Worum geht es eigentlich in diesem Leben? Die Frage erfordert zwar eine individuelle Antwort, doch kommt sie mir vor allem dann in den Sinn, wenn ich lese, wie andere sich ums „richtige Leben“ bemühen. Dreh- und Angelpunkt solcher Strebungen ist meist das eigene Ich, das gleichzeitig als bloßes „Konzept des Verstandes“ angesehen wird (denn: WO ist das Ich?? Es gibt nichts Substanzielles, an dem wir es festmachen könnten).
Diese Sicht der Dinge schützt nun aber nicht vor dem spirituellen Materialismus, der das eigene Wohlergehen als „ganz bei sich sein“ definiert und idealisiert, und so neue Probleme mit der Außenwelt produziert: Immer wieder sind da Andere, die mit ihren gewöhnlichen Ängsten und Aggressivitäten, mit ihren sozialen Masken und mentalen Verwirrungen die Harmonie stören. Wie unangenehm, von diesem ganzen Wust der Alltäglichkeit berührt und bewegt zu werden!
Entspannt und berührbar
Ich beschreibe, was ich phasenweise an mir selbst erlebte, damals, als die jahrelange Yoga-Praxis mich tatsächlich langsam veränderte: mehr Wachheit im Alltag, mehr Gespür für „feine Schwingungen“ und Stimmungen, ein gleichzeitiges Gewahrsein von „innen“ und „außen“, wobei die Grenzen immer mehr verschwammen. Die regelmäßigen Übungen hatten meine Muskelverpanzerungen nach und nach aufgelöst, meine Atmung normalisiert und verlängert und mich dadurch „durchlässiger“ und sehr viel sensibler gemacht.
Einerseits erlebte ich das als Befreiung von vielerlei Lasten, die ich in Gestalt von Verhärtungen und Verspannungen Jahrzehntelang mit mir geschleppt hatte. Andrerseits war es auch ein Verlust: Kein „dickes Fell“ schützte mich mehr vor den Gefühlen der Mitmenschen, die ich nun sehr viel intensiver mitbekam als je zuvor. Auch Straßen und Plätze, Gebäudeformen und Vegetation, Verwahrlosung oder Gepflegtheit der Umgebung hatten auf einmal sehr viel größere Wirkung auf mein Befinden – es ging soweit, dass ich zuhause deutlich ordentlicher wurde, weil ich so ein „kreatives Chaos“ auf einmal als Belastung empfand. „Yoga als Weg, nun endlich doch zum Spießer zu werden!“, dachte ich in einem Moment innerer Renitenz, doch wurden diese Einsprüche meines „alten Ichs“ immer weniger.
Das lag an den auch fürs „Ego“ einsichtigen Vorteilen, die der neue „Normalzustand“ mit sich brachte: nicht mehr ruhelos und getrieben, nicht automatisch in Erinnerungen und Zukunftsplänen kreisend – ich fühlte mich „ganz entspannt im hier und jetzt“, ein Befinden, das leicht bis hin zu einem ekstatischen Gefühl intensiviert werden konnte, einfach so, durch Gewahrsein des Körpers und des Atems.
Mein Haus, mein Garten, meine Wachheit, mein innerer Friede
Dass ich mit dem vom ZEN inspirierten meditativen Yoga meines Lehrers Hans Peter Hempel eine Praxis übte, die nicht allein den Geist ansprach, sondern auch den Körper „auf die Reise mitnahm“, rettete mich später aus der Falle, die ich „spirituellen Materialismus“ nenne. Eine Haltung also, die mittels spirituell motivierter Übungen und Lebenshaltungen doch nur wieder das eigene Wohlbefinden verbessern und erhalten will: ich, ich, ich und mein Haus, mein Garten, mein Auto, mein innerer Friede, meine frei fließenden Energien, meine Glückseligkeit!
Hier sollte ich vielleicht mal einschieben, dass meine „Gutmensch-Phase“ auch damals schon hinter mir lag. Das Leben hatte mich belehrt, dass „das Böse“ nicht ausschließlich bei den Anderen, sondern auch in mir sein Schattendasein lebt (und Energien zur Verfügung stellt, auf die ich nicht verzichten will). Ich hatte mit mir und all meinen hellen und dunklen Seiten Freundschaft geschlossen und lief nicht Gefahr, nach Heiligkeit oder dergleichen zu streben. Jegliche militante Lustfeindlichkeit, bemühte Askese und angestrengte Nächstenliebe sind mir fremd. Ich spreche nicht von einem „Über-Ich“ aus, das krampfhaft ein guter Mensch sein will, sehe also „spirituellen Materialismus“ nicht als „Sünde“ an, die ich in mir selbst und anderen verurteilen und bekämpfen müsste.
Nicht Sünde, sondern Sackgasse
Es ist vielmehr die Leere, die mir gezeigt hat, dass ausschließliches Streben nach (mentalem, körperlichen, psychischen und spirituellem) Wohlbefinden nirgendwo hinführt, sondern eine Art Sackgasse darstellt.
Sie hat mir gezeigt, dass es gar nicht möglich ist, es sich „nur gut gehen zu lassen“. Sämtliche Wohlgefühle sind nur erlebbar, wenn auch „Unwohlsein“ (=Leiden) in seiner Vielfalt erfahren wird. Das ist das Wesen der Dualität, aus der wir als ganze Menschen nicht AUSSTEIGEN können. Jeder neue Level harmonischen Wohlbefindens verflacht zu „nichts Besonderem“, wenn wir uns da nicht auch wieder heraus reißen lassen und die dunkle Palette der Gefühle und Empfindungen spüren – etwas, das nicht mehr „automatisch“ geschieht, wenn man „zuhause aufgeräumt“ hat, sondern allenfalls als „Zumutung der Welt“ bzw. Einflüsse der Mitmenschen mit ihren oft ausgesprochen negativen Gefühlszuständen erlebt wird.
An dieser Stelle „die Schotten dicht“ zu machen, ist ein Fehlweg, gerade weil er funktioniert. Denn wenn ich mich dem unerlösten Leiden meiner Mitmenschen verschließe, strande ich alsbald in der Leere, die sich schleichend in „Wüste“ verwandelt: die Wunschmaschine im Kopf erfüllt nicht mehr mit Sehnsüchten, von außen lasse ich nichts an mich heran, und bemerke dann kaum, dass ich am entspannt-harmonischen „bei mir selbst sein“ schon festklebe wie „der Alltagsmensch“ an seinen materiellen Besitzständen – ein Festhalten, das das Wohlbefinden zerrinnen lässt und Schicksalsschläge geradezu heraus fordert, genau wie es Wege in die Neurose und exzessives Suchtverhalten eröffnet.
Das Leiden mitfühlen
Hier zeigt sich dann der Nutzen einer auch KÖRPERLICHEN Übungspraxis: Es ist nicht so schwer, negative Gefühle zuzulassen, wenn man weiß, dass sie (unbekämpft!) auch sehr schnell wieder verschwinden. Eine Muskulatur, die Entspanntheit als Normalzustand kennt, verkrampft sich zwar bei entsprechenden Impulsen in eben jener Weise, wie es das Empfinden von Ärger, Groll, Wut etc. erfordert, kehrt aber schnell wieder zum entspannten Zustand zurück – ganz „von selbst“.
Damit sind dann auch diese Gefühlswallungen wieder verschwunden. Was bleibt ist das „Mitfühlen des Herzens“, das in der Regel durch Gefühle wie Wut und Ärger nur abgewehrt werden soll. Das Leid des Mitmenschen einfach mitfühlen, ohne zu verurteilen, ohne sich abzuwenden und ohne in hektisches „Problem lösen wollen“ zu verfallen, ist keine leichte Übung, doch machbar, wenn man weiß, dass es keine Alternative gibt.
Was sollte man denn auch sonst in diesem Leben anderes tun, als sich vom „Leid der Welt“ ergreifen und in Bewegung versetzen zu lassen? Einfach „nur genießen“?? Versuche es und es wird dir ergehen wie König Midas, dem alles, was er berührte, wunschgemäß zu Gold wurde – bevor er dann verhungerte, weil Gold nun mal nicht nahrhaft ist.
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18 Kommentare zu „Spiritueller Materialismus“.