„Sie sind ja im Internet ziemlich aktiv?“ lächelt mein Mitmieter aus dem ersten Stock mich fragend an, als er sein Paket abholt. In „meinem“ Mietshaus bin ich Anlaufstelle für alle Paketdienste dieser Welt, denn ich arbeite zuhause und bin fast immer erreichbar.
Es ist das erste Mal, dass mich jemand aus dem Haus auf meine Web-Aktivitäten anspricht. Auf der Suche nach „Urban Gardening“ fand der Nachbar mein Gartenblog und stöberte wohl weiter. „Sogar Urgestein!“, meinte er noch – und ich forderte ihn auf, mir doch mal eine Mail zu schicken. Falls mal was in Sachen Haus zu besprechen ist…
Während der kommerzielle StartUp-Sektor sich in den letzten zwei Jahren massiv bemüht, der Welt mit allerlei nützlichen (?) Anwendungen das lokale Web zu erschließen, schreitet die real nutzbare Vernetzung von immer mehr Individuen ganz von selber voran. Je mehr Menschen auf irgend eine Art mit ihrem realen Namen im Netz vertreten sind, desto wahrscheinlicher wird auch der Kurzschluss zwischen virtuellem und physischem Raum – etwas, auf das wir psychisch noch nicht wirklich vorbereitet sind.
Als ich mit einem Freund darüber sprach, der ebenfalls gerne Pakete für Andere annimmt, berichtete er, dass er die Adressaten schon mal googelt und per Mail auffordert, das Päckchen abzuholen, wenn sie zu lange auf sich warten lassen. Auch ich hab‘ das schon versucht und fand so beiläufig heraus, was die Gewerbetreibenden im Erdgeschoss so machen. Und sicher werd‘ ich bald mal schauen, wer „Jan“ aus dem ersten Stock ist – netzmäßig betrachtet.
Virtueller Raum und „reales Leben“ werden eins
Was für ein Konfliktpotenzial da lauert, sei hier mal mittels einiger Punkte skizziert, die mir jemand (anonym!) als Begründung fürs „anonyme Bloggen“ ins Gartenblog schrieb:
- Es gibt immer wieder Menschen, die auch mit den harmlosesten Meinungen zu einem Thema nicht einverstanden sind. Ich möchte z.B. nicht im Supermarkt oder Hausflur von meinen Nachbarn auf meine Meinung zum Thema XY angesprochen werden!
- Man bloggt vielleicht auch mal über sensible,umstrittene Themen (nicht: intime…).
Dann darf man sich bspw. beim nächsten Firmengrillabend rechtfertigen, warum man als Vegetarier gegen Fleischessen ist bzw. wie um Gottes Willen einem dabei schlecht werden kann. Das kann das Verhältnis zum Chef schon belasten. - Man schreibt vielleicht etwas, dass sich in einem Jahr als politisch inkorrekte Meinung oder als überholt (Fachwissen) herausstellt und muss sich dann noch lange danach dafür rechtfertigen,auch, wenn man inzwischen selbst eine andere Meinung hat.
- Vielleicht hat man ein Hobby, über das man im RL mit wenigen Menschen reden kann und bloggt deshalb darüber. Das Hobby passt aber nicht so richtig zum Beruf und dem eigenen “Image” (Beispiel: Besitzer eines Bikeshops und als “harter Kerl” bekannt, kocht gern Marmelade und Chutneys ein und möchte Rezepte austauschen – das finden die Menschen in seiner Umgebung und potentielle Kunden aber eher lächerlich!).
Bye bye Anonymität, hallo Transparenz!
In Berlin passiert es immer wieder, dass ein Verstorbener erst Wochen später in seiner Wohnung gefunden wird. Dann sind alle empört über eine solche Vereinsamung, über die fehlenden Kontakte innerhalb des Hauses, über die städtische Anonymität insgesamt. Aber: gerade diese Anonymität ist es, die viele vom Land weg und in die Stadt treibt. Hier herrscht eben (bisher) keine ständige soziale Kontrolle, sondern „leben und leben lassen“. Ignoranz ist auch gnädig und entlastet von den Forderungen „normalen Miteinanders“, die gegenüber so vielen gar nicht zu erfüllen wären, beim besten Willen nicht! Man begegnet täglich vielen Menschen, die man nicht kennt und die einen in der Regel auch nicht kümmern. Im Haus reicht ein Nicken, wenn man sich begegnet – mehr wird nur selten gewollt.
All das wird sich vermutlich ändern. Auch wer „anonym bloggt“, ist oft genug über andere Kanäle findbar oder beteiligt sich an sozialen Netzen, die mehr denn je den Klarnamen als Identität nahe legen oder gar fordern. Und viele WOLLEN sich auch gar nicht verbergen, sondern ganz im Gegenteil mir ihrer ganzen Person Authentizität leben: so bin ich, so denke ich, das mache ich – wer sich daran stört, darf einen Kommentar hinterlassen!
Was aber, wenn der Kommentar plötzlich im eigenen Treppenhaus kommt?
Eine neue Netikette für Reality 2.0?
In nicht allzu ferner Zukunft wird immer spürbarer werden, wie die stadttypische Anonymität wegbröckelt. Jeder googelt jeden, der – warum auch immer – gerade Aufmerksamkeit auf sich zieht. Man wird oft nicht mehr wissen, was man sich beim Kennenlernen erzählen soll, weil das Gegenüber ja schon einiges weiß – aber was? Menschen, die früher gerne ganztags aus dem Fenster schauten, um zu beobachten, was die Nachbarn und Passanten machen, werden das netzgestützte Stalken für sich entdecken. Und im Hausflur begegnet man vielleicht dem Nachbarn, der neuerdings über seinen Krebs bloggt – soll / darf / kann man ihn drauf ansprechen? Wär das ein Übergriff oder genau richtig?
Wir werden neue Regeln brauchen für den sich abzeichnenden Zusammenfall der bisher zumindest gefühlt hübsch abgegrenzten Sphären „Internet“ und „reales Leben“. Wir sind das Netz – aber wie wird es sein, wenn dessen Transparenz unseren Alltag umgreift?
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Zu den schönen und nützlichen Seiten dieser Entwicklung siehe auch:
Stell dir vor, es gäbe ein soziales lokales Netz…
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9 Kommentare zu „Internet lokal: Wenn der Nachbar dich googelt“.