Immer noch werde ich zu den falschen Zeiten müde und mitten in der Nacht hell wach. Niemand hindert mich ja am einschlafen, wenn die Augenlieder schwer wie Blei werden. Die Erkältung tut ihr Teil dazu, mein Gefühl des Ausnahmezustands zu verlängern: hat es denn eine Bedeutung, WANN ich arbeite, wache, schlafe?? Eigentlich nicht, es wird sich schon wieder normalisieren, denk ich mir und mische mich nicht willentlich ein.
Der Himmel über Berlin ist trüb und verhangen, es schneit, doch bleibt nicht mehr viel davon liegen. Immer wenn ich aus dem Fenster schaue, erinnere ich gleichzeitig die Sonne in Phnom Penh, die tropische Hitze, das ständige Schwitzen, das bald „ganz normal“ wird, wenn die ersten Tage überstanden sind. So ein zweiter Hochsommer mitten im Winter ist schon irritierend! Meine Heizung steht wieder auf 20 Grad und ich fühle mich wohl. In Kambodscha hätte ich gebibbert über den plötzlichen Kälteeinbruch und mich wärmer angezogen. Zumindest bei den Temperaturen bin ich also wieder akklimatisiert.
Was mir mehr Mühe macht, ist die deutsche Unfreundlichkeit. Zwar verlasse ich kaum die Wohnung, doch reicht es schon, ein wenig im Web herum zu lesen, in Foren und Mailinglisten, die ich früher gerne mal aufsuchte: aggressive Untertöne, wenn nicht gleich offener Schlagabtausch, exzessives Geblödel, wenn jemand ein ernstes Anliegen hat – ach, ich bin im Moment wohl zu empfindlich und lass es besser, bis mir wieder eine Reptilienhaut ums Herz gewachsen ist, durch die nichts dringt. Ich fühl mich ja schon verletzt, wenn ich keine Antwort auf eine Mail bekomme! Vor der Reise hätte ich einfach angenommen, dass sie den Empfänger nicht erreicht hat und hätte erst mal nachgefragt, bevor da überhaupt ein Gefühl aufgetaucht wäre.
Was ist denn nur los? Es geht mir doch blendend! Hinter mir liegen drei Wochen ohne jeden persönlichen Ärger, ohne Streit über den rechten Weg, die richtige Meinung, die genaue Farbe der Wahrheit, liebevolles Miteinander mit dem Reisegefährten und dem Gastgeber, neugieriges Erkunden von Land und Leuten, kein Gedanke an existenziellen Stress, im Gegenteil: unser europäisches Dasein erscheint unendlich reich und abgesichert, wenn man täglich Menschen sieht, die vom Bruchteil eines Dollars ihre Existenz fristen müssen – und noch dabei lächeln!
Gestern war ich zum ersten Mal seit der Rückkehr im Supermarkt zum üblichen Einkauf: allerlei Lebensmittel, nix Besonderes, 22 Euro 50. Damit könnte ich einem Kind in Kambodscha über einen Monat lang Wohnung, Nahrung, Kleidung und die Schule bezahlen. Gewusst hab‘ ich das auch vor der Reise, klar, aber jetzt fühle ich die extremen Dissonanzen in diesem Weltgeschehen anders: Was DORT einen gewaltigen Unterschied macht – z.B. 25 Dollar haben oder nicht haben – bedeutet mir hier kaum etwas. Ob ich echten Parmesan, Fenchelsalami und italienischen Schinken konsumiere oder mich von Pellkartoffeln und Kräuterquark ernähre, ändert an meinem Glücksempfinden nahezu nichts. Und das gilt für fast alles, was man hier so kauft: der ganze Konsum-Zirkus, das Schnäppchen jagen, das Shoppen als „Erlebnis“ – wie lange ist man nach dem Akt des Kaufens tatsächlich glücklicher aus zuvor??
Unglückliche Maden im Speck
Mir scheint, der Kern meiner Irritation liegt genau darin: wir leben auf hohem materiellen Niveau, doch macht uns das nicht glücklich. Allenfalls gibt es den Wunsch nach MEHR, aber selten mal ein Gefühl der Dankbarkeit – das kennen nur alte Menschen, die noch den Krieg erlebt haben. Wie groß das Sinndefizit ist, das ich hier anspreche, zeigt sich zu Zeiten großer Naturkatastrophen: während der Oderflut reisten Leute aus ganz Deutschland an, um Sandsäcke zu füllen und den Betroffenen zu helfen, Schröder gewann nicht zuletzt deshalb die Wahl, weil er in der Katastrophe eine gute Figur machte. Der Tsunami in Thailand löste dann eine noch weit größere Spendenwelle aus: endlich eine Gelegenheit, mit den eigenen Überschüssen etwas unhinterfragbar NÜTZLICHES zu tun! Offenbar ist das ein unausrottbares Bedürfnis in den Herzen der Menschen, doch ist unser Alltag derart durch Konkurrenz, Geltungsbedürfnis, Neid, Misstrauen und Egozentrik gekennzeichnet, dass diese mitmenschliche Komponente kaum je zum Zuge kommt. Der aufgeklärte Blick bewertet den Bedürftigen, ob er auch „unverschuldet“ in Not geraten ist, ansonsten hat er kein „Recht“ auf Hilfe und Unterstützung. Und für diese Hilfe haben wir Institutionen, Gesetze und Bürokratien geschaffen, die uns das Elend weitgehend vom Halse halten. Wer damit nicht zurecht kommt, hat halt Pech bzw. sollte eben mit dem Trinken aufhören und eine Beratungsstelle aufsuchen. Was hat das also mit mir zu tun, fragt sich der Bürger, dem es noch gut geht, und hat im Grunde recht – und doch fehlt etwas, nicht in der Bilanz, aber in den Herzen.
Ich kritisiere beileibe nicht, dass es uns materiell recht gut geht, doch angesichts der Zustände anderswo frage ich mich, warum so wenig Glück und Zufriedenheit dabei heraus kommt. Die große Mehrheit hierzulande ist mit völlig marginalen Bauchnabelthemen beschäftigt, und zwar in einem wattig ausgepolsterten Schonraum, der allzu harte Stöße von Seiten der Realität abfedert. Es ist ja nicht nötig, über den Tellerrand der bundesrepublikanischen Existenz zu schauen, allenfalls sehen wir Bedrohungen unseres Wohlstands und bibbern vor wandernden Arbeitskräften und Arbeitsplatzverlagerungen. Mehr Egozentrik geht kaum. Das eigene Wohlbefinden, die eigene „Entwicklung“, die eigene glatte Haut, die eigene Erleuchtung – und dafür bittschön die nötigen ökonomischen und sozialen Bedingungen, damit wir dem ungestört nachgehen können. Das ist es doch, das hiesige allgemeine Bewusstsein, aus dem ich mich gar nicht ausschließen will!
Die Würdelosigkeit hiesigen Lebens, die mir im Moment so ins Auge springt, liegt darin, dass der ganze Reichtum kaum jemanden wirklich glücklich macht, aber jede Menge Ressourcen verheizt werden, die anderswo dringend gebraucht würden. Unsere Kultur des Konsumierens und hemmungslosen Verbrauchens tradiert keinen Sinn, der über die je eigenen Interessen an einem angenehmen Leben hinaus ragt. Wir machen nichts aus unserem „besseren Leben“ – im Gegenteil, Ignoranz und Herzenskälte, Zynismus und Orientierungslosigkeit, Depressionen, physische und psychische Krankheiten nehmen stetig zu. Haben wir den „Sinn des Seins“ verloren, weil wir immer nur uns selber sehen?
Dabei bräuchte man nur den Blick heben und sähe unendlich viel Nötiges zu tun – wie ich jetzt eher zufällig in Kambodscha. Unglaublich, was dort alles fehlt, wie sehr die Leute im Kampf ums Überleben stehen, und zwar um die Basics der Existenz! (und dabei doch meist fröhlich, in irritierend guter Stimmung!)
Und was für schlechte Bedingungen sie haben: heimische Magnaten, die sich einen Dreck für Entwicklung interessieren und nur in die eigene Tasche wirtschaften (Angkor Wat hat einer davon „gepachtet“ und zahlt grade mal eine schlappe Million pro Jahr an die Regierung! Jeder ausländische Besucher drückt aber schon mindestens 20 Dollar Eintritt ab – und JEDER, der nach Kambodscha kommt, besucht Angkor Wat!). Im ganzen Land gibt es nur 200 Richter, doch Justiz ist für die Armen sowieso unerschwinglich, genau wie medizinische Versorgung. Es hat mich jedenfalls schier überwältigt, zu sehen, wieviel Nötiges da zu tun ist – und wie es hier und dort von Institutionen, Initiativen und Individuen unterschiedlichster Art versucht wird. Wieviel Geld dagegen hierzulande für vielerlei Dinge mehr oder weniger vergeudet wird, wobei das Erworbene oder Genossene gar keine entsprechende Freude oder Befriedigung mehr bringt – das ist schon der Hammer, wenn man beides zusammen sieht!
Vom werten und nicht werten
Mir sind auf der Reise allerlei Schuppen von den Augen gefallen, insbesondere auch die links-ideologischen und „alternativen“ Betrachtungsweisen in Bezug auf die dritte Welt, die seit den 70gern weitgehend meine Meinungen bestimmten. Diese durchaus gut gemeinte Propaganda hatte es immer nötig, das Fremde zu idealisieren und das Eigene anzuklagen: da draußen lauter schöne Wilde, die von uns (bzw. vom bösen westlichen Kapitalismus) geknechtet und verformt, ihrer ach so tollen Kultur und Tradition beraubt werden. Hilfe als Wiedergutmachung, als „Solidarität im Kampf“ – also nur solange die Illusion Bestand hat, dort draußen lebten die besseren, weil „ursprünglicheren“ und naturnäheren Menschen.
All das halte ich im Moment für gequirlte Scheiße. Nirgendwo gibt es „bessere“ Menschen – wie könnte es sonst geschehen, dass in diesem buddistischen „Land des Lächelns“ mal eben sämtliche Traditionen in die Tonne getreten und 25% der Bevölkerung umgebracht werden? Und das ist noch gar nicht lange her, der Friede ist erst 15 Jahre alt und alle außer den Jüngsten haben es miterlebt. Die Roten Khmer haben Phnom Penh binnen weniger Tage geräumt und die Bewohner aufs Land getrieben, haben alle Intellektuellen, Künstler, alle des Lesens und Schreibens Mächtigen umgebracht, die Religion verboten und alles außer Landarbeit abgeschafft. 2007 ist ein erstes Tribunal, auf dem ein paar alte Männer verurteilt werden, doch viele sitzen noch in Ämtern und Würden und verfügen über Reichtum und Macht.
Ja, als Deutsche fühle ich mich diesem resozialisierungswilligen Ex-Schurkenstaat mit schrecklicher Vergangenheit irgendwie nahe. Entwicklungshilfe aus Deutschland kann da nicht moralisch arrogant auftreten, das ist gewiss ein Vorteil! Und wirklich: was ich an deutschen Herangehensweisen und Projekten so mitbekam, hat mir gefallen: nichts wird von oben herab aufgedrückt, alles geschieht unter Einbeziehung der lokalen Bevölkerung, von der Planung über die Umsetzung bis hin zum Dauerbetrieb. Wobei die Kommunikation mit den Einheimischen nicht eben einfach ist! Der Buddhismus lehrt das „nicht werten“, man kritisiert also nicht mal eben locker vom Hocker irgend einen Missstand, der uns verbesserungswürdig erscheint. Tut das ein unsensibler Politiker oder Projektmanager, gefriert die Stimmung zu Eis und es ist ungeheuer schwer, Vertrauen und Achtung der „Locals“ soweit zurück zu gewinnen, dass eine Zusammenarbeit möglich ist.
Hab ich je zuvor daran gedacht, dass so eine wunderbare Weisheitsleere wie die vom „nicht werten“ in einer Kultur, die ihrem Ursprung weit näher ist als unsere, solche Folgen haben könnte? Nicht im Traum! Ich hab das ausschließlich „westlich rezipiert“, als Korrektiv zur Erhaltung einer letzten inneren Gelassenheit angesichts der Tatsache, dass nicht alle Übel jetzt und gleich aus der Welt verschwinden können. Aber nie im Leben wäre ich auf die Idee gekommen, die Übel nicht einmal mehr benennen zu sollen! Wie soll man denn ohne Kritik etwas aufbauen, etwas zum Besseren ändern, Fehlerhaftes berichtigen, Fehlendes fordern, neue Möglichkeiten diskutieren?
Unsere Entwicklungshelfer kennen da mittlerweile einige Tricks, die kulturelle Hürde zu umschiffen – alle Achtung!
Angst vorm Fliegen?? Angst beim Shippern!
Ich wurde gefragt, was denn nun aus meiner Angst vorm Fliegen geworden sei. Alsdenn: Die Flugangst war beim Hinflug (ohne Tabletten, ohne Baldriantropfen, die ich zur Sicherheit dabei hatte) weitgehend weg. Auf der Strecke Berlin-Frankfurt fühlte ich mich ziemlich sicher, da ich mir im Vorfeld immer wieder klar gemacht hatte, dass hier ja noch nie ein Verkehrsflugzeug abgestürzt ist. Der Langstreckenflug Frankfurt-Bangkok in einer Boing 747 war dann sehr ruhig, ein Gefühl fast wie im ICE. In Bangkok hatten wir mehrere Stunden Aufenthalt und ich war viel zu fertig, um noch Angstgefühle zu verspüren: endlich starten war die Erlösung! Auf dem Rückflug gab es dann wieder ein paar angstvolle Momente, doch die meiste Zeit litt ich an der frischen Erkältung mit Fieber, Husten, verstopfter Nase und Kopfschmerzen.
Wirklich heftig in Sachen Angst war auf dieser Reise nicht etwa das Fliegen, sondern die Bootsfahrt über den Tongle Sap auf dem Weg nach Siem Reap / Angkor Wat. Dieser Fluß tut sich mitten in Kambodscha zu einem riesigen See auf. Rundum sah man lange Zeit nur noch Wasser – und plötzlich ist da der Motor verreckt! Wir lagen eine Stunde in sengender Sonne still, ohne Kontakt irgendwohin. Da war sie wieder, die Todesangst!
Das Schnellboot – ein klimatisiertes Busboot für ca. 120 Leute mit besteigbarem Flachdach – hatte weder ein Navigationssystem, noch sahen wir irgendwelche Kommunikationsgerätschaften. Handys funktionieren dort natürlich nicht. Der Motor verschluckte sich lautstark und erstarb, ein ölig verbrannter Gestank breitete sich aus – mir brach der Angstschweiß aus und ich dachte: Jetzt saufen wir ab! Doch nichts dergleichen passierte, nur sengende Sonne am Mittag, kein Schatten, kein Wind, der See total still. Und keinerlei andere Schiffe oder Boote in Reichweite.
Eine Kühlwasserpumpe war ausgefallen und schließlich brachten sie das Ding wieder ins Laufen, hatten wohl händisch Wasser zugeführt, das dann bis zum Ziel reichte. Oh, wie war ich erleichtert!!! Zurück nahmen wir dann den Express-Bus, der zwar unsäglich lange brauchte, um Phnom Penh zu erreichen, mir aber kein weiteres Angst-Erlebnis zumutete – es kostete auch nicht halb soviel wie das Boot.
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Ein Kommentar zu „Jetlag und deutsche Kälte“.