Claudia am 28. August 2007 —

Keine Begegnung

18.40 Uhr, endlich hab‘ ich einen Platz im Board-Restaurant des ICE ergattert! Um halb neun werde ich in Hannover umsteigen, bis dahin will ich es mir hier gut gehen lassen. Ohne Platzreservierung verbringe ich die Reisezeit gerne im Speisewagen, sofern vorhanden. Das Abteil ist recht voll, ich sitze an einem Tisch für zwei, mir gegenüber ein Mann um die dreißig, dunkle, kurze Haare, unauffälliges Äußeres, SPIEGEL-Leser.

Ich bestelle und versenke mich ebenfalls in den SPIEGEL, den ich als Reiselektüre mitführe und schon im Bistro-Raum, wo ich auf diesen Platz wartete, angelesen hatte. „Die gelben Spione“ heißt der Schwerpunkt. Mit durchaus gemischten Gefühlen lese ich, „wie China deutsches Know-how ausspäht“. Ist ja wirklich der Hammer, wie dieses Riesenland auf seinem Weg zur Wirtschaftsweltmacht nach dem Motto „legal, illegal, scheißegal“ agiert – und wie „die deutsche Wirtschaft“ da über den Tisch gezogen, ausgespäht und ausgeraubt wird! Andrerseits: hier ist mal eine Macht am Werk, die sich die westliche Manier, ganze Kontinente als billige Rohstofflieferanten und verlängerte Werkbänke zu gebrauchen, einfach nicht gefallen lässt – zu unserem Schaden, ja sicher, aber hat nicht jedes Ding zwei Seiten? Der SPIEGEL beschreibt (fast) nur die eine Seite – typisch!

Ein Blick auf mein Gegenüber zeigt, dass er auch gerade diesen Artikel liest. Ich erkenne die Fotos, wir lesen in derselben Geschwindigkeit, blättern gleichzeitig weiter. Wie finden Sie das, was die Chinesen da treiben? will ich sagen, bleibe dann aber doch lieber still.

„Rituale der Hilflosigkeit“ heißt der nächste Artikel, der die gruslige Hetzjagd von Mügeln thematisiert, dann folgt „Ein stiller Präventivkrieg“ über den Aufstieg von Steinmeier – wieder sehe ich, dass mein Gegenüber dieselbe Seite liest und finde die Situation zunehmend seltsam. Zwei Fremde im Zug, einander gegenüber sitzend, Seite für Seite dieselben Themen konsumierend, dieselben Bilder betrachtend – aber kein Wort, kein Blick, kein Kontakt.

Es ist kein Gefühl des Mangels, das mich bewegt. Eigentlich will ich ja selber mit diesem Menschen gar nicht sprechen, der für mich rein optisch ein ebenso uninteressanter Niemand ist wie ich es für ihn bin. Warum sollte ich mit ihm über China plaudern? Es würde mich vermutlich langweilen. Woher also diese Empfindung der Unstimmigkeit, bloß weil kein Austausch statt findet über das, was wir beide gerade erleben?

„Rote Warnlampen“, ein Text zum Übertritt einer grünen Abgeordneten zur Linken, trennt unsere unabsichtliche Simultaneität: ich lese, er blättert weiter. Fühle ich da eine gewisse Erleichterung?

„Guten Appetit“, sage ich, als seine Schinkenplatte aufgetragen wird.
„Danke!“
Zwanzig Minuten später und etliche SPIEGEL-Artikel weiter kommt endlich auch mein Essen.
„Lassen Sie es sich schmecken!“, sagt er jetzt.
Ein höflicher Mensch, der weiß, was sich gehört.

Diesem Blog per E-Mail folgen…

Diskussion

Kommentare abonnieren (RSS)
6 Kommentare zu „Keine Begegnung“.

  1. Und? Was hast Du bestellt? Hat es geschmeckt? Hast Du Dich bei ihm auch bedankt? ;-)

    Ansonsten: Die Situation kenne ich gut.
    Nur das Simultan-denselben-Artikel-Lesen habe ich noch nicht hinbekommen. :-)

  2. Aber Ralf, hast du nicht mal in einem Schreibkurs vom Kürzen und Weglassen des Überflüssigen gehört? ;-)

    Das Simultan-Lesen dauerte sogar recht lange, ich hab das im Beitrag auch gekürzt. Auch über das China-Thema hätte ich mich länger auslassen können, so mit Abheben ins Globale, inkl. Überlegungen zu Recht und Gerechtigkeit, zum geistiges Eigentum, zum Kopieren, das ja auch „eine Ehre für den Meister, der das Original geschaffen hat“ bedeutet, wie viele Chinesen meinen.
    Hätte auch meine Selbstbefragung berichten können, nämlich was mich das China-Thema eigentlich angeht, so hier und jetzt im Zug nach Hannover und überhaupt. Hätte erzählen können, das mein Gegenüber – genau wie ich! – einen Artikel nach dem anderen verschlang, in der immerselben Geschwindigkeit und mit kaum wahrnehmbarem Inne-halten zwischen den Themen. Wie locker man doch von der China-Schweinerei übers Mügel-Progrom zu Steinmeiers Karriere kommt und sich dann auch noch die Niederungen der Parteipolitik antut – was ICH mir antue und durch dieses simultan agierende Gegenüber geSPIEGELT bekomme!

    Ja ja, so könnte ein Diary-Eintrag viel viel länger werden… aber manchmal ist mir nicht danach, dann ist „Verdichtung“ angesagt.

    Ist für mich nicht grade Rountine, also bedanke ich mich fürs Feedback!

  3. Wenn aber die Autorin nur das Unwichtigste aufführt (z.B. das, was im SPIEGEL steht, und wem gegenüber sie sich zwangsweise im überfüllten Zugrestaurant platzieren musste), die wirklich wichtigen Dinge jedoch kürzt und weglässt? ;-)

    Seit einigen Monaten lebe ich sogar ohne Tageszeitungs-Abo. Ich empfinde es als Erleichterung. Eben, weil ich mich vorher zu sehr in Dingen verloren habe, die mich eigentlich nicht berühren.
    Interessante Erfahrungen ergaben sich, wenn man den Zeitungsstapel nach dreiwöchiger Urlaubsreise sichtet. Über welche Lappalien man sich dort Gedanken machte, die zwischenzeitlich schon längst entschieden und abgehakt wurden….

    Kürzlich musste ich mir aus beruflichen Gründen die „BILD“ kaufen. (Nein, ich setze kein Suffix „-Zeitung“ dahinter, das hat dieses Machwerk nicht verdient.)
    Einige Schlagzeilen:

    – Der große IBIZA-Test: Was passiert, wenn ich einem Engländer die Frau ausspanne?
    – Prostituierte verprügelt Förster mit Knüppel
    – Sohn (11) fährt Vater mit Bagger tot
    – Mann beißt Schlange den Kopf ab
    – Ärzte treiben falsches Baby ab

    Und das alles in nur einer Ausgabe!
    Es gibt Leute, die setzen sich dem tagtäglich aus…

  4. Da steckt ne interessante Psychologie in dem, was du da mitteilst: Etwas, was im Zusammentreffen mit deinem Gegenüber im Speisewagen durch dich hätte gesagt oder getan werden müssen, hast du unterlassen. Der Situation angemessen wäre wohl gewesen, wenn du zumindest mit einer Geste oder einem Lächeln den Kontakt zu deinem Tischnachbarn aufgenommen hättest und deiner Verwunderung über diesen (zufälligen) Gleichklang betreffs der SPIEGEL-Lektüre Ausdruck verliehen hättest.

    Das hast du unterlassen, und die Begegnung fühlte sich infolge dessen für dich nicht „stimmig“ an. Du hast dich als handlungsunfähig erlebt, wo du viel lieber agiert hättest. Um dir dein Unvermögen in dieser Situation erträglicher zu machen, suchst du Gründe dafür, warum du dich so und nicht anders verhalten hast: vermutlich hätte dich eine Unterhaltung mit dem jungen Mann gelangweilt, und außerdem war er sowieso nicht dein Typ (da lohnt sich eine Unterhaltung schon gleich gar nicht!).

    Und weil du wahrscheinlich irgendwann im Leben mal beigebracht bekommen hast, dass man nicht schlecht über andere reden/denken darf, ohne dabei wenigstens ein schlechtes Gewissen zu haben, würdigst du dich auch gleich noch selbst mit herab: du siehst dich in seinen Augen als „optisch uninteressanter Niemand“ – ebenso wie du ihn siehst.

    Du schreibst: „Es ist kein Gefühl des Mangels, das mich bewegt“. Das mag ich dir so nicht ganz abkaufen. Denn gerade dieses Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit oder des „Hungrig-Seins“ ist ganz oft dafür verantwortlich, dass Menschen in der Kommunikation nicht das bekommen, was sie sich wünschen. Und dass diese Begegnung im Zugrestaurant für dich nicht befriedigend war, zeigt ja schon die Tatsache, dass sie dir so nachhaltig in Erinnerung geblieben und der detaillierten Beschreibung wert ist.

    Was den Umgang der Chinesen mit Urheberrechten und Patenten angeht, so finde ich das gar nicht so schlecht und verwerflich. Das Patentrecht in der Form, wie es heute existiert, ist längst nicht mehr zeitgemäß. Es ist eine gigantische Zeit-, Energie- und Geldverschwendung, dass ein Ingenieur, der heute z.B. in Deutschland etwas innovatives ersinnt, mehr Aufwand dafür betreiben muss, um zu recherchieren ob es das schon gibt und wenn ja, wer das Patent darauf hat, als für die eigentliche Erfindung. Große Unternehmen beschäftigen Heerscharen von Anwälten, die mit Argusaugen über die Patente des Unternehmens wachen. Und womit will man es in einer schnelllebigen Zeit wie der unseren noch plausibel begründen, dass jemand, der vor Jahrzehnten etwas erfunden hat noch heute Geld damit verdienen kann, ohne einen Finger krumm zu machen?

    Die Chinesen sind da wahrscheinlich bloß Vorreiter einer Entwicklung, die über kurz oder lang auch auf die sog. entwickelten Industrienationen übergreifen wird. Was im Bereich Computer und Informatik längst gang und gäbe ist, nämlich, dass immer mehr Software lizenzfrei ist und von jedermann genutzt, verbreitet und weiterentwickelt werden kann, wird wohl in absehbarer Zeit auch in der Industrie/Produktion so sein.

  5. @Sigmund,

    interessante Interpretation! Ich schreibe „bleibe dann aber lieber still“ – und daraus wird beim Leser „Handlungsunfähigkeit“ (->Unvermögen, ->unerträgliche Situation…!) und eine ganzes Psychogramm entsteht gleich mit! Ich staune – bin aber auch fasziniert! :-))

    Üblicherweise schreibe ich nämlich weniger erzählend, mehr analysierend und bewertend – und lasse damit beim Leser weniger Interpretationsspielräume offen. Es steht dir frei, mir „abzukaufen“, was ich schreibe oder auch nicht. Wenn du allerdings auf deiner Version bestehst, hat es halt nichts mehr mit dem zu tun, was ich da ‚rüber bringen wollte – bzw. es ist mir in deinem Fall eben nicht gelungen.

    Noch zur Szene: Zwar fühlte ich die „Unstimmigkeit“ meiner Small-Talk-Enthaltung, aber das war mir weit lieber, als der ansonsten anstehende seichte Plausch (aus dem man dann auch oft schlecht wieder heraus kommt, um einfach weiter SPIEGEL zu lesen). Die gefühlte „Unstimmigkeit“ war kein gesellschaftliches Über-Ich, das mir den nicht-Kontakt zum Vorwurf machte, sondern eher die andauernde physische Nähe eines Fremden (die durch das Simultane auch noch ins Geistige transponiert wurde), die vom Gefühl her NICHT ok ist, wenn nicht irgend ein Kontakt aufgenommen wird.

    Am „optisch uninteressanten Niemand“ finde ich nichts Herabwürdigendes. Das war es, was wir füreinander waren – genau wie viele andere in diesem Bordrestaurant. Findest du denn alle, denen du zufällig begegnest, interessant?? Oder erwartest, von ihnen für interessant befunden zu werden? Was für ein Stress das wäre in unseren Stadtwelten!

    @Ralf

    Kann ich alles gut nachfühlen. Die SPIEGEL-Titel hab ich wohl nur so intensiv wahrgenommen, weil es für mich ein selten gewordenes Ereignis ist, ihn mir zu Gemüte zu ziehen. Tageszeitung lese ich auch nur noch gelegentlich beim U-Bahn-fahren. Mache ich schon Jahre so, da werden Magazine (diverser Art) dann richtig zum Erlebnis, wenn ich wieder mal zuschlage! :-)
    Besonders interessant ist es, ohne TV zu sein – damit gerät man ja leicht in einen Einschalt- und Zapp-Schlendrian, was üble Wirkungen hat, selbst wenn man hauptsächlich bei Phönix-Dokus hängen bleibt. Grade genieße ich die konzentrierende und beruhigende Wirkung, die es auf mich hat, wieder Abend für Abend dasselbe Buch weiter zu lesen, bis es zu Ende ist. Und dann das nächste… wunderbar!

  6. Ich habe einmal eine kleine Geschichte zu Zugsreisen veröffentlicht – SONNENSTREIFEN AM BAHNSTEIG 9 (http://sieb.10.stangl-taller.at/PROSA/Eisenbahn.html). Auch damals ist mir bei der Beschreibung einer Zugsreise dieser oft als lästig empfundene Zwischenzustand zwischen zwei Orten als extrem kontakt- und kommunikationsverhindernd/-vermeidend erschienen.