„Sollen wir dein Leben aufräumen?“ fragt die „Messi-Therapeutin“ den 32-jährigen Frührentner Markus, der mit seinem Vater in einem Chaos lebt, das jeder Beschreibung spottet. Natürlich stimmt Markus zu, sonst wär‘ ja aus der neuen Folge von „Start in ein neues Leben“ nichts geworden.
Die Herkulesarbeit kann also beginnen: zuerst rückt das Entmüllungsteam an und befreit das Haus von 45 Kubikmetern Dreck und Müll, die sich dort in einem Ausmaß angesammelt und aufgetürmt haben, dass man sich als Zuschauer so richtig schön gruseln kann. Sämtliche total versifften Möbel kommen gleich mit weg. Markus hatte in der letzten Zeit nur noch auf der Wohnzimmercouch geschlafen, da er wegen der Müllberge sein Bett gar nicht mehr erreichen konnte. Es folgt die Ungezieferbekämpfung, denn überall haben sich Insekten breit gemacht. Danach das Putzen, wobei die Reinigungsdienstleisterinnen ausgiebig zu Wort kommen: so einen Dreck haben sie noch nie gesehen.
Während der Arbeiten erleidet der extrem übergewichtige Markus einen Kreislaufkollaps und kommt für zwei Tage in ein Krankenhaus, wo man ihn „gleich mal richtig durchcheckt“. Denn natürlich ist er mit seinen 220 Kilo Lebendgewicht Diabetiker, sein Blutzucker ist entgleist – eigentlich ein Wunder, dass er überhaupt noch lebt!
Start in ein neues Leben
Jetzt aber wird – dank RTL! – alles anders: die Wohnung wird renoviert, mit schicken neuen Möbeln ausgestattet. Markus wird ordentlich medikamentiert und bekommt einen Ernährungs- und Fitness-Coach. Denn sein Messi-Leben wird nicht etwa nur mal oberflächlich durchgeputzt, damit man als Zuschauer eine Gaudi hat, oh nein! Auch ans Danach denkt der Sender: die Messi-Therapeutin Sabina Hankel-Hirtz wandert durchs Dorf und befragt die Anwohner über Markus, um sich ein Bild von dessen Leben abseits der Müllberge zu machen. Und oh Wunder: eigentlich mögen ihn viele, er gilt als hilfsbereit, brachte sich früher in einem Verein ein, und hat sogar eine „beste Freundin“. Nur hat er sich eben zurück gezogen, niemanden mehr ins Haus gelassen, und wer doch mal rein kam, flüchtete mit Grausen. Jetzt aber sind alle froh über den von RTL ermöglichten „Start in ein neues Leben“ und versprechen, sich künftig wieder um Markus zu kümmern.
Dann der große Moment, minutiös zelebriert: Markus und sein Vater betreten das frisch renovierte und neu ausgestattete Haus. WOW! Alles strahlt in sauberer Klarheit und sieht angenehm heimelig aus. Sogar ein paar antike, aber ebenfalls verdreckte Möbel aus der Scheune hat das „Messi-Team“ restauriert. Dem alten Herrn treten Tränen der Freude in die Augen und Markus lässt noch einige „Wows“ folgen. Vor dem Haus versammeln sich derweil die Dörfler, um die Wiederauferstehung des Markus aus dem Müll zu feiern. Als er mitsamt Vater und Therapeutin aus der Tür tritt, ist der Jubel groß: wieder eingebunden in die soziale Gemeinschaft des Dorfes, dessen Bewohner nun darauf achten werden, dass alles sauber bleibt, kann Markus einer lebenswerten Zukunft entgegen sehen. Sogar eine Putzhilfe für sechs Wochen spendet ihm der Sender noch, damit er lernen kann, wie man Müllberge vermeidet. Es ist einfach an alles gedacht!
Rettung gegen volle Transparenz
Beim Zappen durch die Kanäle bin ich gestern an dieser Sendung hängen geblieben. Anstatt in gewohnter kritischer Empörung über soviel inszenierten Voyeurismus gleich wegzuschalten, hab‘ ich mich drauf eingelassen. Mich berühren und mitnehmen lassen in die Gefühle, die diese Reality-Doku auslöst. Wohliges Entsetzen über die grusligen Lebensumstände, Spannung während der „Transformationsarbeiten“, Freude über den Erfolg, die Befreiung, die Rettung: siehe, alles wird gut!
Das Geschäft, dass da läuft, ist recht klar: „Rettung“ mit hohem Aufwand gegen die Bereitschaft des Messis, sich umfänglich zu zeigen. Und zwar mit allen degoutanten Details, mit Bergen aus Essensresten, Kakerlaken-Nestern und herum liegenden Exkrementen. Mit der eigenen Krankheit und ihrer Geschichte, sowie mit den Defiziten und Problemen noch vorhandener Beziehungen, die die Sendung mittels „therapeutischer Gespräche“ aktualisiert – etwa indem sich Markus bei seinem hilflosen Vater explizit entschuldigen muss, dass er ihn hat so im Dreck versacken lassen. Brisante emotionale Momente werden mittels audiovisueller Tricks besonders hervor gehoben, wie man es aus Casting-Shows kennt. Und wo sich von alleine nichts Zeigenswertes tut, hilft die Messi-Therapeutin nach. Schließlich sollen die Zuschauer richtig mitfühlen können und nicht einfach nur informiert werden!
Abgründige Ausbeutung oder Win-Win-Situation?
Ganz ehrlich: die wohlfeile Verurteilung dieser Sendung als bloß böse Ausbeutung der Betroffenen zu Gunsten gelangweilter, nach neuen Aufregern gierender Zuschauer fällt mir nach dem Zusehen nicht mehr so leicht. Und zwar nicht deshalb, weil ich mich nun grade selber vom Messi-Drama mitnehmen ließ, sondern mit Blick auf den Erfolg: auf den immensen Aufwand, den kein Sozialarbeiter-Einsatz unserer Behördenwelt jemals zustande brächte. Den auch in aller Regel kein Freundeskreis leisten kann, sofern es im Leben eines Messis solche noch gibt. Die Einbindung (und auch Verpflichtung!) der Dörfler, die Hilfen für die Zukunft (Coach, Putzhilfe) – alles in allem ermöglicht das doch tatsächlich diesem Markus einen echten „Start in ein neues Leben“. Einen Ruf hatte er sowieso nicht mehr zu verlieren, wie er da so isoliert in seinen Müllbergen mehr vegetierte als lebte – ist der Preis des „Outings“ da wirklich zu hoch?
Zwei Millionen Messis – wen kümmerts?
Jede Woche „rettet“ RTL2 also einen solchen Messi. Mich würde interessieren, was eine Nachschau nach einem Jahr ergäbe. Konnten die Betroffenen die Chance nutzen und das „neue Leben“ halten?
Und ich denke auch an all die anderen Messis, die „nicht genommen wurden“, weil sie vermutlich gar nicht mehr zu einer solchen Kooperation fähig wären. Und jene, die erst gar nicht entdeckt werden, weil niemand mehr ein Interesse an ihnen hat. Zwei Millionen Menschen sollen laut RTL vom Messi-Syndrom betroffen sein. Ich vermute mal, dass nicht alle in so extremen Verhältnissen leben wie Markus, doch frag‘ ich mich: was geht da eigentlich vor? Wie kommt es, dass so viele Menschen die einfachste Lebensgestaltung nicht mehr schaffen? Woran liegt es, dass Menschen so abstumpfen, dass sie im eigenen Müll versinken?
Ist es der Preis unserer individuellen Freiheit? Die es jedem überlässt, sich selbst zu zerstören, Hauptsache, das Elend bleibt in den eigenen vier Wänden? Gibt es das Phänomen auch in anderen Ländern, anderen Kontinenten? Gibt es Hilfen abseits der TV-Spektakel – und wenn ja, welche?
So abgründig diese Serie auch ist: sie hat mich zum Nachdenken angeregt. Allerdings hilft das keinem einzigen Messi weiter – im Unterschied zur Sendung, die von vielen mit einigem Recht als unterirdischer Trash abgehakt wird. Ist doch irgendwie unbefriedigend, oder?
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Und hier kann man sich das Ganze anschauen – hätt ich zu Beginn der Sendung rein gezappt, hätt‘ ich nicht weiter geguckt…
Es gibt auch ein Interview mit der Messi-Therapeutin Sabina Hankel-Hirtz.
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21 Kommentare zu „RTL-Unterhaltung: Messi-Leben aufräumen – Start in ein neues Leben“.