Dass ich nochmal mit großem Interesse einen Bundesparteitag verfolgen werde, hätte ich mir vor kurzem noch nicht träumen lassen! Noch dazu, wo auf diesem Mega-Treffen der Piratenpartei vornehmlich Vorstandswahlen, Beisitzerwahlen und allerlei Geschäftsordnungsanträge verhandelt werden – nicht etwa die von den anderen Parteien und der Presse so dringlich geforderten inhaltlichen Festlegungen.
Und doch: als ich gestern früh um 10 den Livestream einschaltete, war ich von der Atmosphäre, dem lockeren Umgang, der normalen Sprache gleich sehr angetan und bedauerte es sogar, mich gegen 14 Uhr in Richtung Garten vom Netz verabschieden zu müssen. Heute hab‘ ich die Wahl zum politischen Geschäftsführer verfolgt und staune erneut über die hochgradig effektive Art, wie das ganze Verfahren durchgezogen wird – angereichert mit Nebenthemen wie Spendenaufrufe für den Livestream (weil viel mehr Leute zuschauen als gedacht), Vorstellungen diverser innerpiratischer AGs und Anliegen, Ermahnungen wegen Zustellen der Gänge (Rollstuhlfahrer!) und Aufforderungen zu Gruppen- und Portraitfotos.
Simultan zum Livestream (hier der „piratische“, technisch besser der auf N24 – beide noch bis 19.30 Uhr) verfolge ich Twitter #bpt12. Dort erscheinen die Sprüche und Kommentare der Anwesenden und Abwesenden zu Hunderten im Minutentakt – man bekommt ein Gefühl des „Dabeiseins“, wie es keine andere Partei zuvor je ermöglicht hat.
Das andere Konzept: die Mitmachpartei
Während meiner so verschärften aktuellen „Piraten-Beobachtung“ wird mir klarer wie das immense Mitgliederwachstum der Piratenpartei AUCH zustande kommt: Viele Links, die über Twitter ausgetauscht werden, zeigen immer wieder mal auf Piraten-interne Dokumente, die man zwar meist sehen, aber nicht kommentieren kann – auch der Blick auf die Diskussionen ist den Nichtmitgliedern verschlossen. Gleichzeitig erlebe ich, wie intensiv die „Basis“ mitarbeitet, und wie kurz die Wege und Zeiträume sind, mit einem Thema durchzudringen.
Ich weiß nicht mehr, wie der Kandidat hieß, der den denkwürdigen Satz sagte: „Es ist nicht unsere Aufgabe, zu allem und jedem eine Position zu haben, die werden sich im Zuge unseres Wachstums nach und nach heraus kristallisieren“. Sprich: Wer eine Festlegung bezüglich eines noch nicht diskutierten Themas wünscht, der soll sich halt einbringen und dazu einen Antrag stellen. Das ist die Umkehrung des üblichen Parteiverständnisses als „Service-Partei“, die einen möglichst fest geklopften Katalog von Inhalten ANBIETET hin zur Mitmachpartei, die dazu auffordert, sich als Bürger selbst mit den Inhalten zu befassen und entsprechend tätig zu werden.
Mir gefällt das! :-) Trotz aller Probleme, die der Versuch, möglichst basisdemokratisch zu agieren, mit sich bringt, teile ich die Hoffnung, dass das dank Internet besser funktionieren kann als damals Anfang der 80ger. Für ein knappes Jahr war ich in die „Alternative Liste“ (Vorläufer der GRÜNEN in Berlin) eingetreten, musste aber bald feststellen, dass informelle Hinterzimmer-Kreise die kaum vorhandenen offiziellen Strukturen weitgehend ersetzten. Auch hat mich das „Wir versus SIE“-Denken, das mit Parteien untrennbar verbunden schien, so richtig angekotzt: Warum nicht einem Antrag der CDU zustimmen, wenn er mal ausnahmsweise sinnvoll ist?
Inhalte statt Personen
Die Piraten sind anders, wollen es anders und machen es auch anders – bisher. Transparenz und Teilhabe sind ihnen keine leeren Worte, sondern ernst zu nehmende Aufgabe, Minimalbedingung politischer Prozesse. Zumindest auf dem Parteitag erlebe ich auch aus der Ferne mit, dass VERNUNFT die unverzichtbare Zutat ist, die das im Detail auch möglich macht. Rednerlisten bzw. Schlangen sind z.B. nicht ewig lange, es wird konsequent durchgesetzt, dass Argumente sich nicht im Stil „dafür bin ich auch!“ wiederholen – ein Riesenfortschritt in Sachen Effizienz! Nicht die PERSON soll Einfluss haben, sondern der Inhalt für sich sprechen, und um diesen darzustellen, reicht dann sehr viel weniger Zeit. Passend dazu hat sogar Marina Weisband, die scheidende politische Geschäftsführerin, darauf verzichtet, eine Empfehlung für einen Nachfolger auszusprechen – sehr sympathisch, das Ganze!
Ob ich nochmal in diesem Leben Parteimitglied werden soll? Darüber denke ich gerade nach…
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10 Kommentare zu „Vom Sog der Piratenpartei“.