahl angetreten ist. Aber: Solange alle Politiker so tun, als wäre das „mal eben so“ auch leicht möglich, verdummen und betrügen sie das Volk – und produzieren dann die nächte Welle der Enttäuschung und Politikverdrossenheit.

Wenn ich mir allerdings viele Kommentare so durchlese, dann wundert mich kein bisschen, dass es „immer nur so“ abgeht. Wer will sich denn wirklich mit den realen Machbarkeiten auseinandersetzen?

Wäre ich in der aktiven Politik beteiligt, würde ich genauso ‚ran gehen wie Trittin: schon weit vorab ansagen, wo die Probleme liegen und dass nicht alles so easy ist, wie man das gerne hätte. Zusätzlich würde ich allerdings darum kämpfen, unserem System Volksentscheide zu den „gewünschten Veränderungen“ hinzuzufügen. Und dann pro Thema im Prozess offen legen, WAS DROHT.

Also:

WAS DROHT, wenn wir die AKWs recht schnell abschalten?
WAS DROHT, wenn wir eine Bürgerversicherung einführen?
WAS DROHT, wenn wir diese oder jene Subvention abschaffen?

Das jeweilige Drohpotenzial wird das sein, was die jeweilig „Betroffenen“ so als Kampfpotenzial aufführen. Z.B. könnte ein Konzern sagen: Dann ziehen wir uns aus Deutschland zurück und verlegen nach anderswo. Oder eine mächtige Berufsgruppe könnte mit Streik-artigen Verhaltensweisen drohen (Ärzte z.B.). Oder – bewahre! – der Strompreis könnte deutlich steigen. Etc. usw.

Und DANN soll das Volk entscheiden – wohl wissend um Nutzen und mögliche Kosten.

Auch solche Fragen wie die vom derzeitigen Finanzminister betriebene Einführung einer kommunalen Einkommenssteuer sollte das Volk entscheiden. NACH einer längeren Diskussionsphase, während der allen Interessierten klar würde, was das im Einzelnen bedeuten kann.

Warum eigentlich nicht?

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Diskussion

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11 Kommentare zu „Können Politiker auch anders? Was kommt nach Schwarz-Gelb?“.

  1. „… das eigentliche Problem besteht darin, dass es mittlerweile und schon seit geraumer Zeit völlig gleichgültig geworden ist, wer gerade herrscht. …“

    Solange IRGENDJEMAND HERRSCHT gibt es auch BEHERRSCHTE und die werden immer UNZUFRIEDEN sein, ganz egal von WEM oder WIE sie beherrscht werden.

    Erst wenn die Sucht danach, BEHERRSCHT zu werden nicht mehr bedient wird, können sich die UNBEHERRSCHTEN nach dem Aussterben der HERRSCHSÜCHTIGEN etwas Neues überlegen.

  2. Hallo Claudia,

    Du fragst:“Warum eigentlich nicht?“ Meine Antwort wäre die Gegenfrage:“Weil es zu optimistisch ist?“

    Ein Volksentscheid ist eine feine Sache – solange das Ergebnis des Entscheides das Ergebnis ist, das ich selbst erhoffe, wünsche und dafür kämpfe. Wenn es aber ein anderes Ergebnis ist? Ich bin mir sicher, dass wenn es zu einem Volksentscheid über S21 kommen würde, die Gegner von S21 „Betrug“ rufen würden wäre das Ergebnis „pro S21“ – und umgekehrt die Befürworter genau so, sofern das Ergebnis „contra S21“ wäre.

    Die andere Frage ist, inwiefern der Einzelne über die Details des jeweiligen politischen Problems und dessen Lösung informiert werden kann (und informiert werden will?. Ich persönlich kann mich nicht für jedes politische Thema begeistern – entweder fehlt mir die Zeit, oder auch genügend Hintergrundwissen (bezüglich Wirtschaftspolitik habe ich 1000% keine Ahnung). Für andere Themen fehlt mir auch schlicht und ergreifend das Interesse.

    Und nicht zuletzt gibt es die farblose Masse derjenigen Menschen, die sich überhaupt nicht für Politik interessieren.

    Der mündige Bürger via Volksentscheid ist meiner Meinung nach eine Utopie, zumindest wenn es um die Entscheidungsfindung in der gesamten Politik geht. Ich glaube nicht, dass die Menschheit als solche die Utopie wahr machen könnte.

  3. Danke dir für deinen Kommentar, Uwe. Ich finde es ziemlich frustrierend, dass REALPOLITIK offenbar kaum jemanden interessiert – jedenfalls von denen, die hier lesen.

    Nun ist auch dein Kommentar weit von einer realistischen Position entfernt. Ok, ist deine Meinung, ist ok so. Aber wär ich Politikerin, würd ich verzweifeln… :-)

    Mein Artikel handelt eigentlich davon, wie MACHTLOS diejenigen sind, die an die Regierung kommen. Man kann ein bisschen Geld von hier nach da umlenken – und jedes Mal gibts richtig Zoff von denjenigen, denen was genommen wird. Echt kein Spass!

    Ich fühl mich echt nicht „beherrscht“ und was meine persönliche Situation angeht, bin ich nicht unzufrieden. Unzufrieden bin ich aber z.B. mit dem Gesundheitssystem – ein verdammt komplexer Verhau, wenn man sich mal etwas damit befasst. Tu ich das, sehe ich nicht Herrschsüchtige und Beherrschte, sondern viele Interessengruppen, die ihre je eigene Macht einsetzen, um für sich das Beste raus zu holen. Und die Politiker moderieren ein wenig, werden von den Lobbys bestürmt und haben wahrlich keine Freude an dem ganzen Hickhack.

    DAS ist für mich reale Politik. Sich davon uninteressiert abzuwenden und große abstrakte Forderungen zu stellen, find ich lange schon nur noch öd und bedauerlich. Vielleicht klappt es ja, mehr direkte Demokratie einzuführen – und vielleicht motiviert das ja „das Volk“, sich ein bisschen mehr mit den Mühen der Ebene zu befassen.

  4. Ich verstehe Dich, Claudia, ich mag Dich und gerne würde ich Deine Bedürfnisse besser bedienen. :)

    Für mich aber ist der Zug abgefahren, auch nur einem POLITIKER *würg* überhaupt zuhören zu können. Ich krieg das Kotzen, wenn ich diese feisten Profiteure darüber reden höre, wohin sie als nächstes ein paar Almosen schieben wollen und wie sie IHRE angeblichen WERTE mit ein paar Euro-Transfers umsetzen wollen. Nein, ich will nicht vertreten, nicht gemanaged, nicht beschränkt, nicht gefördert, nicht belohnt und nicht gestraft werden. Ich will in kein SYSTEM, in dem endlos gestritten und dann ungerecht verteilt wird. Das Gesundheitssystem kann mich mal …. Seit Jahrtausenden heilen Menschen ihre Krankheiten ohne SYSTEM und schon immer ist der Endpunkt eines Lebens der Tod. Ich lege keinen Wert darauf, auch mit 91 noch zigarettenrauchend klugzuscheißen, weil mir auf Kosten des Systems diverse Bypässe gelegt wurden.

  5. @Uwe: Du scheinst ziemlich angefressen zu sein – und vermutlich willst du hier nicht ausbreiten warum. Im übrigen hab ich mich bedankt für deinen Kommentar. Es muss doch nicht jeder meine Anliegen teilen, ist doch klar.

    Selber hab ich mich schon immer für die konstruktive Seite der Dinge interessiert und engagiert – oft mit dem Erfolg konkreten Mitgestaltens. Und meine lange Lebenserfahrung sagt mir, dass es IMMER ungerecht ist, ganze Berufsgruppen über einen Kamm zu scheren – denn es gibt immer so’ne und solche, wie der Berliner sagt.

    Damit lasse ich es bewenden. Und kümmer mich um den nächsten Beitrag auf unverbissen-vegetarisch.de.

    P.S. das Gesundheitssystem brauchen die meisten weit VOR 91. Dem lässt sich nicht immer ausweichen, auch wenn man das gerne möchte.

  6. @Joachim: so pessimistisch bin ich da nicht. Die Schweizer machen es doch lange schon so. Die beschließen auch Großprojekte wie den St.Gotthart-Tunnel per Volksentscheid.

    Natürlich interessieren sich nicht alle für alles. Es würden sich aber mehr als jetzt für einiges interessieren, wenn es Volksentscheide gäbe. Und man würde auch nicht für jeden Pipifax Volksentscheide machen – sonder eben zu den „großen Themen“, die auf der jeweiligen Ebene (Bund, Land, Gemeinde) strittig sind.

    Bezüglich des Verfahrens und dessen Akzeptanz bin ich nicht der Meinung, dass man BETRUG vermuten würde, wenns nicht im Sinne der eigenen Meinung ausgeht. Denk an den Volksentscheid zum Hamburger Schulsystem: hat da jemand der unterlegenen Seite BETRUG gerufen? Ich hab nix derartiges gehört oder gelesen. Auf unsere Wahlverfahren scheinen wir doch zu vertrauen… :-)

  7. Ich war politisch nie aktiv und es hat mich auch nie sonderlich interessiert. Warum hätte es?
    In einer Kleinstadt, in der es keine sozialen Brennpunkte gab, über den 2. Bildungsweg zur Selbständigkeit. Jeder hat sein Ding gemacht und konnte nicht klagen.
    Wenn ich mein Leben und das meiner Klassenkameraden betrachte, dann möchte ich sagen, dass ich für mich das große Glück hatte, zwischen 1950 und 2000 in der wohlhabensten und friedlichsten Zeit gelebt zu haben, die es nach meiner Ansicht jemals auf deutschem Boden gab.
    Dafür bin ich dankbar, auch wenn vielleicht viele Leser dem nicht zustimmen können, was deren persönlchen Lebenslauf betrifft.
    Heute ist das für mich, und auch für fast 90 % meiner Klassenkameraden anders. Die Zeiten haben sich deutlich verändert und die Abstriche in allen Bereichen werden von Jahr zu Jahr umfangreicher. Dies ist aber generell noch kein Grund für mich zu jammern, war es doch abzuehen, das diese Erfolgstory sich nicht ins Unendliche fortsetzen kann.

    Da ich aber weder einer Regierungs- noch Oppostionspartei angehöre und das Ächzen und Quietschen des politischen Getriebes unter den angehäuften Lasten nicht mehr zu überhören ist, frage ich schon, was ist zu tun?`

    Ein Vorschlag wäre von mir, so wie Claudia es mit dem blog unverbissen-vegetarisch macht, die ganze Bandbreite des Dilemmas Stück für Stück den Menschen ins Bewusstsein zu bringen. Wie will man sonst den bisher unpolitischen Bürger an das ganze Geschehen heranführen, soll er mündig und auch in Kenntnis der wichtigsten Fakten entscheiden.

    Das in der Politik was nicht richtig läuft, und doch durch die neuen Bürgerbewegungen zu sehen ist, das Kraft und Gegenkraft immer noch zu wirken im Stande sind, das sollte bei allem negativen doch auch irgendwie Hoffnung machen.

  8. @Menachem: danke auch dir! Seit ich in Kambodscha war, ist mir die ungemein privilegierte Situation inmitten großen Wohlstands hierzulande sehr bewusst. Das gilt immer noch, trotz der „Abstriche“. (Und ich gehöre keinesfalls zu den Besserverdienern, denn mein freies Leben war mir immer wichtiger als Karriere, Besitz und Status.)

    Was mich ärgert, ist diese Neigung zur Fundamental-Opposition ohne den geringsten Ansatz, sich mal selber im Detail zu engagieren (wie sie im zitierten Kommentar zum Ausdruck kommt). Egal, wo man hin schaut: es ist nirgends so, dass es da „Tyrannen“ gibt, die einfach nur das Böse wollen, sondern immer sind es handfeste Interessen, die man sogar verstehen kann, versetzt man sich in die Lage derjenigen. Z.B. auch in die Situation der Baufirmen und Planer, die seit vielen Jahren drauf vertrauten, dass das mit Stuttgart21 seinen normalen Gang geht – schließlich ging das Projekt durch alle politischen Institutionen.

    Selber hab ich allerdings erlebt, wie eine ganze Bau-Ideologie (Abriss und Neubau, Licht, Luft, Sonne…) am Bürgerwiderstand zerbrochen ist. Also sage mir keiner, dass es nutzlos sei, sich einzubringen!

  9. hallo claudia,

    seit vielen monaten lese ich still deinen blog. jede woche ein- bis zweimal. weil mich deine meinung interessiert und meistens auch die derjenigen, die hier kommentieren.

    jetzt bin jedoch enttäuscht von diesem blogeintrag. du schreibst: „Zusätzlich würde ich allerdings darum kämpfen, unserem System Volksentscheide zu den “gewünschten Veränderungen” hinzuzufügen. Und dann pro Thema im Prozess offen legen, WAS DROHT.“

    ich möchte nicht bedroht werden. wie du das schreibst, erinnert es mich fatal an den bürgerentscheid zu mediaspree. dort wurde genau das gemacht: „wenn der bürgerentscheid gegen mediaspree ausfällt, dann…kommen so und so viele kosten auf den bezirk zu.“ das ist in meinen augen erpressung. da finde ich es schon phantasievoller, bei unnötigen vergünstigungen zu sparen, wie es offenbar trittin in dem von dir zitierten artikel vorgeschlagen hat.

    besonders fatal finde ich die formulierungen: „was droht, wenn wir die akw´s abschalten“ und „was droht, wenn wir eine bürgerversicherung einführen“.

    du sprichst im prinzip von einer positiven grundhaltung und dann operierst du mit drohszenarien. das verstehe ich nicht.
    was ich auch nicht verstanden habe: denkst du persönlich, der strompreis wird sich erhöhen, wenn die akw´s abgeschaltet werden?

  10. @Jac: es freut mich außerordentlich, wenn sich mal ein „sonst stiller“ Leser hier erstmalig einmischt! :-)

    Also: ich meinte damit nicht die Art, wie man das dann letztlich KOMMUNIZIERT, sondern schlicht die TRANSPARENZ gegenüber den Bürgern. Und zwar auch bezüglich aller Drohpotenziale, die die Politiker von Seiten der jeweils betroffenen/einzuschränkenden Interessengruppen zu hören bekommen.

    Bei Stuttgart21 werden da z.B. unterschiedliche Summen genannt, was ein Abbruch des jetzigen Plans kosten würde. Ebenso werden auch andere Folgen diskutiert, die sich aus einem Umstieg auf ein oberirdisches Projekt ergeben.

    DAS ist Transparenz – und die sollte eben schon gleich vorab, also wenn das Thema auf den Tisch kommt, bzw. sich als schwer strittig erweist, hergestellt werden.

    Die Formulierung „was droht?“ hab ich deshalb gewählt, weil ich in jungen Jahren engagiert Schach spielte. Dabei geht es immer darum, gut voraus zu wissen, WAS DROHT. Also: Was kann die Gegenseite tun, wenn ich diesen oder jenen Zug mache?

    Warum sollte in der Politik immer nur alles schön geredet werden? Wenn es Volksentscheide geben soll, müssen alle Aspekte eines Themas, auch die möglicherweise unschönen Folgen kommuniziert werden. Von ALLEN Beteiligten, doch sehe ich die jeweils in Ämtern befindlichen Politiker da in einer Moderatorenrolle: sie müssen Einschätzungen abgeben, wie wahrscheinlich die jeweils angedrohten Szenarien sind – was vermutlich wieder je nach Partei verschieden ausfallen würde. Aber so ist es eben in einer Demokratie: niemand hat die Wahrheit gepachtet.

    Der Bürgerentscheid in Sachen Media-Spree kam wie meistens viel zu spät. Viel zu viele vollendete Tatsachen waren schon geschaffen, bzw. „fest geklopft“- Und es war nur ein „bezirklicher“ Entscheid, der nicht viel bringt, wenn der Senat eben an sich zieht, was er für „zu wichtig“ hält. Es wundert nicht, dass die Initiative den Sonderausschuss verlassen hat, nachdem klar war, dass die grundsätzliche Planung nicht wirklich angetastet werden soll – bezirklicher Entscheid hin oder her.

    Deine letzte Frage kann ich nicht beantworten, weil ich darüber zu wenig weiß. Z.B. hab ich keine Ahnung, wieviel Regelungsmacht der Staat da noch hat bzw. haben könnte. Wohl aber wäre ich bereit, doppelt soviel zu bezahlen, wenn dafür die AKWs schnell abgeschaltet würden.

    Alles hat allermeist zwei Seiten. Und vom MÜNDIGEN BÜRGER erwarte ich die Bereitschaft, abzuwägen und zu dann risiko-bewusst zu entscheiden.

    Mich nervt es, wenn Politiker Bürger wie Kinder behandeln, denen man mit der Schlechtigkeit der Welt nicht kommen darf, sondern immer ein „alles wird gut“ vormachen muss.

    Ich wünsch mir statt dessen solche, die sagen: ok, das (=Thema X) will ich auch verändern! Aber Gruppe X sagt schon jetzt an, dass sie das bekämpfen und dagegen klagen wird (oder Schadenersatz fordern, Arbeitsplätze abbauen, etc.)

    Und dann die Bürger fragen: Sollen wir es trotzdem machen?

  11. ich noch mal :)
    du siehst politiker in der moderatorenrolle zwischen bürger- und wirtschaftsinteressen? regiert werden sozusagen als mediationsverfahren? nee, das kann doch nicht sein. das geht schon an der stelle schief, wie du beschreibst, wo sich hinter den „einschätzungen“ parteiinteressen verstecken. das ist ja das dilemma.

    ein bürgerentscheid könnte für mich ein zusätzliches mittel sein, um sich tatsächlich volksvertreter nennen zu können. aber die bürger und bürgerinnen den erpressungsversuchen der wirtschaft auszusetzen? mit deren argumenten? nach dem einheitsprinzip: „wenn nicht…dann“? gerade das würde ich entmündigung nennen.

    in einem bürgerentscheid möchte ich selbstverständlich über pro und contra informiert werden. ohne jegliche drohpotenziale. sondern reine fakten. den rest möchte ich dann selbst erledigen.

    zu S21: das ist ein ganz und gar undemokratisches projekt. die bürgerbeteiligung, auf die sich die politische seite beruft (und die die befürworter mit aufgreift), hat sicherlich so ausgesehen: in einer kleinen, versteckten amtsstube haben vor jahren die pläne ausgelegen: unmengen von papier, die man unmöglich lesen kann (ein bürgerfreundliches handout hat die verwaltung nicht erstellen können, vermute ich, weil die planer angst haben, andere könnten ihre worte und angaben falsch interpretieren, was dann rechtliche konsequenzen haben könnte). geöffnet war die amtsstube wochentags von 9 bis 16 uhr, vielleicht am donnerstag bis 18 uhr. informiert wurde der bürger darüber in einer pressemitteilung auf der landesregierungsseite.

    dann sind da ein paar engagierte und interessierte bürger hingetappert und haben – möglicherweise – eine einwendung geschrieben. das war es dann mit der bürgerbeteiligung.

    man kann als bürger natürlich nicht erwarten, dass so eine aufklärung mit dem gleichen aufwand betrieben wird, wie bei PR-kampagnen á la „be berlin“…

    zum schach spielen: deshalb nennt man wohl oft das politische / wirtschaftliche vorgehen „geschachere“ ;)
    man könnte ja auch sagen: „wir fahren vorausschauend“. und zwar nicht nur bis zur nächsten wahlperiode.