Thema: Alltag

Claudia am 05. Januar 2003 — 1 Kommentar

Beobachtung: der hundertprozentige Flop

Gestern war ich auf der Post, ein Paket aufgeben. Die Filiale ist in einer überdachten Passage, Läden, Restaurants und ein Hotel bilden eines dieser recht auswechselbaren „Essembles“, in denen man heute Stadt erleben soll. In der Mitte des Platzes, um den sich alles ordnet, führt eine Treppe ins Untergeschoß, vermutlich zu den Tiefgaragen. Mensche liefen eilig hin und her – und auf einmal sah ich mehrere große Kuverts auf den Boden fallen. Die Passanten gingen einfach weiter, niemand schien es zu bemerken. „Hallo“, rief ich laut einer Frau hinterher, die gerade auf die Treppe zusteuerte, „haben Sie diese Umschläge verloren?“ Mir schien, sie war die nächste, die dafür in Frage kam. Die Frau schaute mich ganz kurz an, dann guckte sie auf den Boden und ging weiter – wie ein Roboter! Ich dachte mir noch nichts weiter, sondern rief noch einmal lauter und bestimmter, denn offensichtlich hatte sie nicht gemerkt, dass sie GEMEINT war. Noch einmal ein irritierter Blick, ganz so, als hätte sie etwas Schlimmes verbrochen, sie errötete heftig, senkte wieder den Kopf, beschleunigte die Schritte und verschwand im Untergeschoß.

Ich war perplex! Wieder einmal hatte ich erlebt, was mich jedes Mal ein bißchen verstört: Jemanden spontan ANGESPROCHEN, und derjenige schafft es nicht, darauf in einer „normalen“ Art und Weise zu reagieren. Sie hätte doch bloß den Kopf schütteln brauchen! Vielleicht mit einem Anflug von Lächeln, aber darauf will ich ja gar nicht bestehen. Dass die Menschen notorisch schlecht gelaunt mit Leidensmienen durchs Leben gehen, wundert mich nicht mehr, es gehört hierzulande einfach zum guten bzw. schlechten Ton. (=Alles Leben ist Leiden, und wer lächelt und zum Anderen freundlich ist, ist gewiss ein Heuchler oder nicht ausreichend informiert.) Nein, das meine ich jetzt nicht, sondern diese echten Ausraster, die mir das Gefühl geben, da drüben sei eigentlich gar kein Mensch, sondern etwas irgendwie Grusliges.

Schwitzen, aber schweigen

Ich erinnere mich mit Schrecken an den Wintertag, an dem ich in einen U-Bahn-Wagen einstieg, aus dem mir so extreme Hitze entgegen schlug, dass ich fast rückwärts wieder rausgesprungen wäre. Statt dessen sagte ich laut zu den vielen Menschen, die vor mir dicht an dicht in den Gängen standen, der nächste nur eine halbe Armlänge von mir weg: „Himmel, ist das heiß hier! Ist die Heizung kaputt?“. Einige schauten kurz in meine Richtung und dann zu Boden, es blieb still. Noch einmal legte ich nach, fragte: „Was ist los, merkt Ihr denn nichts ??“ – ein bißchen lauter und erstaunter jetzt, schließlich war ich von den vielleicht 40 Grad Raumtemperatur einigermaßen irritiert. Aber wieder keine Reaktion, sie standen wie eine Wand aus Schweigen und einigen war für Augenblicke anzusehen, dass es sie verstörte, sie irgendwie „betreten“ machte, als hätten sie Grund zur Angst oder würden sich schämen. Dann erstarrten die Gesichter wieder, jeder schaute am anderen vorbei, irgendwo in die Ferne oder an eine Wand.

Ja, was haben die denn alle, um Himmels willen??? Sie reagieren wie das Publikum im Theater, wenn die Schauspieler versuchen, ohne Vorwarnung jemanden in die Handlung einzubeziehen. Oder wie Gäste auf einer Party, wenn ein Spiel beginnt, zu dem JEDER etwas beitragen muss. Manche wirken so verstört, als wären sie eben noch gemütlich im Kino gesessen und hätten erst beim Blick in die Mündung einer Pistole plötzlich begriffen: DIES IST WIRKLICHKEIT!

Eine Art Stupor ist das. Kein irgendwie geartetes Fehlverhalten, sondern der AUSFALL von Verhalten überhaupt – und dann die Gefühle, die dem folgen: Scham, Angst, peinlich-berührt-sein, und schließlich das „militante“ Wegsehen. Man möchte vergessen, dass „so etwas“ jemals passiert ist, wünscht sich weit weg, an einen neuen Anfang, mindestens.

Und selbst genauso…

Oh ja, ich hab es auch an mir selber schon erlebt, zumindest ganz ähnlich: spät Abends am Boxhagener Platz, ich laufe den breiten Gehweg entlang zwischen dem Gebüsch, das den Innenraum des Platzes begrenzt und der Baumreihe zur Straße hin. Es ist menschenleer, mir entgegen kommt ein Mann mit einer Bierflasche in der Hand. Wird er mich anpöbeln? Mir die Handtasche abnehmen? Mich anbetteln und vollabern? Es ist so düster, ich gehe schnellen Schrittes auf ihn zu – und als er dann vor mir stehen bleibt und den Mund aufmacht, hebe ich schon die Hand zu einer abwehrenden Bewegung, schüttle den Kopf, will ihn einfach nur aus der Welt haben, ganz egal, wer er ist und was er will. Er sagt seinen Spruch auf, eher schüchtern, will mich um einen Euro anschnorren mit einer wenig originellen Geschichte – doch ich sage nichts, reagiere nicht, gehe einfach weiter, bin irgendwie peinlich berührt, weil ich spüre, dass mein Verhalten verrückter ist als seines. Ein sozialer Flop, aber volle Kanne!

Programm „Sozialverhalten“ abgestürzt

Gemeinsam ist diesen Erlebnissen neben dem menschlichen Versagen in einer konkreten Situation das Unvermögen, bzw. der Unwille, daran noch irgend etwas zu ändern, es sozusagen zu „heilen“. Man könnte sich ja entspannen und – aus dem Stupor bzw. der Verweigerung erwachend – ein normaleres Verhalten anknüpfen, etwas Verbindliches sagen, lächeln, einen Witz machen, winken – was auch immer. Aber genau DAS geschieht nicht, und das ist das eigentlich gruslige: Wir gehen hier nicht menschlich mit anderen Menschen um, indem wir ihnen als Person begegnen und die Folgen unserer Handlungen oder Nichthandlungen verantwortlich auf uns nehmen – sondern wir handeln, als wären wir Teil eines Programms: einmal „abgestürzt“, gibt es kein Weiterkommen mehr, allein ein Neustart hilft. Wenn die Gesichter in Ignoranz erstarren, ist das die innere „Cancel-Taste“ bzw. der Blue Screen: Mit DEM bzw. in DIESER Situation hab ich’s verpatzt, Mist – die nächste bitte!

Sich wegzappen aus einer Situation – das ist es, was hier versucht wird. Der Andere, an den man aneckt, bzw. der einem auf irgend eine unberechenbare Weise plötzlich nahe tritt, wird als Gegenüber negiert. Warum?

Nicht aus Feindseligkeit, vermute ich, sondern aus Erschrecken darüber, dass im jeweiligen Augenblick der innere Film ganz plötzlich unterbrochen wird, das übliche Vor-sich-hingrübeln, wünschen, lästern, planen, urteilen, interpretieren, fürchten und begehren. Ihhhh, da ist ja noch eine Welt „da draußen“, oh Gott, die will ja was von mir – nix wie weg hier!

Es geschieht einfach so, ist nicht etwa böse Absicht. Und deshalb auch nicht durch gute Vorsätze zu ändern. (Wie übrigens das meiste Versagen und sogar die meisten übergriffe auf andere Personen!) Ich beschreibe diese verstörenden Verhaltensausfälle denn auch nicht in der Hoffnung, die eigene Moral zu bessern oder bei anderen ein schlechtes Gewissen zu erzeugen – sondern einfach, weil ich diese Erlebnisse bemerkenswert finde. Interessanter jedenfalls als Geschichten von Außerirdischen, die jemanden entführt und untersucht haben sollen – das wär nämlich vergleichsweise menschlich!

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Claudia am 03. Januar 2003 — Kommentare deaktiviert für Gutes Neues!

Gutes Neues!

Ein bißchen spät, der Neujahrseintrag, aber mir war einfach nicht nach Diary in diesen stillen Tagen und Nächten, die so sehr zum nachdenklichen Nichts-Tun einladen. Und Nachdenken ist eigentlich auch schon zu viel gesagt, ich meine so ein inneres Verharren, schlichtes Aussetzen, das bloße Dasein genießen – es war jedenfalls schön!

Anders als in den letzten Jahren kommt jetzt allerdings kein Alltag zurück: mein liebster Freund ist dabei, auszuziehen und ich hole gerade Kostenvoranschläge für meinen Umzug in der letzten Januarwoche ein. (Braucht jemand zwei Bäderliegen? Ein fast unbenutztes Keyboard? Einen Jahrgang Internet World?) Am 15. gibt’s den Mietvertrag und Ende Januar werde ich umgezogen sein. Himmel, was für eine Veränderung! Zwar geht’s nur einen halben Kilometer weiter, über meine geliebte Modersohnbrücke mit dem tollen Weitblick auf die Skyline Berlins hinüber ins Rudolfkiez unterhalb der Oberbaum-City. Da es jedoch meine erste „Single-Wohnung“ seit zwölf Jahren sein wird, ist es doch eine große Umstellung – nicht mal einen Fernseher werde ich zu Anfang haben, mal gucken, vielleicht schaff‘ ich ja gar nicht erst einen an.

Hab ich Vorsätze? Fürs neue Jahr oder überhaupt? Ich wünsche mir, nicht so schnell von neuen Routinen verschluckt zu werden, das ist das einzige. Indem alles Gewohnte und lang Bekannte sich in letzter Zeit von mir verabschiedete, kommt ein anderes Lebensgefühl auf, das – wenn ich mich ihm zuwende – weit wunderbarer ist als alles, was mich „üblicherweise“ durch den Alltag begleitet. Der nächste Tag, die nächste Stunde, der nächste Augenblick kann das „ganz Andere“ bringen – es ist nichts Konkretes, einfach ein Gefühl, das mir sehr gut gefällt – es IST schon das Ganz Andere! Und doch werde ich vermutlich bald bemerken, dass ich wieder eine Reihe „verläßlicher Routinen“ einübe, die mich durch die Tage tragen, weil es einfach bequemer ist, sich nicht ständig mit dem „alles-ist-möglich“ zu konfrontieren. Mal sehen, vielleicht gelingt es ja, den Freiraum der „gefühlten Unsicherheit“ zumindest zu erweitern.

Und die Krise? Das soziale Netz? Der Standort? Ich kann alles in allem einfach nicht begreifen, dass hierzulande bei einem – verglichen mit vielen anderen Weltgegenden – geradezu obszönen Reichtum die Laune derart im Keller ist, und zwar nicht erst seit der „Krise“. Die Weinerlichkeit, das Selbstmitleid, das Gejammere, die ständigen Schuldzuweisungen an Andere, diese Mut- und Ideenlosigkeit – man hat allen Grund, ein Misantrop zu sein! Allerdings: seit kurzem macht es mir keinen Spaß mehr, und da ich bei meinem „Blick auf die Welt“ immer von mir ausgehe, hoffe ich, dass es nicht nur mir so geht. Zeiten der Veränderung sind doch auch sehr spannende Zeiten – und vielleicht ist der Konsumismus ja doch nicht das letzte Wort zur Frage nach dem richtigen Leben gewesen?

Mir scheint, heut‘ will mich die Muse nicht richtig liebevoll küssen, ich wende mich also besser dem zu, was anliegt: Steuer 2001, oh je! Knietief steh ich im Papierkram, noch zwei, drei Stunden vielleicht. Wie ich das hasse und deshalb immer wieder vor mir her schiebe, schrecklich!!!

Ich wünsch Euch ein wunderbares 2003 und freu‘ mich über gelegentliche „Besuche“ an dieser Stelle. Ach ja, ein interessanter Spruch ist mir in einem Mail-Footer begegnet: „flexible Weisheit wird genutzt, unflexible zur Schau gestellt…“ – es lohnt, darüber ein wenig zu meditieren.

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Claudia am 20. Dezember 2002 — Kommentare deaktiviert für Weihnachten IV: Durch die Wüste zu den Sternen

Weihnachten IV: Durch die Wüste zu den Sternen

Draußen dröhnt ein Preßlufthammer. Wieder reissen Arbeiter das Pflaster auf, das gerade mal ein paar Wochen seit der letzten Baustelle hinter sich gebracht hat. Zwar nehme ich den Lärm wahr, wenn ich einen Eindruck meiner Umwelt aufschreiben will, doch im Grunde berührt er mich nicht. Seit der Rückkehr aus Mecklenburg im Mai 2001, dem Land der großen Stille und Weite, ist diese Veränderung erstaunlich stabil: Lärm geht einfach durch mich hindurch, da ist nichts mehr, dass sich dagegen sträubt und sagt: Was für eine rücksichtlose Schweinerei! Wie soll ich da bloß arbeiten?

Die eingetretene Veränderung hab‘ ich nicht „gemacht“, beabsichtigt, gewünscht oder gar herbei geübt. Es war auf einmal so, ohne dass ich es auch nur bemerkte. üblicherweise nimmt das Bewußtsein die Abwesenheit eines Ärgers ja gerade NICHT wahr. Erst duch die Beschwerden meines Lebensgefährten ist mir dann aufgefallen: wo ist eigentlich MEIN „Leiden am Lärm“ hin gekommen?

Und hier ist sie nun, die Wegscheide: Soll ich jetzt etwa danach SUCHEN? Soll ich „in mich gehen“ bis ich das verlorene Leiden wieder finde? Soll ich in die hinterletzten Winkel meiner Psyche schauen, ob nicht vielleicht eine bloße VERDRÄNGUNG vorliegt oder ob ich mir das nur EINBILDE? Ob also mein Eindruck des Nicht-vom-Lärm-Betroffen-Seins vielleicht nur Illusion, Selbstbetrug und Heuchelei ist???

Habe ich nicht die Pflicht zu solcher Suche, wenn mir Wahrheit etwas bedeutet? Jahrzehntelang dachte ich so, suchte also ständig nach Unter- und Hintergründen und fand auch immer genug: unter der Oberfläche des alltäglichen So-Seins (meines, deines, unser aller…) liegt eine unerschöpfliche Mine, man kann bis in alle Ewigkeit Gold und Scheiße finden, alles Gefundene mit Staunen betrachten, es gar ausstellen – und dann?

Wer solche Erkundungen niemals angestellt hat, ist gut beraten, bei der näheren Untersuchung eines Leids nicht nur im Äußeren nach den Ursachen zu forschen, keine Frage! Diese Denkweise kann sich allerdings – auf Dauer gestellt – verselbständigen: das beobachtenden Hinterfragen wird zum Selbstzweck und raubt die Kraft und den Willen zum Handeln in der Welt. Sie wird grau und wüstenhaft, ihre Blumen verdorren, ihre Düfte verschwinden und verlieren alle Lockungen, ihre ureigenen Schönheiten verkommen zu weniger als Nichts, zur bloßen Spiegelung eines Ich, das nichts mehr außer sich selbst für wahr und betrachtenswert hält: verliebt in sein Elend weint Narziss seine Tränen am Rand des Brunnens der Wirklichkeit, spiegelt sich darin und seufzt: All das bin ICH!

Wer zur Welt und zu sich selbst immer schon eine negative Einstellung pflegt, wird kein Problem damit haben, in dieser Lebenshaltung bis zum Ende aller Tage zu verharren. Schließlich ist die Welt voller Schrecken und Ungerechtigkeit, ist Fressen und Gefressen werden, ist Kampfzone, vor der uns auch der Sozialstaat nicht mehr wirklich retten kann, wie wir derzeit zur Kenntnis nehmen müssen. Was stünde dem Geistesmenschen besser an als ein Leben im Modus der Klage und Anklage?

Hier müssen wir jeder für sich die je eigene Antwort finden und entscheiden, ob wir unser Glück oder unser Elend schmieden wollen – und damit letztlich auch das „der Welt“. Persönlich ziehe ich das Erstere vor, denn ich habe etwas bemerkt, das ich nicht mehr ignorieren kann: Ich FINDE de Wahrheit nicht nur vor, ich SCHAFFE sie auch! Je leerer ich bin, desto besser sehe ich: schon die geringste Erwartung eines bestimmten innerpsychischen Fakts kann diesen Fakt von der bisher nur gedachten Möglichkeit in die folgenreiche Wirklichkeit katapultieren. (Ein Phänomen, das nicht nur erkannt werden, sondern – es liegt auf der Hand! – auch ANGEWENDET werden kann.)

Wohlgemerkt, ich sage nicht, dass ich die Wirklichkeit NUR schaffe und dass es gar nichts zu finden gäbe! Nach meiner Erfahrung gibt es beides, aber in einem von mir letztlich nicht vollständig analysierbaren Geflecht – wer kann schon sagen, wo „ich“ endet und „Welt“ anfängt??? Im Grunde ist alles Teil der Oberfläche des einen Seins – um es mal ein bißchen mystisch auszuzdrücken. Wie weit „meine“ Wirkungen reichen, kann ich nur von Fall zu Fall ausprobieren – nicht ein für alle Mal erforschen, in Gesetze fassen und mich dann darauf verlassen.

Genau das werde ich jetzt bewußter tun! Nichts macht tatsächlich mehr Freude, als sich ganz in etwas hinein zu geben, von Augenblick zu Augenblick den Impulsen zu folgen und dann zu sehen, was kommt, was ES GIBT. Lass die Füße entscheiden, wohin du gehst, sagt ein alter Weisheitsspruch – in diesem Sinne ist auch der Geist nichts anderes als Fuß: ist er in Erwartung einer Katastrophe, wird sich alles zur Ver-wirklichung der Katastrophe verdichten, ist er in Angst, werden immer neue Monster sich zeigen. Gibt er sich dem Haß und dem Ressentiment hin, werden „die Anderen“ immer feindlich wirken und niemals Freunde sein. Erwartet er jedoch das Glück, das Wunderbare, das Abenteuerliche, und ist voller Freude und Zuversicht, dann können auch die hellen Seiten zur Wirkung kommen, indem sie von der Möglichkeit in die Wirklichkeit umschlagen.

Grübeln und Herumrechten, Bedenken tragen und ohne Ende Motive hinterfragen, mit vorgestanzten Wirkungen rechnen und Absicherungen gegen alle denkbaren Unwägbarkeiten anstreben – all das ist der Grauschleier über dem Leben, ist die selbst gebaute Käfiglandschaft, in der wir (ich, du und alle, die das allzu gern so machen!) dann jammernd auf nicht allzu hohen Stangen sitzen und die Krätze kriegen.

Anstatt zu sehen, dass die Tore immer offen stehen und zu fliegen.

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Claudia am 14. Dezember 2002 — Kommentare deaktiviert für Weihnachtsstimmung ?

Weihnachtsstimmung ?

Ein paar Tage ohne Diary verbracht, dafür umso aktiver das Webwriting-Magazin angeschoben. In den nächsten Tagen wird sich da einiges tun. Das Log auf Seite 1 scheint zu gefallen und ich bekomme viele positive Mails. Dass ein Leser auf den Nielsen-Artikel auch gleich mit einer Virus-Attacke reagiert hat, gehört wohl dazu: Manchen fehlen eben die Worte, ihre andere Meinung anders auszudrücken.

Aber genug davon. Es ist Mitte Dezember, noch zwei Wochen bis zum dunkelsten Tag des Jahres. Trotz Weihnachtsbeleuchtung, die auch hier im Dorf Gottesgabe Volkssport ist, will eine weihnachtliche Atmosphäre nicht aufkommen. Die warmen Stürme, der Matsch, der alle unversiegelten Oberflächen zu Gummistiefelfallen macht, die orkanartigen Böen, die hier im Schloßwald ein beeindruckendes Dröhnen hören lassen: Weihnachtsstimmung ist das nicht gerade.

Was aber wäre denn Weihnachtsstimmung? Ich erinnere mich daran, wie es mir als Kind schon ab zehn zunehmend PEINLICH wurde, wenn der Event namens „Bescherung“ auf die Jahr für Jahr gleiche Weise zelebriert wurde. Fast bin ich vor Scham in den Boden versunken, wenn wir drei Kinder am sogenannt heiligen Abend mit einem Glöckchen zu Konservenklängen von „Ihr Kinderlein kommet“ ins geschmückte Weihnachtszimmer mit brennendem Lichterbaum geklingelt wurden. Wie in der Auslage eines Warenhauses hatten meine Eltern die Geschenke arrangiert:

Bescherung, altes Foto

Alles war natürlich schon ausgepackt, denn allzu viel Verpackungsmüll verträgt sich nicht mit echten Wachskerzen am Baum. Trotzdem standen hinter dem Baum noch zwei Eimer mit Wasser, man weiss ja nie!

Auch wir Kinder hatten erstmal „staunend davor“ zu stehen. Denn erst mußte das Lied zu Ende gesungen sein, bevor es uns erlaubt war, „jubelnd“ auf die Geschenke zu stürzen. Erlaubt? Ich jubelte schon, ehe ich überhaupt alles gesehen hatte, denn ich wollte dieses „Kinderjubeln“ schleunigst hinter mich bringen, das meine Eltern offenbar so sehnlichst erwarteten. Was mir an der ganzen Sache so peinlich war und von Jahr zu Jahr immer peinlicher wurde, konnte ich gar nicht sagen. Man hätte Weihnachten jedenfalls ersatzlos streichen können, ich wäre erleichtert gewesen. Doch so gab ich zur Zufriedenheit meiner ahnungslosen Eltern das „jubelnde Kind“, Jahr für Jahr wieder, bis mir der Geist des Protestes von 1968 endlich eine Sprache gab, um meinem Unmut Ausdruck zu verleihen: konsumorientierter stockspießiger Scheiß! Alles Lüge!

Damit war erstmal Schluß mit Weihnachten und ähnlichen „hohlen“ Ereignissen, denen ich mich fortan zu verweigern suchte. Wenn das absolut nicht ging (jetzt zeigte sich der Zwangscharakter der Sache: ich MUSSTE mitmachen!), dann stand ich allenfalls mäkelnd dabei und verdarb den anderen wenigstens erfolgreich die Stimmung. Mit jeder Geste schwitzte ich meine Kritik aus, dass nämlich weder Kerzenduft noch Lichterglanz, weder die gefüllte Riesenpute noch die Zwangsbeschallung mit Weihnachtsliedern darüber wegtäuschen könne, was in unserer Familie IN WAHRHEIT Sache war: blanker Hass und Machtkämpfe Tag für Tag, halt so ein ganz normales Familienleben.

Seither ist viel Zeit vergangen, so richtig warm bin ich mit Weihnachten nie geworden, zumindest nicht in seinem mehr denn je dominanten Shopping-Event-Charakter. Das eigentliche Anliegen solcher Feste kann ich heute verstehen und gutheißen. Sie sollen nicht etwa eine üblicherweise schlimme zwischenmenschliche Realität für einen Tag oder für Stunden einfach nur verbergen, mit Glitzerkram und Hulligully zuschütten. Sondern sie sind als Ausdruck eines Konsenses gemeint, der in Worten lauten könnte: Ja, wir wissen, dass wir alle Egoisten sind und DER ANDERE uns normalerweise nicht viel bedeutet. Dieses Fest ist Ausdruck unserer Unzufriedenheit mit diesem Zustand: Wir leben mal für ein paar Stunden, wie wir es „eigentlich“ gerne hätten, wenn…. tja, wenn wir nicht solche Bestien wären, wie wir es nun mal sind.

Gerade von dieser weihnachtlichen Wahrheit spüre ich allerdings wenig im Bewußtsein meiner Mitmenschen. Die meisten glauben von sich, sie seien ganz wunderbare Typen, stets bereit zu helfen und über alles zu reden, immer auf der Seite des GUTEN, Wahren und Schönen. Und wenn ausnahmsweise mal nicht, dann sind Andere oder „die Umstände“ schuld. Diesen Glauben möchte kaum jemand erschüttert sehen und ein erfolgreich inszeniertes Weihnachten mit maximalem Warenumschlag gehört eben einfach zum Leistungsspektrum erfolgreicher Individuen.

Der Bericht hier wäre unvollständig, ohne anzufügen, dass ich „trotz alledem“ auf Weihnachten konditioniert bin. Ich mußte feststellen, dass ich glitzernden Baumschmuck, den Duft angesengter Tannennadeln, jubelnde Familien und die großen Fressen zu Weihnachten irgendwie mag. Die sinnlichen Einzelheiten des Weihnachtsszirkus‘ sind tief in mich eingeschrieben, in die Schicht, die nicht diskutiert, sondern nur fühlt und reagiert. Und DARÜBER reg‘ ich mich heute nicht mehr auf, sondern genieße es, soweit das im Überangebot der dreimonatigen Kommerzweihnachten überhaupt noch möglich ist.

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Claudia am 16. August 2002 — Kommentare deaktiviert für Kleine Neigung in Richtung Sterben

Kleine Neigung in Richtung Sterben

Ein Gefühl der Schwäche um den Solar Plexus, so etwa, wie nach drei Wochen Grippe – oder bilde ich es mir nur ein? Es ist mitten in der Nacht, ich bin nochmal aufgewacht und die Realität hat nicht so ganz dieselbe dichte und schwere Qualität wie am Tag. Sie ist weicher, flexibler, mehr von meinen Vorstellungen, Gedanken, Wünschen und Träumen abhängig – muss ich jetzt aufpassen, was ich für Vorstellungen entwickle? Die Imagination des Siechtums ist erstaunlich, hat aber im Moment nichts Erschreckendes. Im Gegenteil. auf einer subtilen Ebene ist es abwechslung, neue Empfindungen wecken den Geist aus dem Schlaf des allzu Bekannten und ich wundere mich, warum rund um Krankheit, Sterben und Tod soviel gejammert wird.
Manche Gedanken sind verboten. Das kommt mir gleich in den Sinn, wenn ich sowas hinschreibe. „Bekomm du erstmal selber deinen Krebs!“, denkt man sich, wenn man sowas liest – jedenfalls würde ich so denken, da bin ich mir sicher.

Noch immer fühl‘ ich mich schwach, fiebrig, ich will einen Kräutertee mit Zitrone und Honig, will ein bißchen bedauert und gepflegt werden, aber weit nach Mitternacht paßt das nicht so recht. Eigentlich paßt es nie, wenn ich ehrlich bin, deshalb will ich ja auch einen Krankenbesuchsverein gründen. Jedes Mitglied hätte das Recht auf einen Krankenbesuch pro Tag und ist im Gegenzug selber bereit, andere zu besuchen. Bei den vielen alleine Lebenden in Berlin, so denk ich mir, wär das gar nicht so falsch. Vor hundert Jahren hat es sowas schonmal gegeben, hab‘ ich mal gehört.

Bis jetzt bin ich zu gesund, um das wirklich anzugehen. Wo es keinen „versteckten Gewinn“ des Krank-Seins gibt, ist das auch kein Wunder. Dass ich mich schwach fühle, ist eine Folge der Zelt-Übernachtungen am letzten Wochenende in Mecklenburg. Es war kalt, es war feucht, ich fror in der ersten Nacht und wie immer hab‘ ich nicht wirklich auf so etwas geachtet. Na, mitten in der Nacht war es auch nicht mehr zu ändern und immer noch besser, als mit anderen im selben Zimmer zu schlafen. Dieses Jugendherbergsgefühl gefällt mir lange schon nicht mehr und das Schnarchen des Mitmenschen raubt mir den letzten Nerv, nein danke!
Jetzt also schon eine Woche „grippaler Infekt“: Schwitzen, Schwachheitsgefühle, Trägheit, gelegentlich Aspirin, mit schlechtem Gewissen, versteht sich. Und Träume von der Hinfälligkeit, wie jetzt.

Makabre Gedanken, Erinnerungen an das Schreibwochenende, wo mir Krankheit und Tod unübersehbar begegneten. Die Schwester einer Teilnehmerin hatte gerade ihre Diagnose bekommen: Lungenkrebs. Mit dem Rauchen hat sie daraufhin aufgehört – während der anstehenden Operation wird erst klar werden, wieviel von der Lunge entfernt werden muß. Zwanzig Prozent, sagen die arzte, könne sie ja locker durch das Nicht-Mehr-Rauchen ausgleichen. (Immerhin, plappert mein altes Raucherinnenbewußtsein, Nichtraucher können das nicht!) Ihre Schwester ist erschüttert, aLLE sind betroffen, man senkt die Stimmen und fühlt sich sehr sensibel. Man hätte gerne Tränen in den augenwinkeln.
Zum Ende fahre ich nicht gleich nach Hause, sondern erst noch mit unserem Gastgeber an die Ostsee, M. besuchen, eine andere Teilnehmerin dieser Jahrzehnte alten Schreibgruppe. auch sie konnte nicht kommen, hatte gerade ihre OP: Eierstockkrebs, in die Bauchhöhle gewachsen, drittes Stadium. Die erste Chemo hat sie hinter sich. Ihr halb fertig ausgebautes Haus in einem kleinen Dorf nahe der Ostsee ist wunderschön – genau die Idylle, von der der Städter träumt. Unverbaubarer ausblick in die offene Weite, Felder, am fernen Horizont der Wald, ein großer Garten, Obstbäume, Wiese – und noch kein richtiger arger mit den Nachbarn.

Das Haus ist die ehemalige Dorfschule. Genug Platz also für M., die sich das Ganze vor zwei Jahren gekauft und seither dran herumgebaut hat. Endlich weg aus Berlin, zum Jahreswechsel dann auch das ersehnte Ende der Berufsarbeit. M. ist 60, schlank, sie begrüßt uns mit einer Bemerkung zu ihren jetzt kurzen Haaren. „Ich dachte, ich treff dich ganz ohne“, sag ich, während ich sie umarme, denn ich will gleich klar stellen, dass wegen mir über die Hauptsache nicht geschwiegen werden muss. Über den Krebs, den Skandal, die angst, das mögliche Ende. M. lacht und sagt, kurze Haarbüschel, die sich in der Wohnung verteilen, seien jedenfalls nicht so nervig wie lange Strähnen.

Wir sitzen im Schatten, trinken Kaffee, M. hat Kuchen aufgetaut, der Kater streicht uns um die Knie. Viele Leute bieten jetzt ihren Besuch an, erzählt M. auch über längere Zeit. aber das wolle sie nicht, sie sei am liebsten alleine in den Tagen rund um die Chemo. Da könne sie ungestört schlaff herumliegen, müsse sich um niemanden kümmern. Oh Gott, denk ich mir, immer diese fraulichen Pflichten, tief eingraviert in unser Bewußtsein. Der aNDERE ist immer wichtiger! Die perfekte Gastgeberin reicht am Rand des eigenen Grabes schmackhafte Häppchen….
Im Dezember war sie noch beim arzt gewesen. Hat sich da schon irgendwie schlecht gefühlt, aber es wurde nichts gefunden. Erst viele Monate, verschiedene arzte und etliche Untersuchungen mit scharfem Gerät später wurde der Krebs entdeckt – im dritten Stadium, kurz vor den Metastasen also. Da war sie schon sehr viel dicker geworden, hatte kiloweise Wasser eingelagert. Schließlich die Operation. „Ich hab nicht gewußt“, sagt M, „dass sie einen heutzutage schon am nächsten Tag unter die Dusche jagen. Wie zäh ein Mensch doch ist!“ Man habe allerlei ausgeräumt, den Eierstock sowieso, dann den Blinddarm, einen Teil des Darmgeflechts – 14 Nahtpunkte lang sei ihre Narbe am Bauch. Naja, genäht werde heut‘ auch nicht mehr, so mit Nadel und Faden, sondern GETACKERT.

„Wir können froh‘ sein, dass sie nicht kleben. Wie bei den Flugzeugen,“ sag ich und grüble über den technischen Fortschritt, so ganz hautnah.
Wie es wohl ist, wenn man vom eigenen Krebs weiß? Ich gehe davon aus, daß ich natürlich in Schrecken erstarre, erstmal. Dass es etwas ganz anderes ist, die definitive Diagnose zu bekommen als nur die Möglichkeit zu überdenken. Sicher, wir sterben alle und wissen nicht wann. aber wir leben so, als sei dem nicht so, oder? Fast täglich denke ich: Was wäre, wenn jetzt bald Schluß wäre? aber ich rechne damit, dass mich das nicht wirklich der Realität näher bringt. Und trotzdem: Mein Vater ist genauso gestorben, wie er gelebt hat – also wird das bei mir auch nicht anders sein.
Im Moment fühl‘ ich mich nicht nach Sterben, nur so angenehm schwach. Ein Geschmack von Hinfälligkeit und Niedergang, vermutlich wird sich das Grobe, die starken Eindrücke, zu immer feineren Wahrnehmungen verwandeln, wenn es mal Ernst wird. Na, vermutlich auch einfach so, man wird ja älter und das gehört zu den damit verbundenen Vorteilen: Wer alles schon kennt, dem bleibt nichts anderes übrig, als dasselbe ganz anders anzusehen.

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Claudia am 14. Juni 2002 — Kommentare deaktiviert für Gifte und andere Sünden

Gifte und andere Sünden

Seit ein paar Tagen kämpft der arme Osterkaktus, der gerade noch einen starken Wachstumsschub hatte, ums Überleben. Etwa ein Drittel seiner Segmente hat er bereits abgeworfen. Sie faulen von innen heraus, werden schlaff und fallen ab.
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Claudia am 31. Mai 2002 — Kommentare deaktiviert für Wenn die Worte versiegen: Urlaub im hier & jetzt

Wenn die Worte versiegen: Urlaub im hier & jetzt

Seit Tagen bin ich unfähig, eine Zeile zu schreiben. Setze mich – wie gerade wieder – morgens vor den PC, beginne einen Halbsatz, starre auf die paar Worte, die die Seite verunreinigen wie Fliegenschiss, und vergesse, was ich sagen wollte. Oder ich vergesse es nicht, doch es kommt mir auf einmal lächerlich vor: Worte, mehr Worte, noch mehr Worte – wozu eigentlich? Schreiben ist Abstand halten vom Leben, und wenn es gut gelingt, ziehe ich auch andere hinab ins Schattenreich reiner Vorstellungen, dieses farblose „Leben anstatt“, nachdem wir alle so süchtig sind.

Ich glaube, es war am Montag, als ich mich mal wieder zwischen sechs ungefähr gleich wichtigen bzw. unwichtigen Aktivitäten nicht entscheiden konnte. Eins nach dem anderen taucht dann vor dem inneren Auge auf und eine Art Suchscheinwerfer checkt meine Gefühle zur Sache: hab ich LUST darauf? Winkt eine wie immer geartete Freude? Kann ich wenigstens einen Ehrgeiz befriedigen? Ist da vielleicht eine Angst, die mich antreibt? Und wenn keinerlei Resonanz erfolgt, dann wird das nächste Thema eingeblendet und ganz genauso auf Handlungsbedarf untersucht. Dann das ganze wieder von vorne, mit der ersten Möglichkeit beginnend, es erinnert mich ans TV, wenn die Aktienkurse am unteren Bildrand durchlaufen, um den einen oder anderen Zuschauer zur Kaufentscheidung zu verlocken.

Mehr als eine diffuse Angst im Hintergrund, die mir zu Recht sagt, ich müsse ja doch irgend etwas tun, wenn mir mein Berufsleben mit all seinen Einkommenschancen noch etwas bedeutet, spüre ich nicht. Und auch diese Angst ist kaum ein Gefühl, eher ein Gedanke, ein Pflichtgedanke, der zur inneren Einrichtung gehört wie das Kaffee-Service mit den röhrenden Hirschen irgendwo unten im Schrank, das man nicht wegzuwerfen vermag, solange die alte Tante noch lebt.

Was ist nur los mit mir? Immer öfter zeigt sich mir die Welt auf diese Weise, als ein beliebiges Sammelsurium von Plänen und Pflichten, die ich irgendwie sortieren soll, Prioritäten setzen, erfolgreich abarbeiten, und dann? Das nächste bitte! Ich kann zusehen, wie ich ohne Not neue Vorhaben ins Leben rufe, mich hier oder dort zu diesem und jenem verpflichte, ohne dazu gezwungen zu sein, ja, oft sogar, ohne dafür bezahlt zu werden – warum tu‘ ich das? Wenn mir dies alles sowieso schon als seltsames Schattenreich aus Zeichen und Bildern erscheint, warum setze ich immer noch eins drauf?

Vielleicht ist es besser, mich vom Monitor zu entfernen? – so dachte ich jedenfalls am Montag morgen, stand vom Stuhl auf, öffnete die Balkontür, blickte in den wolkigen Himmel, atmete ein paar Mal tief durch und setzte mich auf den Boden. Mich selber aussitzen, einfach abwarten, bis sich das Kopfkino beruhigt hat, in der Hoffnung, dass sich dann alles wie „von selbst“ sortieren werde – so ungefähr hatte ich es mir vorgestellt.

Aber weit gefehlt! Mir schien, als beschleunigten sich die Gedanken noch, nun, da ich ihnen freie Bahn eingeräumt hatte. Zu den sechs anstehenden Arbeiten fielen mir prompt noch fünf andere ein, dazu die unzähligen Kleinigkeiten, E-Mails, die geschrieben werden müssen, anstehende Korrekturen an verschiedenen Webseiten, Überlegungen, ob ich nicht diese oder jene Seite lieber löschen sollte, anstatt immer wieder veraltete Links zu erneuern, Erinnerungen an abgebrochene Gespräche, als ich selber oder mein Gegenüber plötzlich in Aktivitäten versackt war, ja, und natürlich sind da noch die Projekte, meine Werbe-Seite ist nun echt mal fällig…
Und dann – es gibt ja ein Leben neben der Arbeit! – all die Gedanken ans Elend der Welt, Israel und die Palästinenser, Kampf gegen den Terror, Saddams Massenvernichtungswaffen, Kürzungen im Berliner Haushalt, Streiks, steigende Arbeitslosigkeit, Entlassungen, Insolvenzen, Globalisierung, Wahlkampf – oh Gott, wer rettet mich davor, nun auch noch in diesen Themen-Ozean zu versacken?

Nichts und niemand. Während das Kopfkino zu Hochform aufläuft, wird mir auf einmal klar, dass das immer so weiter gehen wird. All diese Gedankenbits werden sich weiter überschlagen und gelegentlich wird mich etwas davon in Aktion versetzen. Nicht, weil ich etwa sinnvoll Prioritäten setze, sondern weil der Reiz, die Idee, oder auch das, was droht, gerade besonders eindrücklich scheint, jedenfalls eindrücklicher als das zuvor oder später im Focus der Aufmerksamkeit befindliche. Nach außen mag das durchaus wie „Prioritäten setzen“ wirken – umso leichter, als ja doch niemand zuschaut, denn jeder ist mit dem eigenen Kopfkino beschäftigt. Tatsächlich ist da nichts außer einem Getrieben-Sein, eine seltsame Unruhe, die sich als Langeweile manifestiert, wenn man sich – warum auch immer – mal nicht dem Gang der Dinge tätig in die Arme werfen kann.

Ich kann die Augen nicht mehr davor verschließen: Was ich tue oder lasse, was ich denke und schreibe, tu‘ ich zu großen Teilen nicht aus guten Gründen (Geld, Ruhm, Ehre, Welt-Retten), nicht einmal, um einem eigenen Dämon, einem Hobby, einer Marotte zu folgen, sondern ich rede, schreibe, plane, mache meistens deshalb, weil ich nicht anders kann, weil gar keine Alternative zur Verfügung steht. Aufhören ist undenkbar, denn es gibt kein Diesseits des rechnenden Denkens, allenfalls Pausen, Entspannungsübungen, kleine Fluchten – allesamt dadurch gerechtfertigt, dass sie „notwendig“ sind, um den Status Quo zu erhalten, das Dasein „um-zu“: wenn man jeweils am Ziel angekommen ist, ist dort gar nichts, nichts außer der nächsten Aufgabe.

„Du spinnst!“, sag‘ ich mir, bzw. sagte ich mir am Montagvormittag, als ich so auf dem Boden saß und mich ernsthaft fragte, ob ich denn SO noch Jahrzehnte zubringen will: als Reality-Zapper ohne echtes Engagement, ziellos leer laufend im rasenden Stillstand.

Nun, ich wollte es ja „aussitzen“: in meinem Kopfkino sitz‘ ich immerhin in der ersten Reihe. Einfach die Gedanken in aller Gelassenheit und ohne Bewertungen wahr nehmen – irgend wann würde der Strom schon ruhiger werden, nach und nach langsamer fließen, vielleicht gäbe es dann Momente der Stille, in die – toi toi toi! – visionsartig einfallen würde, was wichtig und richtig ist. Mehr noch: Was LEUCHTET, was warm und farbig das Herz berührt!

Denkste! An diesem Morgen hatte ich bereits drei Tassen (Pötte!) Milchkaffee intus, dazu bestimmt schon zehn Zigaretten – auf nüchternen Magen, versteht sich, ich frühstücke normal erst mittags. Mein Herz schlug schneller, ich zappelte herum, wippte mit dem Fuß, zwirbelte die Haut am Fingernagelbett bis es weh tat; es drängte mich, nun endlich aufzustehen, mich wieder „ins Cockpit“ zu setzen und mir eine anzustecken, damit der kurze Nikotin-Flash wenigstens für einen Moment fragloses Wohlgefühl erzeugen möge: Ohhhhh, Einheit von Körper und Geist! Dass meine Bronchien von dieser Art Einheit gerade wahrhaftig genug hatten, war zu hören und zu fühlen, aber offensichtlich spielte das keine Rolle.

Warum das alles? Und wie lange noch? Ich war auf einmal ziemlich entsetzt. Nicht, weil ich mich entgegen aller Vernunft mit Giften beschädige, auch nicht, weil ich vor irgendwelchen Lehrern, Partnern, Weltbildern oder hübschen Gedankengebäuden über ein gesundes Leben in einer besseren Welt gnadenlos versage – nein, ich sah auf einmal die Sinnlosigkeit, das Immer-Weiter-So, das Wiederholen des Immer-Selben.

Nichts von all den vielen Dingen, zwischen denen ich hin- und hergerissen bin, haut‘ mich noch wirklich vom Hocker. Nichts mehr lässt mich fasziniert den Spuren folgen und jeden Einsatz bringen. Nichts scheint mehr so drohend, dass es mir einen richtigen Schreck, eine ordentliche Angst einjagen, mich also in Bewegung versetzen könnte – und dennoch bin ich immer in (mentaler!) Bewegung, MUSS in Bewegung sein, muss ständig zwischen den 10.000 Dingen wägen und wählen. Kann vielleicht – als einziger Notnagel – darüber schreiben, um mich wenigstens ein bisschen als Mensch zu fühlen, als GANZES, das zumindest in der Lage ist, die Lage zu SEHEN, in der es da zappelt.

Das immerhin war noch möglich. Ich sah mich auf einmal ganz klar: Fast immer „Probleme bedenkend“, darüber redend, lesend und schreiben. Sicher, ich mach‘ auch Yoga, gehe sogar ins Fitness-Center, mag Spaziergänge, – aber das Gefühl des „Heimkommens“, das mein Yogalehrer nahe legt, wenn wir uns auf den Körper konzentrieren, fühle ich eher dann, wenn ich mich an den Computer setze. Das ist der Ort, von dem aus ich „meine Welt“ gestalte, erhalte und verwalte, wo mir all‘ meine Ressourcen und die vieler anderer zur Verfügung stehen, wo ich „in Kontakt bin“, zumindest „der Möglichkeit nach“, eben so, wie das Virtuelle in diesem Leben vorhanden, bzw. nicht vorhanden ist und trotzdem voller Kraft: der Kraft nämlich, alles andere restlos zu verschlingen.

Fühlt Euch nicht auf der sicheren Seite, ihr Freunde des Buches und der „Papers“. Sich zurück lehnen und in einen interessanten Essay versinken, auf der Couch liegen und die Welt über einem vielschichtigen Krimi vergessen – auch das ist kein Leben, sondern ist „Lesen über das Leben“. Es braucht keinen Computer, um sich im eigenen Kopf zu verlieren – ich mach’s auch gern per Buch, wie meine Leseliste beweist.

Am Montag jedenfalls hatte ich plötzlich keine Lust mehr auf die geschriebene, gemeinte, erzählte und gezeigte Welt. Ich schaltete den PC aus und räumte ein bisschen das Zimmer auf. Staub saugen, Papierkorb leeren, Tabak, Zigaretten und Aschenbecher entsorgen, Müll runter bringen – alles freute mich, was ich anfassen, riechen und spüren konnte. Selbst Geschirr spülen macht seither Spaß! Die Farben draußen scheinen kräftiger, das Licht kommt heller durch die Wolken, der Himmel ist blauer und die Wolken sind weit dramatischer als ich es gewohnt bin. Wenn ich das Haus verlasse, bestimmten die Füße, wo es lang geht – und am Computer komm‘ ich seit Tagen kaum noch vorbei. Musste mich heut‘ morgen richtig zwingen, es wieder einmal zu versuchen: Drüber schreiben, statt selber leben.

Langsam frag ich mich: Was wird aus mir werden, wenn ich mich der Zeichenwelt dauerhaft entfremde? Wenn das nicht nur eine Pause, eine Art Spontanurlaub im Hier & Jetzt ist, sondern sich eine große Veränderung ankündigt? Ohne Tabak und ohne die kontinuierlichen Koffeinschübe von früh bis spät fühl‘ ich mich deutlich zu wach zum arbeiten, zu spritzig für dieses reduzierte Herumsitzen und in die Tasten tippen, das ich gerade wieder betreibe, damit Ihr nicht glaubt, ich sei verstorben.

Aber selbst wenn alle das dächten, ja, wenn es wahr wäre, wär‘ das denn irgendwie schlimm?

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Claudia am 23. Mai 2002 — Kommentare deaktiviert für Der Abschied, die Katze, das Leiden

Der Abschied, die Katze, das Leiden

Die Spannung steigt. Gestern den unterschriebenen Mietvertrag mit sieben Anlagen an den Makler geschickt und die Kaution für die neue Wohnung in Friedrichshain überwiesen. Jetzt muß noch die „Gegenseite“ unterschreiben, dann ist der Umzug „im Kasten“. Eigentlich dürfte nichts mehr dazwischen kommen, doch bin ich gewohnt, nicht auf Dinge zu vertrauen oder gar zu hoffen, die noch nicht ganz sicher sind. (Auch das ein Teil der selbst anerzogenen Verteidigungshaltung gegenüber der Welt: Nichts wünschen, nichts erhoffen, dann kann ich auch nicht enttäuscht werden). Weiter → (Der Abschied, die Katze, das Leiden)

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