Heute las ich im Logbuch von Gerd Lothar Reschke den Satz:
„Schreiben will etwas; es hat einen Grund, eine Aufgabe. Es geht um Erkenntnis – und nicht um „mich“, mein Denken, meine Gefühle oder sonstigen Interessen, Wünsche oder Vorbehalte. Und es geht nicht um Kunst, Kultur, „Resonanz“. Es ist die Anwendung eines Instruments auf die Sache – auf die Situation, das Ausgangsmaterial.“
Dieser Satz steht im Rahmen einiger Reflexionen über das Herausgeben von Büchern, darüber, in welcher Weise das den Autor vom „Eigentlichen“ ablenken kann. Fragen der Vermarktung, der Selbstdarstellung und der damit verbundenen Eitelkeiten drängen sich vor, und wer das nicht bemerkt, wird flugs verschluckt von der Eigendynamik des „Geschehens“, wie J. Krishnamurti das Alles-Was-Ist zu nennen pflegte.
Was ist nun aber „das Material“, die Sache, um die es im Schreiben geht? Nicht mein Denken, meine Gefühle, meine Interessen? Über was sollte ich sonst schreiben, wenn ich ehrlich sein will? Und doch stimmt es in dem Sinne, dass es nicht um die Lösung irgendwelcher gedanklicher Fragen, nicht um das „Bedienen“ meiner Gefühle und auch nicht ums Erfüllen von Wünschen oder Erreichen von Zielen geht. All das ist lediglich Anschauungsmaterial: Wenn ich SO denke, fühle ich in DIESER Art und handle so! Schau an! Aha!
Authentisches Schreiben speist sich aus dem brennenden Interesse, zu erkennen, was ist. Ein Teil von dem, was ist, bin ich traditionell gehalten, als „ich selbst“ zu bezeichnen. Dieser Bereich erscheint abgegrenzt vom großen Rest, gebunden an den Körper, den ich sinnlich wahrnehme. Den die Wissenschaft untersuchen kann, die mir sagt, dass all mein Denken, Fühlen, Wahrnehmen, Spüren mittels chemischer und chemo-elektrischer Vorgänge zustande kommt, durch materielle Prozesse, deren Funktionieren durch Medikamente, Drogen, Krankheit und äußere Einflüsse verschiedenster Art beeinflussbar sind. Neuerdings werden auch Licht und Quanten als Dimensionen dieser Phänomene genannt, doch ändert das grundsätzlich nichts an der Lage, in die mich diese „Erklärung“ bringt: Was bitte hat das mit MIR zu tun?
Diese Lage alleine reicht nun nicht dazu hin, an der Frage „Wer bin ich?“ ein mehr als spielerisches Interesse zu fassen: Mal ein bisschen philosophisches Staunen, wenn gerade nichts Wichtiges anliegt, sporadisches Fasziniert-Sein von spirituellen Lehren und Übungssystemen, die den Eindruck vermitteln, als gäbe es eine Antwort auf die Frage, und wenn man sie hätte, wäre alles in Butter. Es erscheint lange Zeit doch wesentlich einfacher, die Dinge, die nicht „in Butter“ sind, durch konkrete Befassung mit dem jeweiligen Leiden oder Wünschen zu lösen, als durch Versenkung in vom Alltag arg „abgehobene“ Fragen. In einer Welt des Lärms baue ich lieber erstmal eine Schalldämmung in die Wohnung oder nutze Oropax, anstatt lange über das „Klatschen der einen Hand“ zu meditieren oder mich zu fragen, ob auf einem Planeten ohne hörende Wesen der Ast, der vom Baum bricht, ein „Geräusch“ macht.
Und doch: Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. Der verrückt klingende Satz von Kirkegaard bezieht sich auf die Tatsache, dass man sich nicht entkommen kann. Irgendwann bin ich oft genug gescheitert, habe oft genug erlebt, dass das erreichte Ziel das erhoffte Glück nicht bringt, oder dass die letzte Selbstverbesserungsmaßnahme, die ich mir auferlegte, um der Vorstellung vom richtigen Leben näher zu kommen (gesünder, liebevoller, effektiver…), im Zuge ihrer Umsetzung soviel neue Probleme aufwirft, dass ich die Übersicht verliere, worum es eigentlich geht.
Auch MIT diesen frustrierenden Erfahrungen setze ich mich nicht hin und meditiere „Wer bin ich?“ (anstatt nur auf die Luft zu achten, wie sie an den Innenseiten der Nasenflügel aus- und einströmt: meine Methode, wenn ich schon mal „sitze“, was aber nur selten vorkommt).
Nein, mich hat es im Schreiben erwischt: Indem ich schreibe, was ich erlebe, dabei fühle und darüber denke, begebe ich mich „automatisch“ in die Position der Beobachterin – und irgendwann gibt es von da kein zurück. Es ist ein schleichender Transfer der Ich-Identifikation: Weg von der Vordergrund-Person, die dieses und jenes tut, erlebt und erleidet, hin zu diesem einfachen Schauen, was geschieht. (Wobei interessanterweise die stärkste Verbindung zwischen den Angelegenheiten der Vordergrundperson und der Beobachterin nicht im Kopf zu bestehen scheint, sondern im Herzen. Ein psychisches „Organ“, von dessen Eigenleben ich früher nicht einmal etwas wusste! )
Brennendes Interesse flammt an jenen Punkten auf, wenn die Vordergrundperson mit ihrem Latein am Ende ist. Das „Latein“ dieses Alltags-Ich ist ja der logisch denkende Verstand, das rechnende Denken, das alles für erkennbar, analysierbar, planbar und machbar hält. Wie verstörend, wenn einfach nicht klappt, was sich dieser Verstand vornimmt. Oder wenn inmitten der Umsetzung die Motivation entgleitet: Was war es, was mich trieb? Warum ist es plötzlich weg? Was mach ich jetzt mit dem angefangenen Aufwand? Und überhaupt: WAS will ich eigentlich?
Das „gespaltene Dasein“ bietet eine Reihe seltsamer Verstrickungen in Paradoxe: Wenn ich mehr die Beobachterin bin, was scheren mich dann die Problemchen und Bedürfnisse des Alltags-Ichs? Ist das nicht alles genau besehen recht banal? Und an vielen Stellen ja doch sehr leicht lösbar: Mal öfter die Füße still bzw. die Finger weg lassen, Gelassenheit bringt Gelingen – und wenn nicht, was soll’s: Leben ist Leiden, sagte schon Buddha, unser ständiger Versuch, Leiden zu meiden und Freude zu suchen, ist Wurzel allen Übels.
Diese Art Verstrickung entzieht dem Vordergrund-Ich Energie. Die Erkenntnisse der Beobachterin bleiben ihm ja nicht verborgen, es strengt sich weniger an, denn die bisher das Leben und Streben dominierenden Impulse sind relativiert, treiben nicht mehr ungebrochen Richtung Handeln. Auch der Glaube, mittels zielgerichteter Anstrengungen das eigene Glück zu vermehren, die Idee, in der Zukunft werde alles besser, wenn nur alles richtig gemacht wird, erodiert unaufhaltsam. Das hat nicht nur befreiende und entspannende Wirkungen, sondern macht auch träge. War es bisher der innere Schweinehund, der manches verhinderte, so sind es jetzt gar „höhere Einsichten“, die als Gründe herhalten, um sich nicht besonders zu fordern: Alles doch nur eitler Tanz ums Ego, romantische Gefühlsduseleien, Kreisen in Gewohnheiten und Denken in Schubladen, Streben nach MEHR, Geilheit auf den nächsten Kick – da ist es doch honoriger, still in der Ecke zu sitzen und sich die Hände nicht schmutzig zu machen. Weise lächelnd kommentiert man die Verirrungen derer, die noch ganz gefangen in ihren Laufrädern strampeln – selbst auf dem besten Wege, langsam in Fäulnis überzugehen wie stehendes Wasser.
Zum Glück rettet mich mein Temperament und meine Lust auf Leben immer wieder aus dieser Schleife. Was schert mich die höhere Einsicht, wenn ich vor Langeweile sterbe? Und ab geht’s in die nächste Runde der Spirale! Irgend etwas findet sich, ein neues Thema schiebt sich in die Aufmerksamkeit, bündelt erneut meine Strebungen und ich lasse mich doch wieder ein. Wenn ich genau hinsehe, ist es die erotische Dimension des Lebens, die mich trotz der Widersacher (zweifelnder Verstand, „höhere Einsicht“, innerer Schweinehund) immer wieder in Bewegung versetzt. Jeder engagierte Schritt in irgend eine Richtung verändert den eigenen Blickwinkel – mal ganz davon abgesehen, ob damit sonstige Zwecke erreicht werden und ob diese einen Sinn haben. Sich dieser Selbst (und damit Welt-)veränderung immer wieder auszusetzen, ohne zu wissen, warum man es tut und was dabei heraus kommen sollte, ist das wirkliche Abenteuer.
Es geht um Erkenntnis, sagt Gerd-Lothar, aber WER ist es, der sich am Erkennen freut?
Damit verfalle ich einer Verführung, die den Schreibenden gelegentlich ereilt: Jetzt das Passende sagen, wenn es einem schon mal einfällt! Bloß keinen weisen Spruch auslassen, der sich gerade anbietet! Dabei frag ich mich immer noch nicht wirklich nach diesem „Wer?“, sondern bin einfach beglückt, wenn ich Zusammenhänge erkenne. „So einfach!“, denke ich dann begeistert und will das Erkannte gern allen mitteilen. Das aber ist nicht so leicht, wie es zunächst scheint: Wer will denn schon wirklich reden? Durch wie viele Mauern muss man dringen, sie womöglich persönlich einreißen, damit sich einer traut, „aus dem Nähkästchen“ seiner persönlichen Einsicht und Lebenskunst zu berichten?
Man lernt, was Frieden ist, wenn das einfache Hinsehen und darüber berichten zur ständigen Praxis wird. Wenn persönliche Dialoge gar nicht mehr anders geführt werden können, als in dieser offenen Weise, dann sieht man mit Schrecken, wie viele darin gefangen sind, ihr Leben als Kampfmaschine zu fristen, immer darauf bedacht, beim Mitmenschen „anzukommen“, ein gutes Bild abzugeben, eine widerspruchsfreie Persönlichkeit vorzuzeigen und sich von niemandem ans Beim pinkeln zu lassen. Nahezu alles, was man sagt, kann als Angriff verstanden werden, wenn das Gegenüber voller Angst in seiner persönlichen Kapsel der Wahrnehmung steckt, die ihm die Welt als Versammlung böser Feinde zeigt.
Frieden haben heißt, einfach auszutauschen, was man sieht – sowohl im Blick auf die Welt als auch auf das eigene Denken, Fühlen, handeln in ihr. Ich bin mir ein Forschungsfeld und keine Baustelle mehr, wie früher einmal. Ich berichte von dem, was ich erkennen kann, nicht mehr und nicht weniger.
Ein herzliches Dankeschön an Ina (buerodienst-berlin.de), die mir ein Wilber-Buch schickte „für ca. 180 mal Diary-lesen“. Das war der kleine Tritt in den Arsch, der mir gefehlt hat, hier mal wieder zur Sache zu kommen: zu mir selbst. (Gelesen hab ich es noch nicht, freue mich drauf!)
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3 Kommentare zu „Vom Schreiben und Erkennen“.