Dass die Frage „Wer bin ich?“ neben dem Woher-Wohin-Wozu die wesentliche Frage sei, konnte ich lange nicht verstehen. Jedenfalls nicht in jenem tieferen Sinn, der über die Alltagsantwort „ich bin Claudia Klinger, Webworkerin, wohnhaft in Berlin“ und Ähnliches hinaus geht.
Wenn ich derzeit der Frage wiederbegegne, wie gerade in den Kommentaren eines Artikels auf „Rosalies Midlife Crisis“, dann sag‘ ich aus heutiger Sicht: Mit meinem Unverständnis lag ich ziemlich richtig, es ist der Wahrheit näher als sämtliche möglichen Einzelergebnisse noch so ernsthafter Introspektion.
Das Selbst als Zwiebel
Mein früherer, vom ZEN inspirierter Yogalehrer hatte allerdings noch mehr zu bieten als bloß den Verweis auf die alte Frage. Er verwendete das Bild der Zwiebel: Mit der Frage „Wer bin ich?“ schäle ich die Zwiebel. Jede Antwort ist eine neue Schale, die nach einiger Zeit ebenfalls abgeschält wird, da keine Antwort auf Dauer DIE Antwort ist. Und sollten wir einmal alle Zwiebelschichten entfernt haben – was bleibt? Nichts!
Heißt das, dass es kein Individuum, keine Persönlichkeit gibt? Oh nein, ganz im Gegenteil, je entspannter ich dieses „Nichts, das ich bin“ zur Kenntnis nehme, desto gelassener kann ich mich dem aktuellen So-Sein hingeben. Mir ist klar, wie ich geworden bin, was ich heute bin, und dass mein willentlicher Anteil daran weit geringer ist, als man gemeinhin meint. Zwar kann ich oft tun, was ich will, doch was ich wollen soll, entzieht sich meiner Macht.
So geht es gerade auch Rosalie und vielen anderen, die in ihren Blogs über eingeschlafene Langzeit-Ehen und Beziehungen berichten. Man war eine Bilderbuchfamilie, hat sich gemeinsam etwas aufgebaut, doch irgendwann, meist so ab Mitte 40, erweist sich das Erreichte als nicht mehr genug. Die Kinder sind aus dem Haus oder in einem Alter, in dem sie nicht mehr die gesamte Energie binden – und auf einmal verspüren die Menschen ein Defizit: Soll das jetzt alles gewesen sein? Wer bin ich, abgesehen von der Familie und allem, was als „Nest“ rund um diese erarbeitet wurde?
Sich finden, entdecken, neu erfinden?
Das Internet wirkt oft als Katalysator, der die Brisanz der Frage machtvoll steigert. Per Netzkommunikation mit Fremden kann man sich selbst „ganz neu“ erleben und erfinden, kann wieder Frau bzw. Mann sein, begehren und begehrt werden, anstatt nurmehr funktionierender Familienmensch und „Partner“ zu sein. Neue Welten scheinen sich aufzutun, ungelebtes Leben ruft schier unabweisbar nach Erfüllung – und wer sich in dieser Situation die alte Frage stellt, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit die Antwort bekommen: Ich bin nicht die, die ich zu sein glaubte, sondern viel MEHR! Oder auch: Ich bin die Raupe, die sich für lange Zeit verpuppt hatte und zum Schmetterling erwachen will, bin die Schlange, die die alte Haut abwirft und nun frisch und neu und unglaublich intensiv fühlend durch den Abenteuer-Dschungel gleitet.
Eine andere Bloggerin, deren Adresse ich leider vergessen habe, erzählt, wie so ein Erleben bei ihr weiter ging. Sie hatte sich unter großen Schmerzen für alle Beteiligten aus den alten Bezügen befreit und mit einem neuen, im Netz kennen gelernten und heiß begehrten Mann zusammen getan. Die beiden reizten das „Abenteuerliche“ voll aus, widmeten sich exzessiv allen bisher nur erträumten erotischen Spielarten, um nach einigen Jahren dann doch genau wieder da zu landen, woher sie gekommen waren: In einer Beziehung, aus deren Eingefahrenheit man sich gerne wieder befreien möchte – und wieder öffnete sich ein Tal der Tränen.
Im Fluss des Lebens
Was folgt nun daraus? Meine persönlichen Schlüsse aus ähnlichen Erfahrungen (zum Glück ohne Ehe/Kinder/Hausbau etc.) beantworten die Wer-bin-ich-Frage nun so: Ich bin nichts Bestimmtes, sondern ein dynamischer, mit allem-was-ist vernetzter und interagierender Prozess. Das „Nichts“ im nicht vorhandenen Kern der Zwiebel ist nicht Leere, sondern Repräsentation des Ganzen, der Gesamtheit aller menschenmöglichen Erfahrungen und Erlebensweisen. Sobald ich an etwas Bestimmtem lange festhalte und mein Leben danach ausrichte, ergeben sich zwangsläufig „Mängel“ an anderer Stelle. Die werden allerdings erst als solche gefühlt, wenn die Identifikation mit dem Bestehenden abnimmt, die einst empfundene Erfüllung im Geflecht öde werdender Gewohnheiten und Routinen versandet.
„Ich“ bin also immer sowohl die „Neue“ als auch die „Alte“: schlage ich mich engagiert auf die Seite von Freiheit und Abenteuer, werde ich selber es sein, die alsbald – unbewusst oder bewusst – an der Stabilisierung und Vergemütlichung der neuen Verhältnisse arbeitet. Um dann irgendwann wieder im Gehäuse erstarrter Gewohnheiten Ausschau nach dem „ganz Anderen“ zu halten.
Und in keiner dieser Situationen kann ich irgend etwas ändern, sondern würde immer nur genau die Lehren, Workshops, Selbstfindungskonzepte und Ratschläge annehmen, die meine aktuelle Getriebenheit unterstützen.
Wir sind eben nichts Statisches, nichts Wesentliches, sondern Ereignisse, die aus dem Vollen schöpfen. Da ist niemand, der sich gegen den Fluss des Lebens stellen könnte. Allenfalls kann man den ganzen Fluss in den Blick nehmen, anstatt sich mit einigen Wirbeln und Strömungen zu identifizieren – etwas, das mir allerdings auch erst „postmenopausal“ geglückt ist. :-)
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19 Kommentare zu „Wer bin ich? Nichts bestimmtes…“.