„Wohlstand fördert Faulheit und Dummheit“ schrieb ein Leser in den Kommentaren zum letzten Artikel, der die Frage stellte, wofür es Religion braucht. Erst wenn es den Leuten wieder richtig schlecht gehe, werde Religion wieder Konjunktur haben. Andere Mitschreiber fanden das Thema ganz für sich genommen reizvoll. Mich ärgert diese Fragestellung eher, was natürlich auch eine Art Reiz ist. Jedenfalls genug, um darüber zu schreiben.
Was würde ich tun, wenn ich ans Geld verdienen gar nicht mehr denken müsste? Für mich ist das sonnenklar: ich würde keine Web-Auftragsarbeiten mehr machen, sondern die so gewonnene Zeit den Themen und Politikfeldern widmen, die mir am Herzen liegen. Wäre ich richtig wohlhabend, würde ich nach und nach alles, was ich nicht zum Leben & Arbeiten brauche, ebenfalls in Projekte und Kampagnen investieren, die diesen Zielen dienen.
Wohlstand wäre also ein Segen, der mich freier macht, zu tun, was sinnvoll ist, ohne dabei auf kommerziellen Erfolg schauen zu müssen. Dass ich nicht wohlhabend bin, verdankt sich andrerseits der Tatsache, dass ich immer schon ein „Tun, das sinnvoll ist“ dem Streben nach Geld, Status, Sicherheit und Konsum vorzog.
Wie die Made im Speck?
Aber halt: Bin ich nicht doch wohlhabend? Lebe ich im bundesrepublikanischen Sozialstaat nicht wie die Made im Speck – verglichen mit Menschen in anderen Weltteilen, die unter weitaus ungemütlicheren Bedingungen ihr Leben fristen müssen? Gegen einen Afrikaner, der sich mit Unterstützung seines ganzen Clans aus seinem perspektivlosen Chaos-Land aufmacht, um den extrem gefährlichen Trip ins gelobte Europa zu wagen, bin ich doch nur eine faule, Risiko-scheue Sau, träge, satt und bequem!
Nach dem 2. Weltkrieg war in Deutschland niemand übergewichtig und alle hatten sehr viel zu tun. Not machte erfinderisch und flexibel, die Schrecknisse und Verbrechen der Nazi-Zeit wollte man vergessen und widmete sich mit ganzer Kraft dem Wiederaufbau. Das Wirtschaftswunder nahm seinen Lauf und dessen Kinder hatten es dann auch wirklich besser – viel besser! Ich konnte mit 19 von zuhause ausziehen, kostenlos studieren und BAFöG in einer Höhe beziehen, die zum Leben reichte. In den ersten Jahren als Zuschuss, später – der Sozialabbau begann recht früh – als Darlehen.
War ich später mal arbeitslos, bezog ich Arbeitslosenhilfe in Höhe von 65% des letzten Einkommens – unbegrenzt! Voraussetzung war, mal sechs Monate angestellt gewesen zu sein, was ich mittels eines öffentlich geförderten Stadtteilvereins auch punktgenau schaffte. Dort leistete ich mehrere Jahre politische und soziale Arbeit in einem Umfang, der geschätzt 1,5 bis 2 Normalstellen entsprach. Ich hatte ja keine anderen Freizeitinteressen, es war Freude, Spannung, Sinn-Gebung, Abenteuer. Es gab Anerkennung und Erfolge in der Sache – und da diese dem Gemeinwohl zu Gute kamen, hatte ich niemals ein schlechtes Gewissen wegen des zeitweisen Bezugs von „AlHi“.
Schluss mir Wohlstand für alle
Träge und dumm hat mich dieser „Wohlstand“ der alten BRD also nicht gemacht. Dass sich in den 90gern die Welt dann drastisch veränderte und in der Wirtschaft der „Shareholder-Value“ zum obersten Wert wurde, sehe ich als Niedergang und Elend an. Die Einkommen stiegen nurmehr „oben“ und AGENDA 2010 exekutierte hierzulande, was die globalen Eliten den Massen verordneten: Zeitarbeit, Mini-Jobs, extreme „Flexibilität“, Arbeitsverdichtung, Hetze – und extreme Angst vor dem Arbeitsplatzverlust für alle, die noch einen solchen haben.
Dass die Bereitschaft zum neuen flexiblen Arbeiten zu Hungerlöhnen Grenzen hat, ist aus der Sicht dieser Eliten ein Ärgernis. Wir sollen den „Arbeitsplatz“ als höchsten Wert ansehen, Freunde und Familie der Flexibilität opfern, uns fortwährend optimal selbst vermarkten und rund um die Uhr erreichbar sein. Der Elan junger Menschen wird über Jahre in ganz oder fast Honorar-freien Praktika verheizt, wofür sie gefälligst dankbar sein sollen. (Immerhin können sie ja so von sich sagen „ich mach was mit Medien“!) Bei den Steuern spart man auch mit allen Mitteln, doch darf der Staat gerne die fehlenden Einkommen „aufstocken“ und ohne Ende Banken retten. Auf Pump, klar – daran wird dann nochmal kräftig verdient. Je mehr Zinsen auf Staatsanleihen, desto besser!
Wer sich dem Rattenrennen ganz oder teilweise entzieht, muss selbstredend als Sozialschmarotzer diskriminiert werden. Das Volk soll genau drauf schauen, ob sich auch der Nachbar ordentlich krumm legt – nicht auf die immer reicher werdenden Reichen, die nicht mehr wissen wohin mit ihrem „Not leidenden Kapital“, das immer mehr leistungsloses Einkommen abwirft.
Dass die Arbeit insgesamt immer weniger wird, bzw. früher notwendige menschliche Arbeit zunehmend durch Software ersetzt wird, könnte unter anderen Vorzeichen ein befreiender Prozess sein. Ist es aber nicht, denn unser „System“ verhindert, dass die Einsparungen allen zu Gute kommen, alle weniger arbeiten und mit weniger Arbeit MEHR verdienen.
WER in diesem ganzen Umtrieb lebt nun im wahren „Wohlstand“? Und WER wird deshalb faul und dumm?
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8 Kommentare zu „Wohlstand – Fluch oder Segen?“.