18.40 Uhr, endlich hab‘ ich einen Platz im Board-Restaurant des ICE ergattert! Um halb neun werde ich in Hannover umsteigen, bis dahin will ich es mir hier gut gehen lassen. Ohne Platzreservierung verbringe ich die Reisezeit gerne im Speisewagen, sofern vorhanden. Das Abteil ist recht voll, ich sitze an einem Tisch für zwei, mir gegenüber ein Mann um die dreißig, dunkle, kurze Haare, unauffälliges Äußeres, SPIEGEL-Leser.
Ich bestelle und versenke mich ebenfalls in den SPIEGEL, den ich als Reiselektüre mitführe und schon im Bistro-Raum, wo ich auf diesen Platz wartete, angelesen hatte. „Die gelben Spione“ heißt der Schwerpunkt. Mit durchaus gemischten Gefühlen lese ich, „wie China deutsches Know-how ausspäht“. Ist ja wirklich der Hammer, wie dieses Riesenland auf seinem Weg zur Wirtschaftsweltmacht nach dem Motto „legal, illegal, scheißegal“ agiert – und wie „die deutsche Wirtschaft“ da über den Tisch gezogen, ausgespäht und ausgeraubt wird! Andrerseits: hier ist mal eine Macht am Werk, die sich die westliche Manier, ganze Kontinente als billige Rohstofflieferanten und verlängerte Werkbänke zu gebrauchen, einfach nicht gefallen lässt – zu unserem Schaden, ja sicher, aber hat nicht jedes Ding zwei Seiten? Der SPIEGEL beschreibt (fast) nur die eine Seite – typisch!
Ein Blick auf mein Gegenüber zeigt, dass er auch gerade diesen Artikel liest. Ich erkenne die Fotos, wir lesen in derselben Geschwindigkeit, blättern gleichzeitig weiter. Wie finden Sie das, was die Chinesen da treiben? will ich sagen, bleibe dann aber doch lieber still.
„Rituale der Hilflosigkeit“ heißt der nächste Artikel, der die gruslige Hetzjagd von Mügeln thematisiert, dann folgt „Ein stiller Präventivkrieg“ über den Aufstieg von Steinmeier – wieder sehe ich, dass mein Gegenüber dieselbe Seite liest und finde die Situation zunehmend seltsam. Zwei Fremde im Zug, einander gegenüber sitzend, Seite für Seite dieselben Themen konsumierend, dieselben Bilder betrachtend – aber kein Wort, kein Blick, kein Kontakt.
Es ist kein Gefühl des Mangels, das mich bewegt. Eigentlich will ich ja selber mit diesem Menschen gar nicht sprechen, der für mich rein optisch ein ebenso uninteressanter Niemand ist wie ich es für ihn bin. Warum sollte ich mit ihm über China plaudern? Es würde mich vermutlich langweilen. Woher also diese Empfindung der Unstimmigkeit, bloß weil kein Austausch statt findet über das, was wir beide gerade erleben?
„Rote Warnlampen“, ein Text zum Übertritt einer grünen Abgeordneten zur Linken, trennt unsere unabsichtliche Simultaneität: ich lese, er blättert weiter. Fühle ich da eine gewisse Erleichterung?
„Guten Appetit“, sage ich, als seine Schinkenplatte aufgetragen wird.
„Danke!“
Zwanzig Minuten später und etliche SPIEGEL-Artikel weiter kommt endlich auch mein Essen.
„Lassen Sie es sich schmecken!“, sagt er jetzt.
Ein höflicher Mensch, der weiß, was sich gehört.
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6 Kommentare zu „Keine Begegnung“.