Manche Schlagzeilen klicke ich einfach weg. Weil ich schon weiß, was für eine menschenverachtende Sauerei da wieder besprochen wird, zum soundsovielten Mal, ohne dass sich irgend etwas ändert. Mit zunehmendem Alter scheine ich sensibler zu werden, was nicht immer schön ist. Denn alles, was ich an mich heran lasse, spricht nicht nur meinen Kopf, sondern auch mein Herz an – ein „Organ“, von dem ich früher glaubte, es sei nur eine Pumpe und der „Mythos Herz“ eine romantische Metapher.
Das soll nicht heißen, dass ich mich selber als gefühllos empfand! Oh nein, ich war ganz normal verliebt, traurig, wütend, zeigte auch „Mitgefühl“ gegenüber leidenden Menschen im Freundeskreis. Mir war nicht bewusst, dass diese Normalität bereits ein sehr vermindertes, eingemauertes Fühlen war: eingebettet in Schutzmauern der Ignoranz, die eine Distanz zu allem Leiden der Anderen schuf – und auch zum eigenen übrigens, wie ich bei einem heftige „Burnout“ Ende dreißig erfuhr.
Das „Herz“ gibt es wirklich
Während eines Selbsterfahrungsworkshops mit „gemischten Übungen aus verschiedenen Traditionen“ erlebte ich dann zum ersten Mal, was das „Herz“ ist. Erstaunlicherweise war die etwa 20-minütige Atemübung gar nicht darauf ausgerichtet, etwas anderes als tiefe Versenkung und Entspannung zu verursachen. Ich lag nur da und atmetete tief und lang, während eine „Begleiterin“ neben mir saß und ihre Hand auf unterschiedliche Körperregionen legte: Stirn, Kehle, Brust, Solar Plexus,Bauch… ich weiß nicht mehr, wie weit sie gekommen war, ich atmete bereits ca. 10 Minuten in dieser vertieften Form, als etwas Seltsames mit mir geschah.
Auf einmal änderte sich mein Selbstgefühl, weg von der abwartenden, leicht gelangweilten beobachtenden Haltung hin zu einem spektakulären Gefühlsschub. Es war, als fiele ein schwerer Panzer von mir ab, auf einmal war da „strömende, warme Liebe“ und große Leichtigkeit – ich kann das unmöglich beschreiben!
Es war allerdings keine „Liebe für mich“, in der ich nun wohlig baden konnte. Ganz im Gegenteil, ich brach die Übung ab, stand auf und begann zu – tja, es passt wirklich nur der Begriff „predigen“! Voller Inbrunst forderte ich die anderen Workshop-Teilnehmer auf, ihre Mauern einzureißen, die doch komplett überflüssig und nur leidvoll seien. Schließlich hätten wir doch keinen Grund, voreinander Angst zu haben!
Selber war ich plötzlich komplett angstfrei, bzw. bemerkte nun erst, dass eine ansonsten offenbar unbemerkt immer präsente Angst weggefallen war. All dieses „was wohl die Anderen von mir denken?“ war verschwunden und ich sah, wie unspontan und gefühllos der „Normalzustand“ war, in dem wir alle unser Leben leben. Womit einher geht, dass es uns auch meistens egal ist, wie es Anderen gerade geht – mal abgesehen von nahen Freunden.
Nun, die Workshopteilnehmer reagierten immerhin nicht verärgert! :-) Die beiden Leiterinnen wirkten sogar beglückt: Bei mir habe sich das „Herz-Chakra geöffnet“, klärten sie mich auf. „Und jetzt?“ fragte ich, denn ich wusste nicht, wohin mit dieser heftigen Liebe, die mich danach drängte, sie zu teilen – aber wie?
„Keine Sorge, das geht auch wieder zu!“, war die Antwort. Das konnte ich allerdings in der Situation nicht abwarten, wollte auch den weiteren Verlauf nicht stören. Ich verließ also die Runde und ging duschen – es war einfach ZUVIEL Liebe, zuviel Mitfühlen mit der nun auf einmal spürbaren Verpanzerung der Anderen.
Unter der Dusche normalisierte ich dann wieder, hatte aber plötzlich ein Bewusstsein dafür, was gemeint ist mit „ein Herz haben“. Und weil ich es jetzt kannte, verschwand diese Dimension nicht mehr ganz aus meinem Leben. Genau wie ich spüre, wenn mich etwas intellektuell anspricht oder ich etwas „haben will“, spürte ich fortan auch besser, wenn etwas „mein Herz berührt“. Im Lauf der Jahre immer mehr.
Dass das nicht nur schön, sondern im Alltag auch problematisch ist, wurde mir dann auch bald bewusst. Die Verpanzerung des Herzens kommt ja nicht grundlos: ich will nicht dauernd mitleiden, wenn ich Leiden wahrnehme. Die feine Unterscheidung zwischen „Mitleid“ und „Mitgefühl“ ist mir abhanden gekommen: entweder ich öffne mich für das Leiden des Anderen, dann leide ich unweigerlich auch mit – oder ich verbleibe in weitgehend gefühlloser Ignoranz.
Im Mitfühlen und Mitleiden zu verweilen, ist schwer zu ertragen – gerne biegen wir das um in Wut und leiden dann an der Ohnmacht, die jeweilige Ursache des Leidens zu verändern (wer kennt nicht den Ärger, wenn ein leidender Mitmensch partout die guten Ratschläge nicht befolgt? Von der Liebe sind wir dann wieder ziemlich weit weg…).
Besonders schwer haben es auch jene Menschen, die gar nicht die Wahl haben. Ihr „Herz“ ist immer offen, weshalb sie nicht wirklich alltagskompatibel sind und ihnen diverse Geisteskrankheiten attestiert werden – aber das ist ein anderes Thema.
***
Zu diesem Eintrag inspiriert haben mich diese beiden Blogpostings:
Was ist schon Klartext und tiefe Empfindung? Thinkabout
Diesem Blog per E-Mail folgen…
Diskussion
Kommentare abonnieren (RSS)
34 Kommentare zu „Lieben heißt mitfühlen – und auch mitleiden“.