Claudia am 29. April 2012 —

Vom Sog der Piratenpartei

Dass ich nochmal mit großem Interesse einen Bundesparteitag verfolgen werde, hätte ich mir vor kurzem noch nicht träumen lassen! Noch dazu, wo auf diesem Mega-Treffen der Piratenpartei vornehmlich Vorstandswahlen, Beisitzerwahlen und allerlei Geschäftsordnungsanträge verhandelt werden – nicht etwa die von den anderen Parteien und der Presse so dringlich geforderten inhaltlichen Festlegungen.

Und doch: als ich gestern früh um 10 den Livestream einschaltete, war ich von der Atmosphäre, dem lockeren Umgang, der normalen Sprache gleich sehr angetan und bedauerte es sogar, mich gegen 14 Uhr in Richtung Garten vom Netz verabschieden zu müssen. Heute hab‘ ich die Wahl zum politischen Geschäftsführer verfolgt und staune erneut über die hochgradig effektive Art, wie das ganze Verfahren durchgezogen wird – angereichert mit Nebenthemen wie Spendenaufrufe für den Livestream (weil viel mehr Leute zuschauen als gedacht), Vorstellungen diverser innerpiratischer AGs und Anliegen, Ermahnungen wegen Zustellen der Gänge (Rollstuhlfahrer!) und Aufforderungen zu Gruppen- und Portraitfotos.

Simultan zum Livestream (hier der „piratische“, technisch besser der auf N24 – beide noch bis 19.30 Uhr) verfolge ich Twitter #bpt12. Dort erscheinen die Sprüche und Kommentare der Anwesenden und Abwesenden zu Hunderten im Minutentakt – man bekommt ein Gefühl des „Dabeiseins“, wie es keine andere Partei zuvor je ermöglicht hat.

Das andere Konzept: die Mitmachpartei

Während meiner so verschärften aktuellen „Piraten-Beobachtung“ wird mir klarer wie das immense Mitgliederwachstum der Piratenpartei AUCH zustande kommt: Viele Links, die über Twitter ausgetauscht werden, zeigen immer wieder mal auf Piraten-interne Dokumente, die man zwar meist sehen, aber nicht kommentieren kann – auch der Blick auf die Diskussionen ist den Nichtmitgliedern verschlossen. Gleichzeitig erlebe ich, wie intensiv die „Basis“ mitarbeitet, und wie kurz die Wege und Zeiträume sind, mit einem Thema durchzudringen.

Ich weiß nicht mehr, wie der Kandidat hieß, der den denkwürdigen Satz sagte: „Es ist nicht unsere Aufgabe, zu allem und jedem eine Position zu haben, die werden sich im Zuge unseres Wachstums nach und nach heraus kristallisieren“. Sprich: Wer eine Festlegung bezüglich eines noch nicht diskutierten Themas wünscht, der soll sich halt einbringen und dazu einen Antrag stellen. Das ist die Umkehrung des üblichen Parteiverständnisses als „Service-Partei“, die einen möglichst fest geklopften Katalog von Inhalten ANBIETET hin zur Mitmachpartei, die dazu auffordert, sich als Bürger selbst mit den Inhalten zu befassen und entsprechend tätig zu werden.

Mir gefällt das! :-) Trotz aller Probleme, die der Versuch, möglichst basisdemokratisch zu agieren, mit sich bringt, teile ich die Hoffnung, dass das dank Internet besser funktionieren kann als damals Anfang der 80ger. Für ein knappes Jahr war ich in die „Alternative Liste“ (Vorläufer der GRÜNEN in Berlin) eingetreten, musste aber bald feststellen, dass informelle Hinterzimmer-Kreise die kaum vorhandenen offiziellen Strukturen weitgehend ersetzten. Auch hat mich das „Wir versus SIE“-Denken, das mit Parteien untrennbar verbunden schien, so richtig angekotzt: Warum nicht einem Antrag der CDU zustimmen, wenn er mal ausnahmsweise sinnvoll ist?

Inhalte statt Personen

Die Piraten sind anders, wollen es anders und machen es auch anders – bisher. Transparenz und Teilhabe sind ihnen keine leeren Worte, sondern ernst zu nehmende Aufgabe, Minimalbedingung politischer Prozesse. Zumindest auf dem Parteitag erlebe ich auch aus der Ferne mit, dass VERNUNFT die unverzichtbare Zutat ist, die das im Detail auch möglich macht. Rednerlisten bzw. Schlangen sind z.B. nicht ewig lange, es wird konsequent durchgesetzt, dass Argumente sich nicht im Stil „dafür bin ich auch!“ wiederholen – ein Riesenfortschritt in Sachen Effizienz! Nicht die PERSON soll Einfluss haben, sondern der Inhalt für sich sprechen, und um diesen darzustellen, reicht dann sehr viel weniger Zeit. Passend dazu hat sogar Marina Weisband, die scheidende politische Geschäftsführerin, darauf verzichtet, eine Empfehlung für einen Nachfolger auszusprechen – sehr sympathisch, das Ganze!

Ob ich nochmal in diesem Leben Parteimitglied werden soll? Darüber denke ich gerade nach…

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Diskussion

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10 Kommentare zu „Vom Sog der Piratenpartei“.

  1. liebe claudia,

    du hast es sehr schön auf den punkt gebracht! da kann ich mich nur anschließen.

  2. Liebe Claudia,

    mir ging es genauso und ich bin gestern Abend dann spontan bei den Berlinern per Internet beigetreten. Wenn man es eine Zeit lang verfolgt, kann man fast nicht anders als mitzumachen. Also los, melde Dich auch an. Ich denke auch unsere Erfahrung kann dort sinnvoll eingesetzt werden.

  3. Liebe Claudia,
    ich selbst, bereits Pirat in Thüringen, habe den Parteitag, wie du, von Zuhause vor dem Rechner erlebt.
    Und ich habe mich auch gefühlt, als wäre ich dabei. Getwittert „wie ein Weltmeister“, mit Hochspannung die Wahlergebnisse verfolgt und sogar ab und an Beifall gegeben, und das, obwohl ich ja gar nicht dabei war. Irre, was die Partei mit einem macht.
    Und ich würde mich freuen, wenn du dich auch aktiv bei uns einbringen möchtest. :)
    Mach mit! Sei selbst Teil einer großen Veränderung – Mitmachen statt Abnicken.
    Und selbst wenn du noch kein Mitglied bist, oder dir das alles noch ein bisschen mehr anschauen möchtest, geh einfach auf den nächsten Stammtisch in deiner Nähe. Wir freuen uns auf jedes neue Gesicht. :)

    Beste Grüße aus Thüringen,

    Nico.

  4. Kann deine Erfahrung vollkommen nachvollziehen, bin zwar schon länger Pirat, aber hab wie Du den Bpt komplett per Stream verfolgt und auf Twitter mitgelesen.
    Du kannst an allem übrigens auch ohne Mitgliedschaft teilnehmen, auch im Wiki anmelden, dort mitmachen etc.
    Nur abstimmen kannst Du nicht ohne Piratin zu werden, aber es lohnt sich…
    Hier kannst Du Piraten in deinder Nähe kennenlernen:
    http://wiki.piratenpartei.de/BE:Treffen

  5. Liebe Claudia,
    danke für den schönen Artikel.
    Der Kandidat, den Du zitierst, heißt Bernd Schlömer,
    er wurde zum Vorsitzenden gewählt. :-)
    Gruß, ♐

  6. Die Piraten sind zwar immer noch nicht „meine Partei“, aber so ist es uns hier auch gegangen, als wir mal den Livestream anschalteten und ich mich nach einer Stunde fragte, wieso ich eigentlich mir Wahlen von verfahrenstechnischen Punkten ansehe und das noch toll finde.

    Ich bin gespannt, ob sie es schaffen, das alles nun auch eines Tages so fest zu zurren, das auf Parteitagen noch mehr als (wichtiges) organisatorisches und rein personelles zu beredet werdet kann. Das soll aber keine Kritik sein, sondern positiv gestimmte Spannung eben. ;-)

  7. Danke, Claudia, das ist ein sehr schöner Artikel. Zur Info für Chräcker: Das war ein Vorstandswahl-Parteitag. Wir kennen uns gut genug, um bei solchen Gelegenheiten gar nicht erst davon zu träumen, dass wir zu Programmatischem kommen könnten. Der nächste Parteitag ist im November in Bochum (siehe: http://wiki.piratenpartei.de/Bundesparteitag_2012.2). Da wird’s dann programmatisch. Wer sich die Entstehungsprozesse ansehen möchte, kann immer mal im Liquid Feedback vorbeischauen und in der Antragsfabrik nachsehen, was denn schon so da ist: http://wiki.piratenpartei.de/Bundesparteitag_2012.2/Antragsfabrik. Diskussionen laufen üblicherweise auf Mailinglisten und im Wiki. Ich bin schon sehr gespannt, was da auf uns zukommt und hoffe doch, in Bochum dann vielleicht den einen oder anderen zu treffen, der sich das mal live ansehen möchte – Gäste werden üblicherweise gern gesehen. :o)

  8. Danke Esmeralda, dass du dem Artikel Wertschätzung entgegen bringst – und das sogar hinschreibst.

    In der momentanen Welt der „sozialen“ Medien stellt sich bei im Wesentlichen Bloggenden schon mal das Gefühl der Vereinsamung ein.

  9. “sozialen” Medien stellt sich bei im Wesentlichen Bloggenden schon mal das Gefühl der Vereinsamung ein.

    „soziale Medien und Vereinsammung “ – sollte sich das vom Grundgedanken nicht gegeneinander ausschliessen?

    Läuft da was noch nicht richtig rund?

  10. Sag bloß, das ist dir neu?