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Die Ruhe von Santa Maria

Die Hitze der Mittagssonne prallte senkrecht auf den baufälligen Kamin und erhitzte das Nest auf fünfzig Grad.

In den letzten Wochen waren immer größere Hornissen ausgeschlüpft. Ihr lautes Brummen widerhallte von der Ziegelmauer, die das Nest umgab, verband sich zu wildem, ehrfurchtgebietenden Dröhnen, an und abschwellend, auseinanderfallend in Einzelstimmen, sich wieder vereinend, plötzlich verstummend zu Momenten gefährlicher Stille, um dann voller Kraft wieder einzusetzen in neue Anrufung, Beschwörung uralter Gottheiten, deren heißer Atem das Land zu Gelb und Braun verbrennt im Mittsommermonat August.

Die neue Generation hatte verwittertes Holz zwischen den kräftigen Kiefern zermalmt und zu Baumaterial verwandelt. Das Nest war groß gewachsen, füllte den Kamin fast aus und bot einer immer größeren Schar Platz zum Werden und Vergehen.

Manchmal erzitterte der kunstvolle Bau unter der eigenen Last - besonders in diesen Tagen vor dem Paarungsflug der jungen Königinnen, von dem keines der Tiere wußte, wie sie auch sonst nichts von irgendeiner Welt wußten. Dennoch war das Nest in gespannter Erwartung.

* * *

Frieder hielt sich in respektvoller Entfernung vom Kamin und genoß die Kühle in dem schattigen Gemäuer. Die ehemalige Wohnküche war der einzige Raum in dem zerfallenden Bauernhaus, den man noch gefahrlos betreten konnte. Nur ein rostiger Eisenriegel sicherte die Tür, so daß jeder, der wollte, sich hier von der sengenden Mittagssonne erholen konnte. Das einzige Fenster war zu zwei Dritteln zugemauert - zuletzt hatte man hier Ziegen untergebracht.

Außer dem Kamin, der kaum mehr war als eine überdachte Feuerstelle, gab es noch einen zerschlissenen Campingstuhl, Reste einer gemauerten Spüle und eine grauweiß gestreifte Matratze, von Ratten oder Mäusen halb aufgefressen. Der Bau der Hornissen lag gut versteckt in der Kaminröhre  und nichts Sichtbares deutete auf ihre Anwesenheit.

Frieder war schon oft hier gewesen. Ihm gefiel dies verwilderte Gebiet, das schon lange niemand mehr bewirtschaftete, die aus der Form geratenen Weinstöcke, die abbröckelnden Terrassen, auf denen der Ginster alles andere verdrängt hatte. Mit festem Griff holte sich die Natur wieder,  was man ihr einst genommen,  ja, mehr als das: Die Gewächse wetteiferten in der Rückeroberung der gesetzlos gewordenen Räume, wuchsen ineinander, fielen übereinander her. Wilder Efeu überwucherte nicht nur die von Menschen verlassenen Gebäude, sondern wand sich in unersättlicher Umarmung um manche hohe Eiche, bedrückte sie Tag um Tag mehr, um ihr schließlich Licht und Luft abzuschnüren.

Frieder fühlte tiefes Behagen. An diesem Ort fühlte er sich sicher. Hier war er nichts als ein Lebewesen unter vielen, die fraglos den Lüsten und Leiden ihres Lebendigseins folgten. Unter Menschen dagegen war alles fragwürdig, gab es unzählige Möglichkeiten, zu versagen.-

Im Kamin verstummten die Hornissen, vielleicht wegen der anhaltenden Hitze, vielleicht, weil es ihre Art war, zeitweise zu schweigen. Mitten in die fast vollständige, nur noch von leisem Fliegengesumm überzuckerte Stille hinein hörte Frieder plötzlich laute Worte. Eine helle Frauenstimme verspritzte heftige Kritik über die Welt, brach ab, wurde abgelöst von einem ruhigen, etwas wichtigtuerischen Bariton, der sich  bemühte, die Wellen zu glätten, gegen die Männer so machtlos sind.

Frieder spürte, wie sich knapp unterhalb des Herzens etwas schmerzlich in ihm zusammenzog. Er haßte Störungen, unverhoffte Begegnungen mit Eindringlingen, deren Absichten immer zweifelhaft, wenn nicht sogar feindselig waren.

Dem Impuls, sich einfach nicht zu rühren, sich tot zu stellen wie ein gejagtes Tier in aussichtsloser Lage, gab er nicht nach. Sie würden ja doch hereinkommen, ihn neugierig beäugen, ihn nach dem Woher, Wohin und Wozu fragen - alles Fragen, auf die er nichts zu antworten wußte, alles Gelegenheiten, ein neues Mal zu versagen.

Er gab sich einen Ruck und schritt entschlossen zur Tür. Sein Wissen um das Nest in der Kaminröhre gab ihm eine stille Kraft mit auf den Weg, die er erstaunt registrierte: das Gefühl von Stärke war ihm fremd.

"Achtzig Hektar Toskana zu einem solchen Preis finden sie heute nirgends mehr", bemerkte gerade der Mann mit dem Bariton und winkte lässig in die Landschaft als böte er einen günstigen Restposten Orientteppiche feil. "Die Gebäude, alles original Naturstein, das hat noch Substanz, hält noch mal zweihundert Jahre, wenn Sie ein bißchen restaurieren!" Die Gruppe der Fremden - eine Frau und zwei Männer - stand nur fünf Meter von der Tür entfernt, aus der Frieder lautlos aufgetaucht war. Sie schauten zum oberen Haus hinüber, von dem man nur das Dach und die große Zypresse im Hof sehen konnte. Den Rest verdeckte ein Verhau aus wilden Brombeeren, ein stachelbewehrter Verteidigungswall, durch den so leicht keiner dringen konnte.

Die Frau war blondhaarig und trug einen zu ihrem Alter - sie mochte Ende vierzig sein - eigenartig kontrastierenden Pferdeschwanz. Eine Sonnenbrille mit aufwärts geschwungenen Rändern verdeckte ihre Augen. Die schlanke, fast hagere Gestalt signalisierte etwas Resolutes, Willenskräftiges, dem man sich besser nicht in den Weg stellte.

"Hören Sie, wir sind keine Denkmalpfleger", ihr Ton war von leiser Schärfe, "unsere Ferienanlage verlangt zeitgemäßen Komfort. Und die Dächer, alle kaputt, doppelte Neubaukosten, schätze ich". Suchend streifte ihr Blick  über die Vegetation. "Außerdem gibt es hier kein Wasser, stimmt's?"

 Sie schob die Sonnenbrille hoch, klemmte sie in Kopfmitte vor den Pferdeschwanz und faßte den Makler fest ins Auge. Frieder bewunderte Sie einen Augenblick für ihren bei Städtern ganz ungewöhnlichen Schafblick.

Über der Stirn des Maklers bildeten sich kleine Schweißtröpfchen, seine Schultern sackten tiefer. "Sehen sie das Schilfrohr da unten?", matt deutete er auf eine Senke in etwa zehn Meter Entfernung, "da können sie bohren, macht hier jeder so. Sie haben dann eigenes Wasser und sparen Unsummen an Wasserkosten!"

"Bohren Sie nur", Frieders Stimme schob sich sanft aus dem Hintergrund. "Aber siebzig Meter tief müssen Sie schon gehen, da ist dann überall Wasser, sauberes klares Grundwasser".

Erschreckt fuhren die drei herum und entdeckten Frieder, der noch immer am Türrahmen lehnte und mit seinen sandfarbenen Jeans, dem olivgrünen Hemd und  der braungebrannten Haut aussah wie ein menschgewordener Teil der Landschaft. Sein glattes, mittelblondes Haar umrahmte ein Abiturientengesicht, das sich auch jenseits der Vierzig  nicht zu männlicher Reife bereit finden wollte - einzig eine kleine Erhebung in der Mitte des Nasenrückens gab ihm einen leisen Anflug von Melancholie.

Der Makler war sichtlich verärgert über die unverlangte Einmischung und schien sich für einen - wenn auch bloß verbalen - Großangriff in Positur zu werfen. Der zweite Mann starrte ausdruckslos, er trug ein Sekretärsköfferchen und hatte trotz der Hitze sein Jackett nicht abgelegt. Einzig die Frau faßte sich blitzschnell und erkannte ihren Vorteil. Freundlich lächelnd trat sie einen Schritt auf Frieder zu, in ihren hellgrauen Augen glomm Interesse. "Erzählen Sie mehr, was wissen Sie über das Wasser? Kennen Sie sich hier aus?"

Jetzt hatte Frieder seinen Auftritt. Noch immer spürte er die neue Kraft, die ihn trug, ein machtvoller Strom im Hintergrund seines Seins, an dessen unendliche Energie er angeschlossen war. Die Gefahren des Versagens waren verschwunden.

Er löste sich lässig von der schützenden Tür, trat den Fremden furchtlos entgegen, stellte sich als Reisender und Liebhaber alter Kulturlandschaften vor, ja, erbot sich sogar, die Interessenten ein wenig herumzuführen. Die Frau nickte zustimmend und ihrem Gefolge blieb keine Wahl, als sich anzuschließen.

Frieder steuerte die drei ums Haus zu einem frei stehenden gemauerten Turm von der Höhe und Breite eines mittleren Schranks und ließ die Besucher - einen nach dem anderen - durch die enge Holztür sehen. Es war der Zugang zu einer unterirdischen Zisterne, die noch immer zur Hälfte mit Wasser gefüllt war. "Sehen Sie, hier hat man den Regen gesammelt, über die Dachrinne eingeleitet, das ganze Jahr über", er pfiff eine Melodie in den weiten Hohlraum und in der Tiefe schallte es gespenstisch, "was hier hinunterfällt, findet ohne Hilfe nicht mehr heraus!"

Frieder fühlte sich wohl in seiner Rolle als Fremdenführer, fast ein wenig übermütig. Es ging weiter über unwegsam gewordene Pfade zum alten Backhaus, in dem die Bäuerinnen das Brot für die ganze Woche gebacken hatten,  zurück zum Haus in ebenerdige Kellergewölbe, die einst als Kuhstall gedient hatten, und wohl auch als Heizung für die, die darüber wohnten. Wieder draußen in der gleißenden Helle, zeigte Frieder die verwitterte Inschrift auf einer Steinplatte, die in die Mauer aus vielfarbigen Flußsteinen eingelassen war: "Santa Maria - ist das nicht ein schöner Name?"

In aufgeräumter Stimmung  führte er die Frau, deren Arm er einige Male leicht berührte, über bucklige Wege. Er redete und redete wie lange nicht mehr, erzählte Geschichten, die er von den Alten im Dorf gehört hatte, erzählte von den sardischen Schafhirten, die hier manchmal noch Rast machten und von der Schleiereule, die er einmal in einer leeren Scheune aufgestört hatte, wo sie den Tag verdöste, bevor sie in der Dämmerung mit lautlosem Flügelschlag auf Jagd ging.  Spät abends konnte man ihre sehnsüchtigen Rufe hören, die einem Partner galten, den es nirgends mehr gab, denn die große Eule war die letzte ihrer Art weit und breit.

Frieder war ins Schwärmen geraten und bemühte sich, als er es bemerkte, seiner Stimme wieder einen sachlichen Ton zu geben. Die Frau an seiner Seite hatte gelächelt, aber er konnte nicht erkennen, ob sie sich über ihn lustig machte oder ob die Eulengeschichte sie berührte. Konnte ein Mensch, der profitable Ferienanlagen plante, noch mit einer Eule leiden?

Beiläufig erwähnte er, daß die üblichen Wasserbohrungen nur dreißig Meter tief reichten, daß das Dorf zwei Kilometer entfernt lag und der Käufer des Geländes auf eigene Kosten eine Leitung quer durch die Macchia legen müßte, um von dort Wasser zu beziehen. Alle Zufahrtswege waren für Autos nicht mehr passierbar  und müßten neu planiert werden - alles Gründe, warum der Preis für Santa Maria so niedrig war und die Mienengesellschaft, der alles hierherum  gehörte, noch immer keinen Käufer gefunden hatte.

Frieder und die Frau waren jetzt miteinander allein, die beiden verschwitzten Männer  lange zurückgeblieben, nicht mehr willens, sich bei schwindender Aussicht auf ein gutes Geschäft weiter durch die Büsche zu schlagen. Es roch nach Salbei und dem Harz der Wacholderbüsche und vor ihnen öffnete sich ein weiter Blick über das ganze Gebiet, das wie im Dornröschenschlaf vor ihnen lag. Zu ihren Füßen raschelte es im Geröll.

"Seien Sie vorsichtig, hier gibt es Schlangen!" Frieder schaute auf die Füße der Frau, die in festen Birkenstock-Sandalen steckten. "Manche sagen, mehr Schlangen als in Afrika. Und nicht nur Nattern, auch Vipern!" Es sollte leicht dahingesagt sein, fast wie ein Scherz, aber der Blick in die Augen der Frau belehrte ihn, daß er im Begriff war, etwas falsch zu machen, katastrophal falsch.

Das fremde Fahrwasser, in dem er die letzte Stunde geschwommen war, als wäre er ein Routinier im Umgang mit Menschen, floß durch irgendeinen Abfluß des Daseins ab, als hätte die Frau den Stöpsel gezogen. Sie sah jetzt zu, wie er sich auf dem Trockenen wand.

"Glauben Sie wirklich, Ihre Schlangen könnten mich davon abhalten, Santa Maria zu kaufen, wenn ich es wollte?" Ihre hagere, fast soldatische Gestalt spannte sich, den Kopf  legte sie leicht in den Nacken, ihre Halsmuskeln traten scharf hervor. Frieder mußte an eine Kopra denken, die sich vor einem unerwarteten Störer aufbaute, kurz bevor sie zubeißen würde.

"Meine Schlangen?", stammelte er. Die Kraft der Rede war von ihm gewichen. Worte wirbelten durch seinen Kopf und wollten sich nicht zu einer Ordnung fügen. Frieder war wieder da angekommen, wo er sich auskannte: mitten im Versagen. Nur war er diesmal dabei, nicht nur sich selbst, sondern achtzig Hektar Märchenland mit in den Untergang zu reißen, ein Land, daß er mehr liebte, als je ein Wesen aus der Menschenwelt.

"Sie drohen mir mit den Schlangen und mit der Eule betteln Sie! Glauben Sie, ich merke das nicht? Wissen Sie," - ihr Lächeln nahm einen grausamen Zug an - "wenn ich ein paar Jahre jünger wäre, würde es mich amüsieren, hier alles einebnen  und einen Golfplatz anzulegen zu lassen. Nur um zu sehen, wie Sie sind, wenn Sie hassen!". Sie hielt inne, um ihre Worte ein wenig wirken zu lassen.

"Allerdings ein kostspieliges Vergnügen", fuhr sie fort, "Sie haben Glück: heute bin ich so kühl, wie das Kapital, für das ich hier stehe. Behalten Sie Ihre Geröllhalde, Sie Träumer!".

Sie war dicht an ihn herangetreten und Frieder roch einen Hauch ihres Parfums, vermischt mit Schweiß. Er stand wie erstarrt, spürte nichts, nicht einmal Erleichterung. War das jetzt ein Sieg?

Endlich trat er ein Stück zur Seite im Versuch, die Konfrontationsstellung, in die ihre Körper geraten waren, aufzulösen. Abrupt wandte sich die Hagere ab, schritt grußlos den Weg zurück, den sie gekommen waren, ließ Frieder einfach stehen.

Die Verwirrung wich nur langsam von ihm und er spürte, daß er in Schweiß gebadet war.

* * *

Eine Stunde vor Sonnenuntergang nahm Frieder wie gewöhnlich seinen Stammplatz in Marios Ristorante ein: ein kleiner Tisch an der Wand, von dem aus man den Gastraum gut überblicken konnte, machte es fast unmöglich, daß sich jemand dazusetzte. Lieber noch wäre es Frieder gewesen, man hätte den zweiten Stuhl ganz entfernt, aber er wagte nicht, darum zu bitten.

Mit den Wirtsleuten hatte er eine Abmachung für die Dauer seiner hiesigen Aufenthalte. Zu einem Festpreis bekam er ein beliebiges Nudelgericht, einen Fleischgang, dazu Salat, Brot und Wein und als Abschluß einen Kaffee. Das Arrangement enthob ihn der Notwendigkeit, eine Wahl zu treffen und verkürzte die Kommunikation zwischen ihm und Ardea, der beleibten Wirtsfrau, auf ein freundliches Lächeln und Nicken, wenn sie die Speisen heranschaffte.

Marios Küche war von der Art, wie man auch in den Familien sonntags kochte und der Ort wurde hauptsächlich von Einheimischen besucht. Touristen kamen nur, wenn sie woanders keinen Platz mehr bekamen. Für sie hätte es mehr atmosphärisches Beiwerk gebraucht, Blumen, Kerzen, zu ästhetischen Türmen aufgeschichtete Spezialitäten und auch Kellner mit bodenlangen weißen Schürzen, die jeden Moment herbeistürzten, um Wein nachzuschenken.

Einmal hatte sich Frieder in ein solches Restaurant verirrt. Weil ihn dort zwei Kellner aufmerksam beobachteten, die darauf warteten, daß er sei Glas leerte, hatte er sich genötigt gefühlt, dieser Erwartung so gut er konnte zu entsprechen. Wie sich herausstellte, war ihre Bereitschaft zum Nachschenken leider grenzenlos, während Frieder, der das Trinken nicht gewohnt war, die seine allzu schnell erreicht und überschritten hatte.

Es war eines dieser furchtbaren Versagenserlebnisse gewesen, denen Frieder umso weniger entkam, je mehr er versuchte, sie zu vermeiden. Seither ging er zu Mario.

Der Gastraum hatte sich mittlerweile zur Hälfte gefüllt. Ein paar sonnverbrannte Männer in erdigen Arbeitshosen tranken Bier aus winzigen Gläsern. Eine Familie mit drei Kindern war bei der Vorspeise. Die Eltern stachen entschlossen in Berge aus Spaghetti, wobei sie sich wenig Mühe machten, diese kunstvoll um die Gabeln zu wickeln, wie es die Touristen machten. Die Kinder, zwei Mädchen und ein Junge, hatten sich dem Althergebrachten verweigert und steckten sich - mehr oder weniger mit den Händen - gelbe Pommes-Stäbchen in die mit Ketchup verschmierten Münder. Ihre noch ganz schamlose Gefräßigkeit verunsicherte Frieder. Er sah sie, wie sie nicht aufhören würden zu essen, wenn die Teller leer wären, sondern einfach weiterschlingen: zuerst die weißen Stoffservietten, dann die Holztische mit den gestärkten Tischdecken, dann die anderen Gäste, das ganze Lokal mitsamt der Bar und den Autos, die davor parkten. Schließlich würden sie eine Schneise durch die Landschaft fressen, hier ein Wäldchen und da eine Schafherde mitnehmen, bis sie endlich den Strand erreichten und dort in den Fluten des Meeres verschwänden.

Die plötzliche Stille im Raum riß Frieder aus seiner Träumerei. Durch den Torbogen, der hinüber in die Bar führte, war ein deutsches Paar getreten, das die Blicke der bereits Sitzenden auf sich zog. Der Mann war klein aber massig und sein Alter schwer zu schätzen. Der ins Auge fallende Bauch setzte bereits unter dem Brustbein an und schwoll dann zu einer großen prallen Halbkugel auf, deren Gewicht es erforderte, daß der Eigner, ähnlich einem Großtrommelträger im Spielmannszug, die Schultern straff nach hinten ziehen und die Brust herausdrücken mußte. Trotz seiner minderen Größe von vielleicht einmeterfünfundsechzig vermittelte er so den Eindruck, als sähe er die Welt von höherer Warte. Von dort oben hob er jetzt leicht die Hand zu winkender Bewegung, die einen Gruß an die Anwesenden bedeuten konnte, aber auch die Aufforderung, mit den Ehrbezeugungen aufzuhören. Folgsam verloren die Gäste das Interesse. Das allgemeine Gemurmel, mal laut mal leise, setzte wieder ein.

Frieders Blick haftete gebannt auf dem Deutschen. Sein Herz hämmerte und eine Welle heftiger  Übelkeit ließ das Blut aus seinem Jungengesicht weichen. Er bemerkte diese Vorgänge mit Verwunderung, stellte sogar fest, daß hinter der Übelkeit die nackte Angst lauerte: eine Angst, schwarz und grenzenlos, fremd und doch altbekannt, als hätte er sein Leben damit hingebracht, ihr auszuweichen, sie an einer Stelle außerhalb seines Bewußtseins einzumauern, um niemals mehr dieser Schwärze, diesem alles verschlingenden Nichts zu begegnen.

Auch jetzt hielt die Mauer. Kein Bild, kein Gedanke erhellte es Frieder, wer dieser Mann sein mochte, dessen Anblick ihn so in Aufruhr versetzte. Er sackte ein bißchen tiefer in seine Ecke. Gern hätte er von dem Weinglas getrunken, das halbvoll vor ihm stand, doch er wollte nicht durch eine Bewegung auffällig werden, eine Folge von Ereignissen anstoßen, in deren Fortgang ein Versagen drohte, und diesmal - Frieder war sich sicher - ein ganz besonderes, noch nie da gewesenes Versagen.

Inzwischen war Mario herbeigeeilt und begrüßte die neuen Gäste mit einem lockeren "Salve!". Ältere Italiener grüßten die Deutschen manchmal noch so mit dem Gruß der  italienischen Rechten. Und sie meinten es sogar gut, was manchen Italienfreund erst recht befremdete. Den Bauchträger irritierte es nicht, er nickte, schob eine Hand hinter den Rücken seiner Begleiterin, als müsse er sie durch eigene Kraft in Bewegung versetzen und folgte Mario zu einem gedeckten Tisch in etwa drei Meter Entfernung von Frieders Sitzplatz.

Frieder hielt den Kopf leicht gesenkt und beobachtete das Paar durch die Wimpern. Sie hatten sich gesetzt und der Mann plauderte mit dem Wirt, während die Frau schweigend aus dem Fenster sah und keine Anstalten machte, die angebotene Speisekarte zu studieren.

Sie war jünger als ihr Begleiter, doch zu alt, um seine Tochter zu sein. Auch im Sitzen überragte sie ihn um einen halben Kopf. Ihre glatten dunklen Haare trug sie in der Mitte gescheitelt. Ihre Augen hatte sie dezent geschminkt, nicht so die Lippen. Rundliche Wangen gaben ihr die Sanftheit eines Kindes, doch auf ihrer Stirn stand eine tiefe senkrechte Falte. Sie betrachtete die Sonne, die jetzt über den Hügeln unterging. An ihrer näheren Umgebung schien nichts ihr Interesse zu wecken. Frieder sah ihr zu, wie sie mit kleinen harten Bewegungen des Zeigefingers die Haut unterhalb des Daumennagels aufkratzte, ohne hinzusehen.

Der Mann war mit seiner Bestellung zu Ende und entließ Mario mit wohlwollendem Nicken, sobald dieser die Weinflasche entkorkt hatte. Er füllte selbst die Gläser, wobei er - nun seiner Begleiterin zugewandt - ununterbrochen redete. Mit den Händen begleitete er seinen Wortschwall: ausholende raumgreifende Gesten, insistierendes Geklopfe mit gestrecktem Zeigefinger oder der flachen Hand. Schließlich ließ er die geballte Faust auf das Tischtuch herunterstoßen, daß die Gläser wackelten. Die Frau neben ihm blieb von all dem unberührt, sagte nur selten etwas. Einmal holte sie ein Taschentuch aus ihrer Handtasche, reichte es ihm, und er wischte sich die Schweißtropfen von der Stirn.

Es war noch immer heiß in Marios Lokal. Der ebenerdige Bungalow wurde tagsüber ungehindert von der Sonne aufgeheizt und die Mauern hielten die Hitze bis weit in die Nacht. Schnell brach jetzt die Dämmerung herein. Die dramatischen Farben des Sonnenuntergangs standen noch am Himmel, die rotviolette Scheibe hatte der Horizont bereits verschluckt. Sechs Neonröhren, deren Verkleidung aus Hartplastik teilweise weggebrochen war, verströmten taghelles Licht, das die Wespen anzog, die immer wieder gegen das Glas der Röhren knallten.

Frieders Übelkeit war vorüber und hatte dort, wo sie gewesen war, eine Leerstelle hinterlassen. Er stocherte jetzt vorsichtig in einem Teller Tortellini, den die Wirtin mit einem triumphierenden "ecco!" vor ihm abgestellt hatte. Deutlich spürte er die leere Stelle in seiner Gefühlswelt. Er war gewarnt, mußte sich vorsehen, durfte keinen Moment in der Aufmerksamkeit nachlassen. Die Dinge waren noch lange nicht ausgestanden. Er dachte daran, nach den Nudeln das Lokal schnell und unauffällig zu verlassen, aber womöglich würde Ardea ihn  zurückhalten, die nicht verstehen würde, wie jemand vor ihrem Fleischgang flüchten könne. Wer wußte schon, was er sich so durch sein ungewöhnliches Verhalten zu Schulden kommen ließe. Wenn etwas im Gange war - und daran zweifelte Frieder nicht mehr - sollte es aus eigener Kraft die Bühne betreten, ohne jedes Zutun seinerseits. Dies war seine Strategie gegen das  Versagen und also blieb er sitzen.

Der Dicke hatte sich durch seine pausenlose Aktivität, das Essen, das Reden, das unentwegte Gestikulieren, in Hitze gebracht. Seine Kopfhaut rötete sich und das Atmen schien ihn anzustrengen. Unwillig fixierte er sein verschwitztes Taschentuch, als wäre es an seinem Zustand schuld. Er griff nach seiner ledernen Umhängetasche und entnahm ihr ein kleines rechteckiges Gerät, das er mit  gewissen Nachdruck vor sich auf den Tisch stellte, noch etwas weiter weg schob und schließlich mit einem Knopfdruck in Gang setzte.

Leises Summen setzte ein, laut genug, um die Aufmerksamkeit der Essenden an den benachbarten Tischen zu erregen. Es war ein batteriebetriebener Tischventilator, der einen stetigen Luftstrom erzeugte, den sich der Deutsche genießerisch ins Gesicht blasen ließ. Als hätte er einen großen Sieg errungen, lehnte er sich zurück, stützte beide Hände auf die Tischkante und schaute befriedigt auf den Apparat, der es ihm gestattete, Herr über die Verhältnisse zu sein, der widrigen Natur ein Schnippchen zu schlagen.

Die Kinder, die gerade mittels lautem Sprechgesang ihre Eltern zu einer zweiten Portion Eis erpreßt hatten, waren begeistert. Sie zeigten in Richtung des kleinen Geräts  und erhoben sofort neue Forderungen an ihren Vater, der zustimmend nickte, während er mit den Zähnen Fleischfetzen aus einem fetttriefenden Hühnerbein riß. Auch die Arbeiter sahen herüber, machten ihre Späße über den Dicken,  in ihr Lachen mischte sich Bewunderung.

Über den Ventilator hinweg schweifte der Blick des Deutschen in die Runde, um die  Wirkungen seines entschlossenen Handelns zu erkunden. Er streifte über Frieder hinweg, hielt kurz inne, ging weiter, kehrte zurück, setzte sich schließlich fest.

Staunen malte sich auf sein Gesicht. Es war soweit.

"Frieder? Ist's möglich? Frieder Nasenbuckel!" Der häßliche Schimpfname aus fernen Kindertagen traf Frieder wie ein mit voller Wucht geführter Schlag in den Magen. Er fühlte ein Reißen, als würden dicke Stoffverbände von einer großen Wunde gerissen und frisches Blut begänne zu fließen. Das Gefühl des Fließens ließ den Raum transparent werden, ins Unsichtbare zerrinnen. Die Konturen verschwammen  zuerst, dann alle Flächen, als letztes verschwand der helle Fleck, der das Gesicht des Rufers gewesen war.

* * *

Die acht Schmetterlinge lagen auf dem Rücken, nebeneinander aufgereiht auf einem großen Stein. Klickerkugeln und kleine Steine beschwerten die Flügel, ihre langen Fühler und winzigen Beinchen zappelten hilflos in der Luft. Einige hatten schon aufgehört, sich  zu bewegen.

Frieder stand unter dem Weidenbaum.  Er war acht, der zweitjüngste in der Kinderbande. Nur Gitti, das einzige Mädchen, war erst sechs. Die Zweige der Trauerweide berührten den Boden und bildeten einen lichten grünen Dom, der ihnen als Versteck, als Häuptlingszelt und Ritterburg diente. Vor allem beschirmte er sie vor den suchenden Blicken der Mütter, die manchmal aus den rückwärtigen Fenstern der Fünfzigerjahrebauten schauten.

Lutz Sauerbier schaute wohlgefällig auf die Gefangenen, die ihr qualvolles Schicksal seiner neuesten Idee verdankten. 'Folter im Mittelalter' hieß das Spiel und Lutz, der ihr Anführer war, erfand oft solche Spiele. Nicht allen machte es so viel Freude wie Lutz, lieber hätten sie Wettrennen oder Autoquartett gespielt, aber Lutz konnte man nicht widerstehen. Fast einen Kopf kleiner als Jörg, der Älteste, war er der Dickste unter den Kindern, hatte dabei  unbändige Kraft, die er rücksichtslos einsetzte. Mit schnellem Griff warf er jeden, der es wagte, ihm nicht zu folgen, auf den Boden, nahm ihn in den Schwitzkasten und drückte zu, bis es einem schwarz vor Augen wurde und man halb erstickt alle Schwüre leistete, die er verlangte.

Selbst wer so feige war, die Erwachsenen um Hilfe zu bitten wie Gitti, das schwächliche Mädchen, erreichte nichts. Lutz Sauerbier war schlau: seit er ein paar Monate mit Gelenkrheuma im Krankenhaus gewesen war, ließ er die Großen im Glauben, er sei noch immer der kränkelnde Junge, den man vor den rücksichtslosen Nachbarskindern schützen müsse. Nie wurde er an Orten gewalttätig, die von den Fenstern aus zu sehen waren.  Doch um nachhause zu kommen, mußte man über die Kellertreppe oder durch die Einfahrt. Dort lauerte Lutz den Widerständigen auf. Den Wilfried hatte er vor zwei Wochen so in den Daumen gebissen, daß der einen Verband tragen mußte. Fairen Kampf verlangte Lutz  von den Anderen, ihm selbst war alles erlaubt - wegen dem Gelenkrheuma, sagte er.

Frieder lehnte sich an den Baumstamm, den er zu seiner Schande noch immer nicht ohne Hilfe erklettern konnte. Die Schmetterlinge taten ihm leid. Er versuchte, nicht hinzusehen, indem er den Blick ganz nah einstellte, so daß das gräßliche Bild zu Farbflecken verschwamm. Diese Art zu desertieren war von außen nicht erkennbar, auch nicht für Lutz. Streng mußte Frieder darauf achten, seine Empfindlichkeit zu verbergen, denn sie konnte den Anführer reizen. Er hatte Frieder schon dazu gezwungen, einen lebenden Regenwurm zu essen und ein andermal mußte er einem Käfer die Flügel ausreißen. Dabei war ihm schlecht geworden und Lutz hatte ihn ausgelacht und Nasenbuckel genannt.

'Soll er selber da liegen! Sollen doch seine Arme mit Felsen gefesselt sein!' Frieder wußte aus leidvoller Erfahrung, daß kein Gott und kein Teufel ihn erhören würde, aber es half, um das Weinen zu verhindern. Einmal, ja einmal hatte er Lutz erschrecken können, als er plötzlich eine Schachtel aus der Hosentasche zog, in der es heftig summte. "Ich lasse sie alle heraus, wenn Du mich nicht in Ruhe läßt!" hatte er gedroht und Lutz war tatsächlich blaß geworden. Ein riskanter Bluff, denn in der Schachtel war nur eine einzige müde Wespe gewesen, bis heute sein einziger Sieg.

Lutz verlor jetzt das Interesse am Schmetterlingsspiel und ließ Vorschläge machen. 'Indianer', 'Versteck', 'Autorennen' - ihre Ideen entlockten ihm ein müdes Lächeln, alles schon tausendmal durchgespielt.

"Wir machen Feuer unter der Schule!", ordnete er an und weidete sich an ihrer Beunruhigung. Keiner wußte, was er vorhatte. "Holt Holz und Papier und schnürt Bündel!" befahl er, und die Kinder sammelten ein, was herumlag. Gitti wollte nach Hause, doch Lutz legte den Arm um ihre schmalen Schultern, wie sie es beim Hochzeitsspiel taten, und flüsterte ihr ins Ohr: "Klar kommst du mit, ich zeig dir auch was!" Sie wand sich ein wenige, traute sich aber nicht, sich ernsthaft zu wehren.

Man brach auf. Ein Lattenzaun trennte die Hinterhofwiese vom Schulhof. Sie stiegen durch eine Lücke, rutschten einen buschbestandenen Abhang hinunter und standen hinter der Schule. Es war nachmittag, weit und breit niemand zu sehen. Um die Ecke des Backsteinbaus führte ein kleiner Trampelpfad an den Mülltonnen vorbei, den schlugen sie ein. Dicht an der Mauer schlichen sie hinter Jasminbüschen entlang, die sie vor etwaigen Blicken des Hausmeisters verbargen, der manchmal bei gutem Wetter  einen Rundgang machte.

Plötzlich tauchte vor ihnen ein Podest aus Beton auf, das an die Schulmauer anschloß. Es hatte einen Deckel aus rostigem Stahl, mit zwei Schrauben gesichert.

Lutz zog einen Schraubenschlüssel aus der Tasche, reichte ihn Jörg, der sich nicht sehr anstrengen mußte, um die Schrauben aufzudrehen. Es war wohl schon jemand hier gewesen. Zu zweit lehnten sie die schwere Platte gegen die Wand, die Scharniere  quietschten. Alle standen jetzt um die Öffnung herum und starrten hinein. Steigeisen führten in die Tiefe eines zwei Meter tiefen Schachts und unten, am Boden, öffnete sich ein schwarzes Viereck.

"Führt in den alten Schulkeller", erläuterte Lutz und verteilte Streichholzschachteln. Er selbst besaß eine Taschenlampe, die er aber niemals verborgte. "Los, du zuerst!", er zeigte auf Jörg. Der versuchte, seine Furcht zu verbergen, begann ohne Murren den Abstieg. Wilfried folgte, Frieder mußte als Dritter hinunter.  Vorsichtig ertasteten seine Füße die jeweils nächste Eisenstange. Schon wieder wurde ihm ein klein wenig schlecht. Als er den Boden erreicht hatte, sah er nach oben. Vor dem Quadrat aus blauem Himmel grinste Lutz herunter. Sein Gesicht hatte denselben Ausdruck wie zuvor, als er die Schmetterlinge betrachtet hatte. "Wenn er jetzt zumacht?" schoß es Frieder durch den Kopf und sein mulmiges Gefühl wuchs.

Da es kein Zurück gab, wendete er sich klopfenden Herzens dem schwarzen Eingang zu, tastete mit dem Fuß vorsichtig nach Boden, erfaßte die Treppe, drei Stufen führten hinab, stand in der Dunkelheit. Alles war schwarz, als hätte er die Augen geschlossen, oder als wäre er blind. War er vielleicht blind?

Frieder fuhr zusammen, als ihn etwas Lebendiges am Arm berührte, doch es war bloß Jörg, der nach seiner Hand faßte.

"Los, Streichholz!" Jörgs Stimme klang dünn und sie atmeten auf, als das Licht aufleuchtete. Alles, was man sehen konnte, war das brennende Streichholz selbst, der Raum mußte riesig sein. Hinter ihnen drängten die anderen nach, zuerst Gitti, dann Wilfried, Lutz als letzter. Seine Taschenlampe erstrahlte, der Schein drang durch die Dunkelheit und beleuchtete unverputzte Mauern.

Sie standen in einem etwa vierzig Quadratmeter großen, fensterlosen Kellerraum. Er hatte fünf Wände, eine davon in der Mitte, eine Art Stützwand, um die man herumgehen konnte. Das machte den Raum  besonders unheimlich, denn von keinem Ort aus war er ganz zu übersehen. Etwas Feindliches konnte sich leicht den Blicken entziehen, hinter der fünften Wand verbergen.

Bis auf ein paar Kisten mit leeren Kakaoflaschen war der Raum leer. Eine Tür, die einmal weiter in die Schule geführt hatte, war zugemauert.

"Es riecht nach Grab", flüsterte Wilfried. "Klar doch", spottete Lutz, "hier verscharren Schüler die Leichen besonders ekelhafter Pauker! Steht nicht 'rum und glotzt, macht Feuer!". Sie gehorchten, schichteten die mitgebrachten Zeitungen, trockenen Äste und Holzlatten auf einen Haufen. Als die Flammen loderten, wurde es Frieder leichter ums Herz. Alle waren jetzt mutiger, pfiffen, stießen Indianerrufe aus und spielten mit den Riesenschatten, die sie auf die Wände warfen, ließen sie einen seltsamen Tanz aufführen. Bloß Gitti kauerte still neben dem Feuer und sah häufig zum Ausstieg, als befürchte sie, er könne plötzlich verschwinden.

"Schaut mal, was ich hier habe! Von meinem Alten aus dem Nachttisch." Lutz, der sich mit gekreuzten Beinen neben das Mädchen gesetzt hatte, hielt jetzt mit geheimnisvoller Miene ein Päckchen aus bunt bedrucktem Papier in die Höhe. Als die anderen neugierig herangekommen waren, entfaltete er langsam das Päckchen und hielt es so, daß die Flammen es gut beleuchteten.

"Sieht das bei dir auch so aus?", fragte er Gitti. Alle starrten auf das großformatige Foto.

Die stark geschminkte Frau auf dem Bild saß nackt auf einer Bettkante. Ihre riesigen Brüste stützte sie mit den Händen, die Beine hielt sie so weit auseinander, daß man alles genau sehen konnte.

 Schnell schaute Frieder weg, denn dies war streng verboten. Sein Vater hatte ihm einmal heftig auf die Finger geschlagen, als er einen Katalog mit Frauen in Badeanzügen ansah, der in der Post gewesen war. Und seine Mutter hatte ihn barsch hinausgeschickt, als er sie - ganz unabsichtlich - im Bad überraschte. Dabei hatte er sie nur von der Seite gesehen, wie sie sich übers Waschbecken beugte und ihre Brüste herunterhingen wie mit Wasser gefüllte Luftballons.

Die Jungen kicherten. Frieder blinzelte, schaute flüchtig noch einmal hin. Gitti lachte nicht, schien in sich zusammenzuschrumpfen. "Los, laß mal sehen!" herrschte Lutz sie jetzt an und Gitti machte eine schnelle Bewegung vom Feuer weg.

"Festhalten!" Wie ein Schraubstock hielt seine Rechte Gittis Oberarm fest, bis Jörg und Wilfried ihm  beisprangen. Sie drehten Gittis Arme auf den Rücken, wie im Indianerspiel. Gitti konnte sich nicht mehr bewegen. "Laßt mich", - ihre weinerliche Stimme zitterte, "ich muß nach Hause". Tränen begannen ihr übers Gesicht zu laufen.

Frieder schauderte. Wenn das herauskam, würde ihm keiner glauben, daß er nicht mitgemacht hatte. Außerdem mochte er Gitti. Sie kannte Spiele, bei denen es ihm warm ums Herz wurde, zum Beispiel 'Ritter und Dornröschen'. Da hatte er sie als Ritter vorsichtig auf den Mund geküßt. Er mußte an den Geschmack nach Kaugummi und Mädchen denken und wie sie dann Blutsbrüderschaft geschlossen hatten mit eigenem echten Blut. Er wünschte sich weit weg, hoffte, dies alles sei ein Traum, kniff sich in den Arm, aber vergebens: das Feuer, der Keller, die unheimliche Wand, Gitti, festgehalten, die Arme schmerzhaft verdreht -  alles blieb, wie es war.

Lutz hatte die verbotenen Bilder fallen lassen und trat dicht an das Mädchen heran. "Ich fühl' mal nach, ob sie auch so viele Haare hat, dann darf sie abhauen!" erklärte er gönnerhaft -  vielleicht, um den anderen das Gefühl zu geben, dies sei eine Selbstverständlichkeit und jeder ohne Verstand, der sein Forscherinteresse in Zweifel ziehe.

Er steckte seine Hand von vorn in ihre schwarze Trainingshose, die nur von einem einfachen Gummizug gehalten wurde. Sie versuchte, der Hand zu entkommen, ließ sich schwer nach hinten fallen, doch Jörg und Wilfried hielten eisern fest. "Keine Haare!", berichtete Lutz und schien jetzt auzuprobieren, wohin er mit den Fingern noch reichen könne. Gitti schrie. Neben der Angst zeigte sich Ekel in ihrem verzerrten Gesicht, abgrundtiefer Ekel, der Frieder ansprang wie ein monströses Ungeheuer aus einem furchtbaren Alptraum.   Alles sollte er vergessen, doch dieser Ekel würde immer wieder erwachen, jedes mal, wenn er nicht umhin konnte, eine Frau zu berühren.

Frieders Knie erwischte Lutz von der Seite und ließ ihn gegen Gitti fallen. Sie rissen Jörg und Wilfried um, bildeten für kurze Zeit ein chaotisches Knäuel. Frieder setzte nach, sprang auf Lutz' Rücken und versuchte - ungeübt in solchen Rangeleien - ihn durch das eigene Gewicht auf dem Boden zu halten. Doch der Augenblick der Überraschung war vorüber: mit heftigem Ruck drehte sich der Untenliegende, brachte Frieder zu Fall, kam seinerseits obenauf, schrie "Verräter, nehmt ihn gefangen!", wobei er Frieder mit der Faust ins Gesicht schlug. Der, vom Schlag ganz benommen, versuchte nur, die Arme schützend vor den Kopf zu halten, tat nichts weiter, dachte nichts, hörte noch Gittis Schritte auf den Steigeisen, die sich aus dem Staub machte.

Schnell war alles vorbei. Wie zuvor das Mädchen hielt man jetzt den wehrlosen Frieder, damit Lutz sein Urteil fälle. Der grinste, sonnte sich in seiner Siegerpose. "Schau an, Frieder der Mädchenfreund!" höhnte er. "Na, das wirst du bereuen, Nasenbuckel! Los, bindet ihn, wir lassen ihn im Verlies!"

Frieder sah und hörte alles wie durch dickes Milchglas. kaum spürte er, wie sie ihn mit den Stricken von den Holzbündeln fesselten, ihn als fest verschnürtes Paket hinter die fünfte Wand schleppten, wo das Dunkel wartete. Er hörte Stampfen, als sie das Feuer austraten, ein Scharren, hastige, sich entfernende Schritte, zuletzt das Quietschen, als sie den Eisendeckel schlossen. Dann war alles still.

Um Frieder herum war nichts als Schwärze, eine Finsternis, die jetzt langsam in sein Bewußtsein drang, sich dort ausbreitete, alles andere verdrängte. Dies war anders, als wenn die Mutter das Licht löschte, tiefer, endloser und von kalter Gewalt. Nicht einfach die Abwesenheit von Licht: er spürte etwas, da war etwas, eine Präsenz, die er nicht deuten konnte, die sich mehr und mehr verdichtete. Er schrie - und erschrak noch mehr von der dumpfen Hohlheit der eigenen Stimme, die im feindlichen Dunkel versackte. Er riß die Augen auf, blinzelte, kniff sie zusammen - kein Unterschied. Jetzt -  näherte sich da etwas? War da ein leises Schlurfen von der anderen Seite der Wand? Oder bildete er sich das nur ein? Der Schweiß brach ihm aus und doch fror er.  Die Kälte griff nach seinem Herzen als wolle sie den Boden vorbereiten für den Schrecken, der sich noch offenbaren würde, der auf ihn wartete, ganz sicher. Da war kein Entkommen, kein Erwachen möglich. Das Nichts konnte sich ans Werk machen. Es hatte alle Zeit der Welt.

* * *

"Hat's dir die Sprache verschlagen? Erkennst du mich denn nicht? Sofort kommst du 'rüber, los, nimm dein Glas und wandle!"

Lutz Sauerbier hatte sich halb aufgerichtet, haute mit dem ausgestreckten Arm fest in die Luft in Frieders Richtung, als wolle er einen zu weit entfernt schwimmenden Gegenstand zu sich heranrudern. Ein Freund aus Sandkastenzeiten, hier in der Fremde, einer, der wußte, was damals in ihm steckte und dem er vorführen konnte, was er daraus gemacht hatte! Lutz freute sich über seine Entdeckung, wie er sich sonst nur freute, wenn sich ihm unverhofft Gelegenheit zu einem  guten Geschäft bot, wenn sich die Dinge wie von selbst zu seinen Gunsten entwickelten und er nur den rechten Moment abpassen mußte, um die Beute einzufahren.

Als er sah, daß Frieder ihn nun endlich erkannt hatte und sich anschickte, seiner Aufforderung Folge zu leisten, ließ er sich befriedigt in den Stuhl zurückfallen, streckte dem Ankömmling die Rechte entgegen, schüttelte die fremde, etwas schlaffe Hand übermütig und bedeutete mit abwärts gestrecktem Zeigefinger den Stuhl, auf den er Frieder platziert haben wollte.

"Und das ist meine Frau, meine süße Maria, mein Edelstein!" Er legte den rechten Arm um die Schultern der Frau, drückte sie kurz und heftig an sich, schob sie dann ein wenig vor, damit Frieder sie auch gehörig bewundere. Frieder und die Frau gaben sich höflich die Hand wie zwei Kinder, denen die Eltern aufgegeben hatten, lieb zueinander zu sein. "Mario, eine Runde Grappa!" rief Lutz.

Jetzt  musterte er Frieder, witzelte, daß der ja schon immer ein schmaler Hering gewesen sei, begann, ihn auszufragen, als hätte er jedes Recht, ausführlich Bericht  einzufordern. Gleich dem Angler, der einen kapitalen Fang erst einmal wiegt und ausmißt, um sein Jagdglück voll zu machen, tastete er Frieders Leben ab, quittierte dessen Tätigkeit als Dozent und freier Übersetzer mit einem 'ja, ja, die brotlosen Künste!', wunderte sich nicht, daß Frieder nicht geheiratet hatte und nickte gönnerhaft zu seinem Doktor im Fach Romanistik. Akademische Würden waren für Lutz ein Trostpflaster für diejenigen, die für das wirkliche Leben Wirtschaft zu schwach waren und sich das nicht eingestehen wollten. Aber er hatte nichts gegen die Studierten, ja, der Gedanke, daß er es war, der ihnen mit seinen Steuergeldern ermöglichte, ihre pflanzenhafte Randexistenz in mal mehr, mal weniger nützlichen Gebieten der Wissenschaft zu führen, gab ihm ein gutes Gefühl.

Frieders Antworten auf seine Fragen blieben recht einsilbig, erst nach dem Grappa schien er sich etwas mehr zu entspannen. Der Nasenbuckel war schon immer ein bißchen seltsam gewesen, erinnerte sich Lutz, oft empfindlich wie ein Mädchen, fast feige, dafür stark und eigensinnig bei Gelegenheiten, wo er es nie vermutet hätte. Er konnte Frieder nicht einschätzen, hatte es nie gekonnt, obwohl er sein Verhalten regelrecht studiert hatte. Das war also geblieben, war nicht 'rausgewachsen seit den Zeiten unter dem Weidenbaum!

Maria hatte den Grappa nicht angerührt. Sie beteiligte sich kaum  am Gespräch der Männer, beobachtete sie wie Schauspieler, die ihr Stück vor der Kulisse des lebhafter gewordenen Lokals aufführten - noch war nicht zu erkennen, ob es eine Tragödie oder eine Komödie sein würde.

Es war Nacht geworden. Das laute Konzert der Zikaden im nahen Pinienwäldchen war verstummt und aus der Bar dröhnte der Fernseher herüber. Zu den vereinzelten Wespen, die immer noch gegen die Neonröhren flogen, gesellten sich große Nachtschwärmer. Die meisten Gäste hatten ihr Mahl beendet und kleine Espresso-Täßchen vor sich stehen, die den intensiven Duft  starken schwarzen Kaffees verströmten.  Die Landarbeiter unterhielten sich lautstark, um das Fernsehprogramm zu übertönen, die Kinder hatte es nicht auf den Stühlen gehalten: sie tobten durch den Gastraum, versteckten sich hinter Tischen und warfen mit kleinen Kügelchen aus zusammengedrücktem Weißbrot, dessen Reste überall auf den fleckig gewordenen Tischdecken herumlagen.

Maria öffnete ihre Tasche, kramte ein wenig, brachte ein Tablettenröhrchen zum Vorschein und reichte es Lutz. Der runzelte unwillig die Stirn, denn er unterbrach nur ungern seinen Redeschwall inmitten einer Erfolgsstory aus seinem Bauunternehmerleben. "Bypass-Operation, Herz hat gestreikt, schon ein halbes Jahr her, hatte mich ein bißchen übernommen", erklärte er, wobei er die Stimme senkte, als solle sein Herz nichts davon mitbekommen, daß er dessen schnödes Versagen erwähnte. Er schenkte sich ein Glas Wasser ein, nahm zwei rote Pillen aus dem Röhrchen und spülte sie hinunter.

Als er das Glas wieder absetzte, erhaschte er gerade noch das befriedigte, ja fast triumphierende Lächeln, kurz über Frieders Gesicht huschend, ein heftiges Kräuseln des Wassers auf einem sonst fast zu ruhigen See. Aha, hier war einer, dem sein Gebrechen gerade recht kam!

Schlagartig wurde für Lutz das Licht heller, die Farben leuchtender, die Geräusche lauter und seine Muskeln spannten sich an.  Zwar wußte er keine Erklärung für die ungebührliche Reaktion seines Sandkastenkumpels, aber er war gewohnt, solche Zeichen ernst zu nehmen, sehr ernst sogar.

Lutz lächelte ebenfalls: fast hätte ihn das zufällige Zusammentreffen ja schon zu langweilen begonnen. Hier zeigte sich nun etwas Unerwartetes, Unbekanntes. Vielleicht saß da ein Gegner vor ihm, vielleicht wollte etwas gegen ihn antreten, sammelte Informationen über seine Schwachpunkte. Lutz' Kämpfernatur war hell wach .

Hatte Frieder vielleicht ein Auge auf Maria geworfen? Gewohnt, den Dingen auf den Grund zu gehen, erhob sich Lutz, entschuldigte sich mit einem menschlichen Bedürfnis und ging hinüber in die Bar. Von dort betrat er den Vorplatz des Restaurants, stand einen Moment unter der rotweißen Jalousie. Die Tische draußen waren leer, wie immer um diese Zeit. Gemütlich schlendernd, als wolle er sich die Beine vertreten, machte er ein paar Schritte nach links, bis er vor der Fensterfront des Gastraums stand, die bis zum Boden reichte. Die meisten Fenster standen offen. Wenn nicht gerade hinter ihm einer seine Autoscheinwerfer einschaltete, würde man ihn von innen nicht sehen können, denn Mario hatte die Neonreklame schon abgeschaltet.

Gespannt beobachtete er, wie Maria und Frieder sich unterhielten. Frieder machte eine wegwerfende Handbewegung,  Maria lachte. Der Nasenbuckel konnte also auch witzig sein, vermerkte Lutz, was aber für sich genommen noch nichts bedeutete. Es war nicht auszumachen, ob sich zwischen den beiden die Art Bande knüpften oder bereits bestanden, die er vermutete. Lutz steckte sich eine Zigarette an, was er nur noch selten tat, wendete sich vom Fenster ab und schaute ins Dunkle. Es war Neumond, eine einzelne Laterne auf der anderen Seite von Marios Bar beleuchtete die Straße, der Lichtkreis erhellte ein Stück abgeerntetes Weizenfeld.

Lutz machte sich keine Illusionen über seine Ehe mit Maria. Sie war fünfzehn Jahre jünger und hatte ihn vor zwei Jahren geheiratet, weil er ihr ein gutes Leben bieten konnte. Er hatte sie kennen gelernt, als sie in verwirrtem Zustand an der Straße stand. Es war nicht klar gewesen, wohin sie wollte, aber eingestiegen war sie.

Er kannte sich nicht aus in diesen Dingen, aber es war nicht schwer, zu merken, was mit ihr los war. 'Psychotischer Schub' nannte es der Arzt in der Klinik, in der er sie ablieferte. Zwei Wochen später hatte Lutz sich nach ihr erkundigt, sie im Krankenhaus besucht und sie - als sie wieder draußen war - regelmäßig getroffen. Er war sonst niemals sentimental, aber bei Maria hatte er plötzlich den Wunsch verspürt, einen anderen Menschen zu beschützen - ein neues Gefühl, das er sich erhalten wollte - erhalten und gleichzeitig kontrollieren.

Marias Problem konnten die Medikamente, die sie zum Schatten ihrer selbst machten, nicht lösen. Sie brauchte Menschen um sich, immer, die sie davor bewahrten, mit sich allein zu sein. Sie erfand Geschichten von gefährlichen Feinden und Verfolgern, an die sie selber glaubte, um den Beistand, das Zuhören, die Anteilnahme anderer zu erzwingen. Nur wenn sie im Mittelpunkt stand, fühlte sie sich lebendig. Das Alleinsein bedeutete den Tod, und so war sie ein Spielball für Männer, die es verstanden, ihre Abhängigkeit zu nutzen. Lutz, dem andere Menschen kein Bedürfnis, sondern allermeist Gegner oder Schmarotzer waren, begriff Marias Wesen erst, nachdem er etwa ein Jahr ihr  Freund in der Not gewesen war: Immer wieder kam sie zu ihm, total verängstigt, auf der Flucht vor einem Mann und noch mehr vor sich selbst.

Lutz wußte nicht, welche Dämonen in ihr hausten, wollte es gar nicht wissen, denn er  hätte ihnen Dankbarkeit geschuldet. Als sie wieder einmal zu ihm sagte: "Lutz, bei dir fühle ich mich so sicher", und ihn ansah, als befürchte sie, gleich wieder weggeschickt zu werden, hatte er gefragt, ob sie ihn heiraten wolle.

So war das gewesen. Lutz zertrat die Zigarette und warf noch einen Blick durch die hell erleuchteten Fenster. Da saß sie, bezirzte Frieder mit ihrem kindlichen Lachen, das so schnell einem Ausdruck bodenloser Traurigkeit weichen konnte. Vielleicht sollte er ihr eine Affäre ermöglichen? Sicher war der Nasenbuckel einer, den er im Zaum halten konnte - andrerseits, das schadenfrohe Lächeln vorhin, das nahm er ihm übel.

Mit solcherlei Überlegungen betrat Lutz die Bar, nahm im Vorbeigehen noch einen Grappa und setzte sich wieder zu den beiden, die in angeregtem Gespräch vertieft waren.

Gerade, als er anfangen wollte zu sprechen, flatterten zwei kleine dunkle Schatten knapp an seinem Kopf vorbei, zu geschwind, um gleich erkennen zu lassen, daß es Fledermäuse waren, die sich verflogen hatten. In rasanten Kurven und Sturzflügen zogen sie ihre Kreise, wichen elegant jedem Gegenstand aus, berührten trotz ihres rasenden Fluges niemals die Wand. Die Köpfe der Gäste folgten ihren Bahnen auf gleichförmig kreisenden Hälsen. Ganz leise, wie das sehr weit entfernte Weinen eines Säuglings, hörte man ihre Schreie, durch deren Echos die Flatterer sich im Raum orientierten.

"Ekelhaftes Viehzeug!", empörte sich Lutz, sprang auf und schlug mit der Serviette ein paarmal in die Luft, ohne damit etwas auszurichten. "Tagsüber hat man Käfer, Wespen Fliegen, Skorpione, und nachts ist auch keine Ruhe in diesem verteufelten Zoo!" Als er merkte, daß sich die Landarbeiter über den wildgewordenen Deutschen amüsierten, gab er auf, setzte sich und seufzte. "Laß doch, die gehen von selbst", sagte Maria leise, und wirklich, ganz plötzlich waren die Tiere verschwunden.

"Erzählen Sie doch weiter von Santa Maria", forderte sie jetzt Frieder auf. Frieder zögerte, mit vorsichtigem Blick auf Lutz fuhr er fort: "Eine märchenhafte Gegend, aber nicht erschlossen, für Bauvorhaben ganz uninteressant". Und er erzählte sein Erlebnis vom Nachmittag zu Ende, von der Bauunternehmerin, die über die nötigen Investitionen entsetzt gewesen sei und von dem Makler, dem er vielleicht ein Geschäft verdorben hatte.

"Vielleicht sollten wir es kaufen? Was meinst du, meine Süße? Santa Maria für die kleine Maria? Du könntest da ungestört Freunde aus Deutschland beherbergen, Malkurse anbieten oder Pferde züchten."

Lutz beobachtete Frieder unauffällig, während er diesen Versuchsballon steigen ließ. Tatsächlich, der war erschrocken und konnte es kaum verbergen! Lutz jubilierte innerlich über seinen Treffer und beschloß, die Sache noch etwas weiter zu treiben. "Weißt du was, alter Junge, du kommst morgen zu uns, muß dir sowieso meine Burg zeigen. Anschließend gucken wir uns die Gegend mal an. Wie wär's um zwei?"  Frieder murmelte etwas von Arbeit, die er fertig machen müsse, von Termindruck, aber Maria sagte: "Sie müssen kommen, wir haben sowenig Abwechslung hier, tun Sie's mir zuliebe!" und Frieder willigte ein.

Lutz war guter Dinge, fühlte sich obenauf, wie immer, wenn er meinte, die Fäden in der Hand zu halten.

* * *

Wieder war es Mittag, die schlangengleichen Straßenbänder schmiegten sich liebevoll um die Hügel, die Hitze schmolz den schwarzen Asphalt, die Vögel versteckten sich in den staubig-grünen Büschen vor der Sonne und ließen die Flügel hängen.

Frieder hatte keinen Blick für die gelbverbrannte Weite, kein Ohr für die Gewalt der Stille, die eine Bilderbuchlandschaft aus der Menschenwelt herausfallen läßt. Starr schaute er vor sich auf die leergefegte Straße, hatte alle Mühe, den Gleichklang zwischen den hemmungslosen Kurven der Straße und den von ihm zu vollziehenden Lenkradbewegungen aufrecht zu erhalten. Das Thermometer zeigte einundvierzig Grad, die Temperatur verlangsamte das Denken und blähte kleine Vorgänge innerhalb und außerhalb des Körpers zu Ereignissen auf.

An der Windschutzscheibe klebten die Überreste zahlloser Insekten. So schnell kann es einen erwischen, dachte Frieder, zack und weg! Wenn da hinter der Biegung jetzt ein Bus auftaucht, nur ein bißchen zu weit links: zack und weg. Oder ein Himmelskörper, dem die Erde im Weg ist: zack und aus! Es gab nichts zu tun oder zu lassen, zu entscheiden oder zu vermeiden, mit dem man es verhindern könnte, dachte Frieder. Was hieß schon Versagen? War es nicht eine Täuschung, daß unsere Handlungen etwas ändern könnten? Die Möglichkeit, das Steuer nach rechts zu drehen, um nicht den Abhang hinunter zu stürzen, bewahrt nicht vor dem Bus, schon gar nicht nicht vor dem Meteor.

Sinnlos, alle Angst ist  sinnlos, dachte Frieder und spürte, wie sich ein Gefühl der  Leichtigkeit in ihm breit machte. Er lehnte sich in den Sitz zurück, genoß die kleinen Schweißbäche, die seine Brust hinunterrieselten, genoß das mühelose Dahingleiten der drei Tonnen Stahl, Blech und Plastik seines Wagens, die den minimalen Bewegungen seiner Rechten am Steuer folgten. Fast vermißte er an der Spitze des Schalthebels einen Auslöseknopf, mit dem man Schüsse auf plötzlich auftauchende Hindernisse abgeben könnte.

Rechts der Straße erschien ein drei Meter hoher Maschendrahtzaun, der es jedem, Tier wie Mensch, verwehrte, den buschbestandenen Abhang zu betreten. Ein paar Kurven weiter eine Einfahrt: das mußte es sein. Frieder bremste, bog ein und passierte ein rotes Schild: "STRADA PRIVATA!".  Auf beiden Seiten säumte der Zaun den sauber asphaltierten Weg, der durch ein Stück ordentlich ausgelichteten Eichenwald führte. Dann versperrte ein Tor weiteres Vordringen, maschendrahtbespannte Stahltüren, stachelbewehrt, rechts und links steinerne Pfeiler auf denen je ein weißer Gipslöwe dem Besucher entgegen starrte.

Frieder stieg aus, suchte und fand das Schild 'Sauerbier', drückte auf die Klingel, summend öffnete sich das Tor. Frieder fuhr an und näherte sich im Schritttempo Lutzens Burg, die nun in voller Pracht in den Blick rückte.

Eine zweistöckige geklinkerte Neubauvilla ahmte altitalienischen Stil nach, der wiederum römischen Stil nachgeahmt hatte: Säulenbalustraden, Freitreppe, ein Vorplatz mit dreibeckigem Brunnen, Marmorbänke,  mit roten Geranien bepflanzte steinerne Blumenkübel. Dazu eine freie, vielleicht sauerbiersche Auswahl an Gipsstatuen: David und Apoll, Neptun mit Harpune,  zwei geflügelte Pferde, Maria mit dem Kinde, nicht weit davon die Venus von Botticelli, der es nichts auszumachen schien, daß sie im Original doch ein Gemälde war.

Um das Anwesen herum erstreckte sich eine frisch angelegte Parklandschaft, junge Pinien, noch mit Drahtseilen gestützt, geschwungene Kieswege, Bananenstauden in Kübeln, Palmen aus Südamerika, rosa  blühender Oleander und ein kurzgeschnittener Rasen, auf dem kreuz und quer die Bewässerungsschläuche lagen. Mit deren Hilfe führte man hier den Kampf gegen die sengende Sonne, offenbar  nur mit halbem Erfolg:  an vielen Stellen war der Rasen zu Staub und Stroh verdorrt wie die dornige Buschlandschaft jenseits der Grenzen des Zauns, der das ganze Grundstück beschützte.

Frieder ging am Rand des Pools in die Hocke und schaute über die Wasseroberfläche, wo kleine Wassermücken auf noch kleinere lauerten. Wie eine blasse Erinnerung berührte ihn der Gedanke, hier schnell wieder zu verschwinden, die Bühne zu verlassen, auf der die Menschen ihre durchsichtigen Spiele spielten, in denen es immer darum ging, wer Gewinner und wer Verlierer war. Er sah sie, Gleichgültigkeit vortäuschend, ihren kunstvollen Tanz um ein paar Stühle herum aufführen, immer war ein Stuhl zu wenig, und irgendwann gab einer das Zeichen, sie stürzten auf die Stühle, wo ihre Raubtiergesichter in Erleichterung zerflossen, einen kurzen Moment schön wurden, bis sie suchend um sich schauten, um denjenigen zu sehen, der es nicht geschafft hatte, der ohne Stuhl vor aller Augen hilflos dastand, den sie brauchten, damit ihr Erfolg ein Erfolg war.

Frieder beobachtete die  Bilder und Gedanken, die sich kraftlos durch sein Bewußtsein schoben und wunderte sich, daß sie ihre übliche Tätigkeit, seine Gefühle zu erregen, nicht mehr ausführten.

"Frieder, Frieder! Wie gut, daß Sie gekommen sind!". Der Kies knirschte unter den schnellen Schritten der zierlichen Frauengestalt, deren Ruf Frieder wie aus weiter Ferne erreichte. Maria kam auf ihn zugestürzt, als werde sie von Ungeheuern verfolgt, doch hinter ihr war bloß eine schwarzweiße Katze, die langsam den Weg überquerte und im Gebüsch verschwand. Frieder federte abrupt aus seiner hockenden Stellung ins Stehen, wobei ihn Schwindel erfaßte. Die vom Sonnenlicht grell erleuchteten Dinge rings umher bekamen schwarze Konturen, die an den Rändern in regenbogenfarbenes Schillern übergingen. Auch die Frau im hellblauen Sommerkleid war nichts als ein Stück Himmel mit Trauerrand, als Mensch nur zu erkennen an den Bewegungen und Geräuschen, denen Frieder mit Mühe die gewöhnliche Wortbedeutung beilegte.

Er ergriff ihre ausgestreckten Hände, gewann dadurch sein Gleichgewicht zurück und hielt sie gleichzeitig auf Distanz. "Was haben Sie denn, Maria? Sie sind ja ganz aufgeregt, ist etwas mit Lutz?" Die senkrechte Falte auf ihrer Stirn grub sich tiefer und ihr Mund, der heute scharf konturiert war, verspannte sich ärgerlich. "Lutz, Lutz, immer geht es um Lutz! Nein, es ist nichts mit ihm, er mußte sich nach dem Mittagessen hinlegen. Wir können allein sprechen, kommen Sie!"

An der Hand zog sie ihn mit sich, eilig, hinüber zu einer der steinernen Bänke, wo sie sich setzten. Sie hielt weiter seine Hand, doch zu fest, als daß er es als Zärtlichkeit verstehen konnte. Einen Moment noch blieb sie still. Er fühlte ihren Blick nach etwas suchen, von dem er nicht hätte sagen können, was es war, nur war er fast sicher, daß sie es nicht finden würde.

Die Frau schaute jetzt an ihm vorbei, ihr Ärger schien vergessen, sie zog die Hand zurück, legte sie in den Schoß und begann, an der Nagelhaut des Daumens zu reißen. "Er ist nicht mein Mann," sagte sie. Ihre Stimme war ein trauriger Singsang. "Er liebt mich nicht, er hält mich, wie ein seltenes Tier. Wenn er nicht da ist, läßt er mich von seinen Angestellten überwachen. Er braucht mich nur als Schmuckstück, wenn er seine Geschäftspartner empfängt. Ja, ich lebe hier wie seine Leibeigene!"

Frieder hörte der Frau still zu, die da saß, den Rücken gebeugt, nach vorn zusammengekrampft, sich so selbst den Atem benehmend, wie sie ihr Elend vor ihm ausbreitete, als wären sie Freunde. 'Sie hat keinen Stuhl abbekommen', schoß es ihm durch den Kopf und er bemerkte, daß die Gewohnheit des Bedauerns von ihm abgefallen war. Auf irgendeine Weise war er aus dem Spiel ausgeschieden.

"Sie können ihn verlassen. Niemand hält Sie fest", sagte er höflich, als es an der Zeit schien, das Wort zu ergreifen. Ihre Stimme wurde lauter, klang verzweifelt. "Aber ich habe niemanden sonst! Alles, was Sie hier sehen, gehört ihm, wo sollte ich denn hingehen?", insistierte sie. Er sah, wie ihre Augen transparenter wurden. Gleich würde sie weinen.

 Frieder straffte sich in plötzlicher Bewegung, richtete sich auf und schaute aufmerksam in die Ferne, als hätte sich dort etwas ereignet. Er zeigte auf den Zaun und fragte: "Sagen Sie, wie kommen Sie zu diesem Zaun? Haben Sie das Gelände von einem Schweitzer übernommen? Ich kenne hier nur Schweitzer, die sich einzäunen."

Maria war wie mechanisch seiner Körperbewegung gefolgt, der leidende Ausdruck verlor sich aus ihrem Gesicht. "Nein, nein, den hat Lutz letzten Herbst aufstellen lassen," erklärte sie eifrig, "ich hatte ihn so darum gebeten. Sie wissen doch, hier geht jeder auf die Jagd und diese Leute machen vor nichts halt. Wir hatten Einschüsse von Querschlägern in der Fassade und zweimal wurde eingebrochen. Man ist sich seines Lebens nicht sicher und besonders schlimm ist es im Oktober!" Ihr Plaudern plätscherte jetzt leicht dahin und Frieder brauchte nur ab und zu ein paar Worte einzuwerfen, um das Fließen in Gang zu halten. Warum nur, fragte er sich, hatte er  immer stocksteif abgewartet, bis sich eine Möglichkeit zum Versagen bot?

Er spürte eine Welle aus Euphorie, die ihn emportrug und immer höher hob, so hoch, daß er auf die ganze Welt herabsehen konnte.  Es war ihm, als hätte er das Geheimnis der Freiheit entdeckt: Automaten waren sie alle, dumme Automaten, die ihr Programm herunterspielten, und er war einer von ihnen gewesen!

Genießerisch sog er die warme Luft ein, in der sich harziges Pinienaroma mit dem Duft der Frau mischte.  Während er noch dabei war, diese Anteile zu unterscheiden, spürte er  im Nacken  einen kaum merklichen  Druck, der ihn bewegte, sich umzudrehen.

Da drüben stand Lutz. Die Hände in den Hosentaschen lehnte er an der Hauswand. Vielleicht hatte er schon länger da gestanden und Maria und Frieder so interessiert beobachtet, wie damals unter dem Weidenbaum die sterbenden Schmetterlinge. Egal, dachte Frieder, soll er machen, was er muß. Er bemerkte, daß Lutz' Gesicht faltiger aussah als gestern

Lutz löste sich von der Wand und trat aus dem Schatten. "Na, hast' dich gut unterhalten?" Frieder tat, als überhöre er den herausfordernden Unterton. "Hallo Lutz", grüßte er, "Maria hat sich wunderbar um mich gekümmert. Wie geht's? Macht dir die Hitze zu schaffen?"

Wie der Schatten einer Wolke glitt Staunen über die Züge des Dicken. Er kniff die Augen zusammen, nahm die Hände aus den Hosentaschen, straffte sich, als könne er so größer werden und trat zu den noch immer Sitzenden, schaute auf Frieder herab. Dabei stellte er die rechte Fußspitze zwischen Frieder und Maria auf die Kante der niedrigen Bank. "Keine Rede, alter Freund!", er lehnte jetzt lässig nach vorn, stützte den Ellenbogen  auf  sein Knie, kam Frieder ganz nahe. "Bin voll auf dem Damm! Komm, laß uns gleich losfahren. Mich interessiert dieses Santa Maria, habe mich erkundigt, Wasser sei gar nicht so schwierig, sagt der Bürgermeister."

Frieder und Maria erhoben sich von der Bank, auch Lutz kam in die Aufrechte. Er strich Maria eine Haarsträhne aus der Stirn. "Du bleibst besser hier, meine Liebste, laß es mich erst ausforschen, soll fast ein Dschungel sein. Edith ist hier und wird sich um die kümmern". Maria antwortete nicht, ihr Blick - wieder ganz Resignation - streifte Frieder kurz, dann sah sie zu Boden. Wie einen großen Teddybären drückte Lutz sie kurz an sich, wandte sich ab und ergriff Frieders Arm. "Komm, wir nehmen meinen Wagen!", sagte er, als sie den Vorplatz erreicht hatten, und zog sich mit einem routinierten Ruck hoch in den überdimensionierten Geländewagen, wo er hinter das Steuer plumpste. Frieder glitt auf den Beifahrersitz, winkte Maria  zu, die neben der gipsernen Jungfrau mit Kind  reglos auf der Freitreppe stand und den Männern nachsah.

* * *

Drei Stunden nach Mittag hatte die Sonne den Zenit überschritten, doch heizte sie noch immer das Ziegeldach auf und hielt den baufälligen Kamin in fester Umarmung. Wo Himmel und Erde sich berührten, zitterte die Luft und ließ den Horizont in milchigem Weiß verschwimmen.

Eine Krähe landete auf dem Dach des Hauses, nahe der Öffnung des Kamins, der den Hornissen, dem Riesengeschlecht unter den Wespen, als Start- und Landeplatz diente. Das schnelle Auf und Nieder des Flügelschlags blieb nicht unbemerkt: eine Bewohnerin des Baus,  gerade zurück von erfolgreicher Heuschreckenjagd, registrierte im Landeanflug die schnelle Bewegung inmitten der Stille. Bewegung bedeutete Gefahr, Gefahr für alle, eine Bedrohung, der die Braungelben zu begegnen wußten. Nicht Angst noch Erfahrung bestimmte sie in ihrem Tun, es war ihnen eingeboren, seit Äonen festgelegt -  und also erschienen die Wächter aus dem Dunkel des Nests, die Gefahr zu sondieren.

Braungelb gestreifte Kampfmaschinen, schwer gepanzert in Chitin, postierten sich am Eingang, schwenkten die dreieckigen Köpfe und fühlerten in die gleißende Helle, tasteten den Raum ab. Doch nichts bewegte sich, nichts bestätigte den Alarm, alles blieb ruhig.-

Zweihundert Meter weiter unten, zu Füßen des Hügels, auf dessen halber Höhe das Haus Santa Maria stand, quälte sich ein Ungeheuer bergauf. Hin und her schwankend, rumpelnd, grollend, kreischend, brach sich der Geländewagen Bahn, brachte Steine ins Rollen, mähte Sträucher nieder, schnitt sich durch tiefhängendes Astwerk. Eine Staubwolke folgte dem Gefährt, hüllte es gänzlich ein, wenn selbst der Vierradantrieb ein Stocken der mühsamen Fortbewegung nicht verhindern konnte.

Frieder wurde durchgeschüttelt, vor- und zurückgeworfen; er stemmte sich mit den Händen gegen das Armaturenbrett, um nicht gegen die Windschutzscheibe zu knallen. Durch den ohrenbetäubenden Lärm schrie er zu Lutz hinüber, der sich schweißtriefend ans Lenkrad klammerte: "Anhalten! Stop jetzt!". Doch der hörte ihn nicht, hörte nur auf den heulenden Motor, rührte und hebelte wild mit Handbremse, Kupplung und Gas, triumphierende Urlaute ausstoßend, wenn eine gefährliche Steigung oder eine unverhoffte Engstelle überwunden war.

Gerade hatten sie eine scharfe Kurve genommen, da verengte sich der Weg noch einmal: links und rechts hinderten Mauern das Ausbrechen, die die Bauern aus Feldsteinen am Rande ihrer Weinberge und Olivenhaine aufgeschüttet hatten. Hier war Schluß. Lutz zog die Handbremse und schaltete den Motor ab.

Frieder ließ den Kopf auf die Stütze zurücksinken, atmete tief aus und ergab sich der plötzlichen Stille. Er spürte den Aufruhr in seinem Innern langsam verebben, fühlte den Herzschlag ruhiger werden, fühlte ein Schmelzen und rhythmisches Pulsieren, als werde sein Körper von innen gestreichelt, ein wohliges Vibrieren auf der Zellebene, das dem Atem folgte, wo immer er ihn hinlenkte.

"Also die Mauern hier müssen weg, das wär' das Erste!" Wie Schläge knallten die Worte  in Frieders pflanzenhafte Entspannung, rissen ihn gewaltsam zurück in die Welt der Zeit. Er drehte langsam den Kopf und beobachtete, wie Lutz mit einem Stoß die Tür aufdrückte, seinen Bauch hinter dem Lenkrad hervorzog und Anstalten machte, auszusteigen. Gab es eigentlich einen triftigen Grund für die Existenz dieses dicken Mannes, der seine und andrer Wesen Ruhe störte, der kein Ohr für die Stille hatte, die wehrlos seinen lauten maschinengestützten Angriffen ausgesetzt war? Frieder fand keine Antwort auf diese Frage. Mit Mühe entledigte er sich der angenehmen Gliederschwere, die ihn erfüllte, und stieg ebenfalls aus.

Zielstrebig stapfte Lutz den steilen Weg bergan, doch man sah, daß ihm das Laufen schwer wurde. Schnell kam er ins Keuchen, was ihn für kurze Momente daran hinderte, seine Umgestaltungsideen in Worte zu fassen. Frieder hatte schnell seinen Laufrhythmus gefunden, war immer ein wenig voraus.  Er führte Lutz weit in die Runde über holprige Wege und quer durchs Gebüsch. Willig beantwortete er dessen Fragen, hörte zu, wie der Andere die Baustelle plante, die Maschinen und das Material erwog, das nötig wäre, um diese Wildnis zu zähmen, in gefällige übersichtliche Formen zu bringen.

Ein Bauunternehmer muß bauen, dachte Frieder, Lutz war ein Bauautomat, der andere Automaten steuerte, so, wie jeder Mitspieler im großen Spiel tat, was er tun mußte. Die Gedanken folgten aufeinander wie Szenen in einem Schwarzweißfilm, doch ließen sie Frieders innere Ruhe unangetastet - eine Tatsache, die ihn nicht mehr wunderte, den er, er als Einziger, war ausgeschieden aus dem Spiel.

Unmerklich beschleunigte er seine Schritte. Lutz mühte sich keuchend, gleichauf zu bleiben, schaffte es immer weniger. Er sprach jetzt nicht mehr. Als sie das alte Gemäuer erreicht hatten, das einmal das Haupthaus gewesen war, gab er auf. Nach Luft schnappend, wie ein zuschanden gerittenes Pferd, stütze er sich gegen die Wand und stand still.

"Mir ist schlecht", brachte er heraus. Frieder stand neben ihm, ganz aufmerksames Interesse. Einen Moment hörte man nur den heftigen Atem, der aus Lutz fülligem Körper entwich.

"Komm mit, ich weiß, wo du dich ein bißchen ausruhen kannst!" Frieders Stimme war sanft wie die einer sorgenden Mutter. Er stütze den Anderen, daß er nicht vollends zusammensackte und führte ihn ins Haus, in die dunkle Kühle des einzig intakten Raums, in dessen Ecke der Kamin war. Lutz sank auf den Campingstuhl, alle Kraft war aus ihm gewichen, die Augen hielt er geschlossen.

"Bleib ruhig sitzen, ich komme gleich wieder", sagte Frieder und entfernte sich leise. Er zog die Tür hinter sich zu, schob lautlos den eisernen Riegel vor und trat ins Freie. Sein Blick schweifte über den Boden,  fiel auf einen Haufen großer Steine, bunte Steine aus dem Fluß, die Jahrhunderte als Baumaterial gedient hatten. Ohne Zögern griff er einen rundgeschliffenen Granitblock, wog ihn in der Hand, drehte sich um und erkletterte ein Mäuerchen, das einmal ein Gartenbeet eingefaßt hatte und fast bis ans Haus heranreichte. Von hier konnte er das Dach gut überblicken. Er konzentrierte sich, holte aus und warf den Stein mit voller Wucht gegen die Spitze des Kamins.

Es polterte, als das obere Drittel nach innen zusammenbrach. Eine Sekunde war Ruhe, dann schossen die ersten Hornissen mit wütendem Brummen aus der Staubwolke, die über der Bruchstelle hing.

Frieder setzte sich auf die Mauerreste in den Schatten. Keine Minute war vergangen, seitdem er das Haus verlassen hatte. Er erwartete nicht, durch die dicken Wände die Hornissen zu hören, aber bald, ja - jeden Moment - würde der dicke Körper da drinnen zu schreien anfangen, an die Tür trommeln, alles aufbieten, um noch einmal die Ruhe zu stören, die wunderbare Ruhe von Santa Maria.

Leichter Wind kam auf, die Äste der Bäume regten sich als wollten sie ein wenig Anteilnahme zeigen, ihren Beifall kundtun. Frieder war ganz zum Hören geworden, hörte eine frisch geschlüpfte Eidechse über Steine huschen, hörte den weit entfernten Eichelhäher warnen, hörte das gleichmäßige Rauschen des Bluts in seinen Adern. Dort aber, wo er vor allem hinhörte, da war kein Laut, war nichts, nur Stille.

Kleine Risse fraßen sich in Frieders Gleichgültigkeit, verbreiterten sich schnell, gruben sich tiefer - es gab nichts, was sie hätte aufhalten können. Er stand auf, eilte, so schnell er konnte ohne Lärm zu machen ins Haus, verharrte kurz vor der verschlossenen Tür - noch immer kein Laut - öffnete den Riegel so unmerklich, wie er ihn zugeschoben hatte, öffnete die Tür einen Spalt, gerade genug, um sich seitlich ins Dunkle zu schieben.

Auf einen Schlag drang das laute, chaotische Summen an sein Ohr, noch bevor sich seine Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten, das sich vom sonnenbeschienenen Fensterspalt her über den kahlen Raum ausbreitete.

"Still, still!". Die Worte drangen seltsam verdrückt herüber, als wolle jemand rufen, dem der Mund zugehalten wurde. Jetzt sah Frieder und was er erblickte, verschlug ihm den Atem: Lutz saß aufrecht auf dem Campingstuhl, die Füße fest auf den Boden gestellt. Die Hände hielt er vor dem Bauch ineinander verschlungen, an den Muskeln der Arme konnte man sehen, daß er sie fest gegeneinander preßte. Er saß, reglos, aufrecht und gespannt wie eine Feder, und um ihn herum und über seinem Kopf wogte eine hektisch bewegte Wolke aus Hornissen, jede doppelt so groß wie eine Wespenkönigin. Ein paar hatten sich auf seinem Schädel, einige auf seinem Gesicht niedergelassen, wo sie ziellos herumkletterten um bald wieder abzuheben. Unterhalb der Kaminröhre lagen Steine und ein  großes Bruchstück des Hornissennests, eine löchrige lehmfarbige Skulptur, auf der ebenfalls noch einige der Gestreiften herumkrochen.

Frieder war zum Standbild erstarrt, konnte die Augen nicht von dem Mann wenden, der dort auf dem Stuhl saß, unbeweglich, das Gesicht grau und ausdruckslos. Die Risse, die zu großen Gräben geworden waren, ließen die Wände zusammenbrechen, die Frieders Innerstes eingemauert hatten. Das war kein Automat! Ein solcher hätte um sich geschlagen und wäre längst zum Opfer der Braungelben geworden. Und Lutz saß und regte sich nicht, während die Hornissen ihn umtanzten als wäre er ihr steingewordener Gott.

Wie lange es dauerte hätte Frieder nicht sagen können, Zeit war ausgeschaltet. Still stand er im sicheren Schatten, bemerkte spät, daß ihm Tränen übers Gesicht liefen.

Nach und nach, erst einige wenige, dann immer mehr, strebten die riesigen Brummer zum hellen Fensterspalt, verschwanden in die Sonne. Das majestätische Summen wurde dünner, auch die, die noch auf dem Nest saßen, starteten ins Licht. Sie waren weg.

Frieder stürzte auf Lutz zu, fiel vor dem Stuhl auf die Knie und umfaßte den Sitzenden, voller Angst, da der sich noch immer nicht regte. Langsam kam wieder Leben in die Gestalt, Lutz öffnete die Augen und sah Frieder an, als käme er von sehr weit her. "Frieder! Frieder, alter Junge..", die Stimme war fast ein Flüstern, "Kamin ist plötzlich eingestürzt, aber weißt du was? Es sind bloß Automaten, diese Biester, blöde Automaten!". Er ließ die Arme sinken, atmete aus, als werfe er eine große Last ab. "Ich hab's immer gewußt, hab' sie studiert, damals, wegen der Wespen in deiner Schachtel, weißt du noch?".

"War nur eine", sagte Frieder leise. Vorsichtig half er dem Anderen auf, strich ihm über Schultern und Arme als wolle er Staub entfernen. Sie traten ins Freie und blinzelten geblendet in den Nachmittag. Der Duft von Salbei und Wacholder umhüllte sie, der Horizont war milchigweiß und nur das Summen der Fliegen begleitete die wundersame Stille von Santa Maria.

Claudia Klinger, 1994 -  www.claudia-klinger.de - info@claudia-klinger.de