Thema: Alltag

Claudia am 28. Oktober 2001 — Kommentare deaktiviert für Freude am Herbst

Freude am Herbst

Gestern ein Spaziergang über die Friedhöfe bis zum Friedrichshain. Keine Sonne, sondern diesiges Herbstwetter. Gerade so verhangen und grau, daß die bunten Farben der Blätter aus sich selber leuchten, wie sie es nur tun können, wenn sie nicht vom Spiel mit Licht und Schatten überstrahlt werden.
 
Wenn ich so eine Beobachtung hinschreibe, wird sie mir gleich zur Metapher, zur verschlüsselten Botschaft der Welt, die uns etwas sagen will – aber was? Was wäre in unserem Leben „Licht & Schatten“ ? Zwar wunderschön, lebenswichtig und unverzichtbar – aber doch das je eigene Blühen einer jeden persönlichen Farbe herabmindernd?

Ahornbuddha

Mit einem Strauß bunter Blätter kam ich dann heim, fotografierte sie, legte sie auf den Scanner – und gab ihnen damit eine Art „ewiges Leben“ – das virtuelle nämlich: ein Datenleben im Cyberspace, ohne Zerfall und Tod solange die Festplatten existieren.
 
Es gibt tatsächlich Menschen, sogenannte „Transhumanisten“, die wollen das „mit sich selbst“ auch gern veranstalten: Das Bewußtsein auf die Platte downloaden und der Welt aus Fleisch und Blut adé sagen – naja, wem’s gefällt! Für mein Empfinden könnte der Irrtum kaum größer sein, in dem sie sich befinden, wenn sie meinen, ihr Bewußtsein bestünde aus mentalen Inhalten, die sich ganz easy als „Daten“ in Software abbilden lassen. Und selbst wenn es anders wäre: Was wäre denn ein Leben ohne Tod? Wie sollten wir je etwas wertschätzen, wenn kein Ende abzusehen wäre, an dem wir es ganz gewiß verlieren werden?
 
Meine Herbstdepression ist vorbei! Ich genieße es sehr, wieder Freude und Interesse an den Dingen zu fühlen. Ein langer Besuch bei einer Frau in meinem Alter, die ich gerade erst kennen lerne, hat den Ausschlag gegeben: ein ganz anderer Lebensstil, eine fliessende Kommunikation von Geist zu Geist – und viele Stunden ergötzliches Zusammensein, Essen gehen in Berlin Mitte, zuletzt eine ulkige Suche nach dem verlorenen Auto (WO nur haben wir es abgestellt?). Ein wunderbarer Tag mitten im REAL LIFE, neue Inspirationen – und angesichts eines fremden Menschen fühle ich mich deutlich stärker als Individuum, als wenn ich immer nur im Rahmen meines häuslichen Cocooning verharre, das ich in letzter Zeit ein wenig übertrieben hatte.
 
Wohlbefinden braucht alle Ebenen: Geist, Psyche, Körper – und für die Psyche sind neue Eindrücke unverzichtbar. Der Gedanke „ich hab‘ doch schon alles erlebt“ ist genauso falsch wie die Ideen der Transhumanisten – und führt, ernst genommen, einfach nur in die Depression.

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Claudia am 24. Oktober 2001 — Kommentare deaktiviert für Der Name der Dose

Der Name der Dose

Heut‘ Nacht konnte ich kaum schlafen und doch erinnere ich mich an einen langen Traum: Ich war amerikanischer Soldat und fürchtete mich vor anderen amerikanischen Soldaten, die mit dem Auftrag unterwegs waren, alle Kollegen einzufangen, die bereits am Milzbrand erkrankt waren. Wegen der Ansteckung. Milzbrand hatte ich nicht, aber Angst. Nicht ganz so schlimm, wie man das aus einem typischen Alptraum kennt, sondern eher so, als sähe ich einem Film zu, in dem ich die Angst spielte. Wie eigenartig! Im Wachzustand empfand ich bisher nämlich nicht den Schimmer einer Angst in dieser Sache, das Unbewußte macht mal wieder, was es will.
 
Offenbar geht es nicht nur mir gerade nicht besonders gut – ich nannte es gestern der Einfachheit halber „Herbstdepression„. Immer gut, der Sache einen Namen zu geben, noch dazu einen von der Jahreszeit oder dem Wetter abhängigen, da ist schon gleich mitgesagt, dass es ganz von selbst wieder vorüber geht. Eigentlich lehren uns das die alten Märchen: Wenn irgendwelche Bösewichter, Geister, Gnome, Teufel, feindliche Zwerge und dergleichen dem Held der Geschichte Angst einjagen, dann kann er sie nur dadurch loswerden oder freundlich stimmen, daß er ihren Namen findet. „Ach wie gut, daß niemand weiß, daß ich Rumpelstilzchen heiß“ – aber die Königin hat es dann doch herausgefunden!
 
Das Namen-Vergeben ist eine sehr menschliche Macht: mit der Benennung distanzieren wir uns, grenzen das, worunter wir leiden, als Phänomen vom Ganzen ab und können dann damit umgehen: es ist zum Objekt geworden, das man ins Regal stellen oder an Spezialisten weiter reichen kann. Herbstdepression: damit könnte ich zum Arzt gehen und er wüßte ganz sicher ein Mittelchen dagegen. Aber solange ich nur aufs Papier starre und nicht in der Lage bin, zu schreiben, und meine Formulare angucke anstatt sie auszufüllen, solange ich grüble, was wohl der „reale“ Grund meiner diffusen Ängste ist und alles und jedes daraufhin abklopfe, ob es mir irgendwie schaden kann oder gar will, womöglich noch weiter grüble, was das alles für die Zukunft bedeuten mag, solange bin ich ganz drin in der Sache, hoffnungslos verstrickt ins eigene Kopfkino.
 
Zum Arzt werd‘ ich natürlich trotzdem nicht gehen, bewahre! Das hilfreiche Spiel mit der Etikettierung der Phänomene führt oft genug in die Irre, wenn man die Ebenen wechselt und versucht, materiell einzuwirken auf etwas, das man ja nur geistig abgegrenzt hat. Nur in meinem Denken, dem ich durch das Vergeben von Namen bestimmte Gestalten gebe, existiert die „Herbstdepression“ als „Sache“. Sobald ich ein Mittel, eine Droge, ein Psychopharmakon einwerfe, beraube ich mich aller Flexibilität, z.B. der, die Dinge wieder ganz anders zu sehen. Die Wirkungen müssen dann erstmal ausgestanden werden und bringen alles durcheinander: unmöglich, zu wissen, was jetzt alles Wirkung ist und was nicht. Ich werde zum Spielball unbekannter Stoffe, zum Objekt freundlicher Spezialisten, für die ich typischerweise als ganzer Mensch kaum existiere, sondern eben nur als „Depressive“.
 
Klar, wenn es so schlimm ist, daß man morgens nicht mehr aufstehen will, ist vermutlich eine Tablette besser, als wochenlang liegen zu bleiben! Ich hab‘ gut reden, halte ich mich doch mit meinen Betrachtungen im Reich von Stimmungen auf, die sich binnen Stunden oder maximal Tagen völlig verändern können. Mehr noch: gelegentlich geht mir die Welt, wie ich sie betrachte und dadurch ein Stück weit mit schaffe, derart auf die Nerven, daß ich mich selber gern mal in die verführerischen Arme einer Droge (z.B. Chianti) werfe, damit sich „auf die Schnelle“ ‚was ändert. Das ist dann wie Karusell-Fahren in einem kaputten Fahrgeschäft: am Anfang macht es Spaß, doch dann wird’s mir schlecht, weil es viel zu lange dauert; ich bin gefangen in den Wirkungen der Stoffe.
 
Wer die Macht der Worte gegenüber der banalen Wirkung der Stoffe rühmt, darf nicht enden, ohne auf die Rückseite der Medaille hinzuweisen: „Was für ein schöner Sonnenuntergang!“ – so ein Satz, mitten hineingesagt in eine wundersame Abendstimmung, die uns als ganzer Mensch ergreift, kann genau diese Stimmung zerstören. Benennen ist eben auch Töten, und meistens wollen wir das nicht. Niemand hat das schöner ausgedrückt als Rilke in einem Gedicht „Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort“..
 
Gestern schrieb mir ein Leser, das Digital Diary könne ja nun nicht mehr mit „vom Leben auf dem Land“ untertitelt bleiben. Richtig, ich hatte zwar das ursprüngliche „Vom Leben auf dem Land und in den Netzen“ im Titel der Website verändert, aber noch nicht im Logo. Da steht jetzt erstmal „Vom Sinn des Lebens zum Buchstabenglück“. Mehr ist mir gestern nicht eingefallen, doch ist das eher ein Name mitten aus der Herbstdepression. Falls also jemandem von Euch ein passender Untertitel einfällt, schreibt mir bitte!
 
Und jetzt mach‘ ich mich an die Formulare…

Angler
Angler an der Spree, 20 Minuten Fußweg von meiner Wohnung

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Claudia am 23. Oktober 2001 — 1 Kommentar

Herbstdepression

Niemals jammern und klagen – diese unausgesprochene Vorgabe steht immer schon über diesem Webdiary. Und das nicht nur, weil ich mich natürlich gern von meiner besten, also STARKEN Seite zeige, sondern weil mir kaum je im Leben Texte begegneten, mit denen ein Autor oder eine Autorin es vermocht hätte, auf unterhaltsame Art zu jammern und zu klagen. (Und sag‘ mir jetzt keiner, Unterhaltung müsse ja nicht sein, wir hätten doch schon übergenug Spaßgesellschaft: So schnell, wie du wegklickst, wenn ich hier langweile, kommst du garnicht erst in die Lage, so einen Gedanken überhaupt zu fassen!)
 
Ein weiterer Grund, alles Lamentieren über das eigene Befinden lieber bei sich zu behalten, ist der sich sofort aufdrängende Vergleich: Die Kinder in Afghanistan, zum Beispiel. Und immer und zu jedem Zeitpunkt ist die Welt voll von solchen Beispielen, die mich zum Verstummen bringen oder gar meinen Schreibimpuls um 180 Grad drehen, so daß allenfalls eine Lobrede entstehen will, eine Hymne der Dankbarkeit auf den (unverdienten) paradiesischen Zustand, in dem wir alle leben – und auch das geht eigentlich nicht, verdammt nochmal!
 
Warum überhaupt schreiben? Warum nicht einfach schweigen, wenn die Inhalte in den Filtern hängen bleiben, die für dieses Diary gelten? Tu ich ja, tu ich oft genug, doch hat das seine Grenzen, will ich diese einmal geschaffene und jahrelang verfestigte Form der Selbstveröffentlichung nicht beschädigen. Und das werd‘ ich nicht, ist es doch eine der wenigen festen Strukturen, die mein ach-so-befreites und flexibles Leben begleiten und durch das bloße „immer-wieder-so“ stützen!
 
Im Lauf der Jahre hab‘ ich zu meinem Erstaunen festgestellt, daß Routinen etwas Hilfreiches, ja, Rettendes sind: Zum Beispiel ein Arbeitstag im Büro mit festen Uhrzeiten, wiederkehrende Pflichttermine am Abend aus irgendwelchen Mitgliedschaften. Auch simple Volkshochschulkurse und andere Just-for-Fun-Gewohnheiten – „immer Sonntags Tatort gucken“ – entfalten ihre stützende Kraft, sobald man sich mies fühlt, sobald ich mich der Frage „Was jetzt?“ einfach nicht mehr stellen will oder kann (und das ist im Grunde kein Unterschied, wenn man mal genau hinguckt!). Klar, auch in meinem Leben gibt es ein paar solcher Stützroutinen, aber die meisten davon sind „prekär“, sind freiwillig, können täglich wegfallen, um ihre Aufrechterhaltung muß ich mich bemühen. Dabei vermisse ich zunehmend „unfreiwillige“ zementierte Strukturen, solche, die es zumindest möglich machen, in stupide Bewußtlosigkeit zu versacken und einfach nur zu funktionieren. Also genau das, wovon ich mich die meiste Zeit meines Lebens befreien, bzw. gar nicht erst hinein verstricken wollte! Ist das nicht pervers?
 
Heute beneide ich in dunklen Stunden Menschen, die ein sogenanntes „normales Leben“ führen, bzw. das, was ich immer dafür gehalten habe und gemieden, wie der Teufel das Weihwasser: Um dreißig geheiratet, zwei Kinder, ordentlicher Beruf mit geregelten Arbeitszeiten und festem Einkommen, ein Haus und rundrum ein kleiner Garten, zum Nachbarn hin die blickdichte Hecke, in der Garage das Drittauto, die Bude vollgestellt mit materiellem Besitz, die Papier- und Behördenexistenz verplant und abgesichert bis zum Lebensende – und zweimal im Jahr die Fernreise ins große Anderwo bei garantiertem heimischen Standard.
 
Es ist nun aber nichts mehr übrig geblieben, wodurch ich die Tendenz zum Lästern, wie sie im letzten Absatz entgegen der Aussage durchschlägt, rechtfertigen könnte oder wollte. Heute kenne ich genug Menschen, die ein solches „normales Leben“ führen, um zu wissen, daß sie ebenso viel bzw. wenig Anlaß zum Unglücklichsein haben wie ich in meiner manchmal angst-machenden „Freiheit“. Und nichts von dem, was und wie ich geworden bin, indem ich mich gegen all das wehrte, kann ich mir irgendwie selber zuschreiben: War es doch nur eine Reaktion auf die Katastrophe des persönlichen familiären Lebens, wie sie mir als Kind begegnet und deshalb zum Point of Never-to-Do geworden ist.
 
So, bevor ich nun hier ernsthaft zu langweilen beginne, indem ich meine Herbstdepression im Detaille ausbreite, schließe ich lieber mit ein paar Zitaten des großen Cioran, den an Negativität bei gleichzeitig hohem Unterhaltungswert keiner je übertreffen wird:

„Man kann die Fehler seiner Mitmenschen nicht vermeiden, ohne eben deswegen auch ihre Tugenden zu fliehen. So richtet man sich durch Weisheit zugrunde.“

„Mit zunehmendem Alter vermindern sich nicht so sehr unsere intellektuellen Fähigkeiten, als vielmehr jene Kraft zu verzweifeln, deren Charme und deren Lächerlichkeit wir in unserer Jugend nicht zu schätzen wußten.“

„Wie alle Bildstürmer habe ich meine Götzenbilder nur deshalb zerschlagen, um mich vor ihren Scherben hinzuknien.“

„Als entschlossener Wundertäter erhebt man sich, um seine Tage mit Mirakeln zu bevölkern, und dann sinkt man auf sein Bett, um bis zum Abend Liebeskummer und Geldsorgen wiederzukäuen…“

„Ein Mönch und ein Metzger streiten sich im Innern einer jeden Lust.“

„Die glanzvollen Taten sind das Vorrecht der Völker, denen das Vergnügen, lange bei Tisch zu sitzen, fremd und deshalb die Poesie der Nachspeise unbekannt ist.“

„Im selben Maße, wie wir unsere Schandflecken tilgen, werfen wir unsere Masken ab. Es kommt der Tag, da unser Spiel stehen bleibt. Keine Schandflecken mehr, also auch keine Masken mehr. Und kein Publikum mehr – wir haben unsere Geheimnisse, die Lebenskraft unserer Miseren, überschätzt.“

Alle Zitate aus: E.M.Cioran, Syllogismen der Bitterkeit

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Claudia am 12. Oktober 2001 — Kommentare deaktiviert für Drogen: Nichts genügt!

Drogen: Nichts genügt!

Seit dem letzten Rauch-Stop vor gut zwei Wochen erlebte ich zwei „Rückwendungen“ – ich sage Wendungen statt (Rück-)Fälle, weil ich nicht zufällig, beiläufig oder unüberlegt der Versuchung verfallen bin, sondern recht bewußt für den Abend einen Gift-Input ansetzte: Rotwein UND Zigaretten… Am nächsten Tag dann wieder das „gesunde Leben“… Der Körper braucht etwas länger, das Nikotin auszuscheiden als den Alkohol, es scheint tatsächlich das stärkere und tiefer gehende Gift zu sein (so fühlt es sich auch an, wenn man genau hinspürt).

Gut ist, dass sich das Gefühl von „Normalzustand“ jetzt ohne Zigaretten einstellt. Es verlangt mich nur noch für kurze Momente (nach dem Essen…) nach der Kippe, doch vergesse ich das auch sehr schnell wieder, weil ich an dem Gedanken nicht festhalte. Und es ist schon ein kleines Wunder, zu bemerken: Dass man sich nämlich zwei Minuten später ohne jedes Verlangen vorfindet – und ganz OHNE geraucht oder irgend einen Ersatz angewendet zu haben! Das verändert sich auch nicht nach einem Abend mit zwanzig Zigaretten und mehr, das „Herausgleiten“ geschieht wie selbstverständlich.

Warum aber diese Input-Abende? Oberflächlich gesehen sind es ganz alltägliche Anlässe: zum Beispiel einen ganzen Tag im Auto, eine Reise zu einem Auftraggeber – abends dann der Wunsch, auf einfache und anstrengungslose Weise abzuspannen und geistig abzudriften. Also Chianti kaufen und mit dem Lebensgefährten über Gott und die Welt plaudern, angeregt durch den Wein, der geschwätzig macht und mentale Inhalte auf einmal so interessant erscheinen läßt, daß man wochenlang über sie philosophieren wollte… na, und ganz pragmatisch gesehen ist DAS eine Situation, die ich OHNE Zigaretten einfach nicht als vollständig erleben kann – noch nicht, wer weiß, vielleicht nie.

Das ist also die Oberfläche. Darunter liegt der Wunsch, in gewissen Abständen aus dem „vernünftigen Leben“ auszutreten, für ein paar Stunden in ein Dasein ohne Zukunft und Vergangenheit zu gelangen, zu leben wie ein Kind: den Augenblick feiernd, völlig ver-rückt und ohne Angst vor Folgen, ja, überhaupt OHNE viel Gedanken. Meine gelegentlichen Abende mit stofflichen Giften sind insofern reine Regressionen in einen kindhaften, prämentalen Zustand, der von der durchgehenden leichten Anspannung des „vernünftigen Lebens“ ein wenig entlastet, ohne etwas an der Grundsituation zu ändern. Und weil ich heute im Alltag lange nicht mehr so „entfremdet“ lebe wie etwa in meinen politisch aktiven Zeiten, ist das Bedürfnis nach „Ausstieg“ sehr viel geringer geworden und damit auch das Gefühl der Abhängigkeit von bewußtseinsverändernden Stoffen.

Rennen und beten

Im Forum schrieb ein Leser an einen anderen, der es geschafft hat, sowohl Alkohol als auch Zigaretten aufzugeben: „Und welche Droge nimmst du jetzt? Rennst du oder betest du??“ Ich empfinde diese Formulierung als spöttisch-zynisch, genau wie der Gefragte. Wer mal selber ernsthaft versucht hat, von diesem oder jenem Stoff zu lassen, empfindet es als wenig hilfreich, wenn jemand signalisiert: Ist doch eh alles egal, ob du dich nun zudröhnst oder Sport treibst, ob du meditierst oder malst, dein Auto pflegst oder Schach spielst…. Aus meiner Erfahrung reden so Menschen, die es für sich aufgegeben haben, aus einer bestimmten süchtigen Verstrickung herausfinden zu wollen. Und weil das letztlich nicht wirklich zufrieden stimmt, bleibt dann diese gewisse Agressivität, die sich gegen andere wendet, die es versuchen oder gar schaffen.

Insbesondere der antispirituelle Impuls ist hier erwähnenswert, denn ohne eine spirituelle Entwicklung findet niemand aus dem Kreis der Süchte (stofflicher und nicht stofflicher) heraus, davon bin ich restlos überzeugt. Das muss nicht bedeuten, im Sinne tradierter Religionen gläubig zu werden oder einer spinnerten Sekte beizutreten, sondern es geht darum, den Zugang zu einer „ganz anderen“ Seinsweise zu finden: Eine Form des Daseins, die nicht spaltet zwischen „vernünftigem Leben“ einerseits, Ekstase, Abenteuer und Exzess andrerseits, hier die Welt der Formulare, Rentenansprüche und Rationalisierungen, dort das Märchenreich der heftigen Gefühle, der Träume und Drogen, der völligen Hingabe ans Dasein.

Mit nichts als dem Weltbild unserer Gazettenweisheit (vom Urknall bis zum Antrag auf Vorsteuerabzugsberechtigung) ist eine wache und bewußte Hingabe ans Dasein jenseits eskapistischer Ausnahmezustände (=Hingabe „als ob“) nicht möglich. In diesem Weltbild bloßer Oberflächen und Zahlen kommt der Mensch, wie er (und sie) sich selbst erlebt, nicht vor. Dieses Bild der Welt zeigt immer nur ein „Aussen“, wogegen wir uns zuerst und zumeist als ein „Innen“ erleben. Das eine mit dem anderen zu vereinen, oder besser gesagt, das eine als das andere zu erkennen, ist das Ziel spiritueller Wege und Übungen. Man kann darüber endlos viele Bücher lesen, doch ersetzen diese niemals die Sache selbst, leider – sonst wäre ich lange „dort“. :-)

Bei mir ist grad eher das Fitness-Center dran. Seit fünf Wochen lauf‘ ich da übers Laufband, spiel mit den Kraftmaschinen und setz mich hinterher in die kleine Schranksauna – es ist wunderbar! Mein Leben lang hab‘ ich verkündet: Sport ist Mord – und jetzt fängt es an, mir Spaß zu machen, unglaublich! Das ist eine grundstürzende Veränderung und der Abschied von den Zigaretten scheint dadurch erstmalig richtig machbar zu werden.

Bin gespannt, wie es ist, physisch stark zu sein, erst jetzt bemerke ich nämlich, wie schwach ich doch immer war. Auch in über zehn Jahren Yoga-Übungen bin ich diesem bestimmten Aspekt der Körperübungen ausgewichen: alles, was richtig anstrengt, wobei man ins Schwitzen und in heftiges Atmen gerät, hab‘ ich weitestmöglich vermieden. Das war auch gar nicht schwer, denn Yoga-Asanas sind ja nicht zuvorderst dafür da, um Kraft und Fitness zu entwickeln, sondern Bewußtheit für das, was ist, speziell für das Zusammenwirken von Körper, Gefühl und Denken, Mensch und Welt, innen und außen. Daß ich einen bestimmten Bereich des Daseins weiterhin ausschloß, ja scheute, wie der Teufel das Weihwasser, ist mir nicht besonders aufgefallen, bzw. ich konnte die These „Sport ist Mord“ sogar besser rechtfertigen als je zuvor. Jetzt hol ich das halt nach – und mach für jetzt mit dem Schreiben Schluß und fahr ins Center!

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Claudia am 10. September 2001 — Kommentare deaktiviert für Schöne Welt: Unter Nackten

Schöne Welt: Unter Nackten

Nie hätte ich geglaubt, eines Tages ein Sauna-Fan zu sein! Bis mich meine Schwester vor gut zwei Jahren in die Wiesbadener Thermen führte, war das ganz undenkbar: Nackt unter völlig fremden Menschen? Sich womöglich anstarren lassen, mit dem herrschenden Schönheitsideal aus den Werbespots verglichen werden? Nicht mit mir! Dazu diese Hitze: Wie soll ein Mensch bei 90 Grad überhaupt überleben? Weiter → (Schöne Welt: Unter Nackten)

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Claudia am 04. September 2001 — Kommentare deaktiviert für Schlag mich, bitte!

Schlag mich, bitte!

Da gibt es Leute, die surfen durchs Web aus dem einzigen Grund, um irgendwo Stunk anzufangen. Der Gegner ist ziemlich egal, auch auf den Inhalt kommt es prinzipiell nicht an, Hauptsache, es fetzt, Hauptsache, man wird bemerkt und steht – wenn auch als Hirni oder Nerver – im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. „Um Watschen betteln“ könnte man es auch nennen, denn Erfolg bedeutet für solche Gestalten ja nicht wie für Normalsterbliche, geliebt und bewundert, sondern gehaßt und bekämpft zu werden – vermutlich, weil sie sich anderes angesichts der eigenen Person gar nicht mehr vorstellen können. Weiter → (Schlag mich, bitte!)

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Claudia am 12. August 2001 — 1 Kommentar

Der terminierte Mensch

Himmel nochmal! Ich wohne fünf Auto-Minuten von seinem Arbeitsplatz, Essen gehen und Kaffee trinken wird er ja wohl gelegentlich noch – oder ist es ihm gelungen, diese Bedürfnisse aufgrund der schlechten Wirtschaftslage abzubauen? Glaub ich nicht… oder doch? Jedenfalls mailt er mir auf meine Frage, ob wir uns mal mittags treffen und von alten Zeiten und unserem jeweiligen Heute plaudern könnten: „Tolle Idee! Freut‘ mich, wieder mal von dir zu hören. Grad‘ schieb‘ ich aber zwei Projekte an, die wirklich haarig sind, danach dann gern, ich meld‘ mich in zwei Wochen!“

Er ist nicht der erste, von dem ich eine solche oder ähnliche Antwort bekomme. Seit ich wieder in Berlin bin, ruf‘ ich öfter mal jemanden an, wenn ich Lust auf Menschen habe. Klar doch, schließlich sitze ich hier täglich alleine am PC und ich weiß: da draußen, in den unendlichen Weiten Berlins geht das vielen ganz genau so… Es sind alte Kollegen, die ich dann anrufe, Freunde und Bekannte aus zwanzig Jahren Kreuzberg, Menschen, mit denen ich gearbeitet, gefeiert, Kurse besucht und Politik gemacht habe. Und sogar meine alte Liebe T., mit dem ich Jahre in „gemeinsamem Leben & Arbeiten“ zubrachte, schickt mir erstmal einen Stapel Geschriebenes, um sich dann eine gute Woche später hier einzufinden – zu einem ordentlichen Termin halt.

„In der dritten Septemberwoche vielleicht, da ist dann meine Mutter wieder weg und die stressigsten Schultage sind ‚rum“, meint L., die Frau, mit der ich schon in Mecklenburg telefoniert hatte, wie nett es sein wird, sich wieder mal zu sehen. Der Netz-Bekannte, der zufällig drei Häuser weiter wohnt, hat auch einen „Termin vorgeschlagen“, so in zwei Wochen, da könnte man ja abends mal zusammen um die Häuser ziehen…

Termine, Termine, Termine. Wochenlange Planungen. Wenn ich dann doch mal jemanden treffe, werden wir gestört durch diesen dauernden Handy-Betrieb und ich muss ungewollt mithören, wie er/sie einem Dritten sagt: „Ja, super! In der letzten Augustwoche würde es mir evtl. passen…

Lust & Laune? Gecancelt.

Sind denn alle komplett verrückt geworden? Oder werde ich einfach nur alt und versteh‘ die Welt nicht mehr, bin nicht mehr richtig „kompatibel“ mit dem heutigen Way of Contact? Offensichtlich hat sich da etwas verschärft, dem ich mich immer schon verweigert hatte. Ein Terminkalender ist einfach nicht meine Sache, geschäftliche Dates merke ich mir auch so und private „Termine“ war ich einfach nicht gewohnt: Nicht in meinem Kreuzberger Kiezleben, in dem ich beim Gang in die Markthalle mindestens drei Leute traf, mit denen ich zu einem Schwätzchen stehen bleiben konnte. Und wenn ich mich richtig erinnere, gab es jedenfalls keine zwei, drei Wochen Vorlaufzeit, wenn ich mich mal mit jemandem verabreden wollte, höchstens so zwei bis vier Tage.

Was stört mich eigentlich daran? Ich könnte mir doch einen Terminkalender anschaffen und das einfach so mitmachen, oder? Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, ob ich das will. So wild bin ich nun auch wieder nicht, diese offensichtlich allzu beschäftigten Menschen zu sehen… Naja, ich würde schon gern, aber eben JETZT, oder morgen, oder zumindest diese Woche noch – nicht irgendwann später, ein Später, von dem ich gar nicht weiß, was ich dann tun werde, und ob ich dann Lust haben werde auf diesen oder jenen ganz Bestimmten. Es scheint mir unvorstellbar, morgens in meine Zettel zu gucken: Wen treff ich denn heute?, und dann halt das Programm abzuwickeln, egal, was Lust und Laune gerade dazu meinen. Warum sollte ich ausgerechnet DIE Kontakte, die NICHT von irgendwelchen, meist ökonomischen Zwängen diktiert sind, in ein Korsett pressen, das jede Spontaneität verunmöglicht?

Ausgebucht

Was mag wohl der Grund für dieses Verhalten sein? Warum meinen all diese Leute, dass ein privates Plaudertreffen drei Wochen im voraus geplant werden muß? Liegt es wirklich daran, dass sie heute, morgen, übermorgen und für den Rest der Woche völlig „ausgebucht“ sind??? Warum rufen sie nicht einfach an, wenn da mal eine Lücke ist: Hey, heut mittag hab ich Zeit, wie siehts bei dir aus? Wär‘ es denn so schlimm, wenn ich dann sagte: Sorry, geht grad nicht, aber morgen? Es wäre sogar viel wahrscheinlicher, dass ich zusage, denn ich kann mir die Zeit ja einteilen – wie übrigens die meisten, von denen ich hier spreche.

Wäre ich jetzt 15 Jahre jünger, würde ich das alles auf mich beziehen, wäre ordentlich zerknirscht und würde denken: Sie mögen mich nicht, sie wollen mit mir einfach nichts zu tun haben, weil ich vermutlich so eine Schreckschraube bin, die man lieber meidet! Heute weiß ich es besser, zumal es sich fast durchweg um Menschen handelt, mit denen ich gute, intensive und für beide Seiten erfüllende gemeinsame Zeiten hatte. Nein, es ist etwas anderes, etwas, dem sich alle einfach so unterwerfen, ohne es auch nur richtig zu bemerken: die Seelen sind besetzt, verkauft und also immer völlig ausgebucht. Dass man sich überhaupt noch – so in drei Wochen – für etwas Privates Zeit nimmt, das nicht zum eingespielten Alltag gehört, ist eigentlich auch schon nicht mehr richtig in diese Welt „passend“, ist schon Kompromiß, den man gerade noch eingeht, um sich nicht eingestehen zu müssen, daß im Grunde gar kein Platz mehr ist für Dinge jenseits des „Um-Zu“.

Niemand ist wirklich „ausgebucht“ – aber die Erfordernisse des allgemeinen Rattenrennens sind psychisch derart belastend, dass man nicht noch zusätzliche Inputs haben will, wo doch die Zeiten des „inneren Ausspannens“ lange schon nicht mehr reichen. Ja, dieses innere Abschalten schafft kaum noch jemand, allenfalls werden heftige äußere Reize als Ablenkung gesucht, die das, was in der Seele wühlt, einfach an Lautstärke bei weitem übertreffen. Und noch etwas: Andere Menschen zu treffen wird nicht mehr als mögliche Entspannung gesehen, als spielerisch zweckfreies Miteinander, sondern – auch im privaten Rahmen – immer nur wieder als eine Art „Auftritt“, bei dem man ein gutes Bild abgeben will: anstrengend also, wie fast alles heute. Wenn man dann noch daran denkt, dass es ein ganz übliches Verhalten ist, dem Anderen nicht wirklich zuzuhören, sondern ihn oder sie „voll zu labern“, wundert es nicht mehr, dass niemand mehr richtig Lust hat, mal eben zusammen Kaffee trinken zu gehen…

Sich aufteilen

Was bleibt, ist die Aufsplitterung der Bedürfnisse, die Fragmentierung des Ich. Will ich spontan unter Menschen sein, geh‘ ich in die Sauna und sitze gemeinsam mit unbekannten Nackten bei 90 Grad auf dem Affenfelsen. Die Hitze ist ein so starker Reiz, dass jedes Denken in den Hintergrund tritt und ein enstpanntes Zusammen sein möglich ist – ja, manchmal kann man sogar ein paar Worte wechseln… Will ich dagegen interessante Gespräche führen, tiefer schürfende Aspekte des Daseins teilen, dann kann ich ja mailen! Mitmensch on Demand ist die optimale Form für den gestressten Info-Worker: nur der reine Gedanke tröpfelt durch die Leitung, und den kann ich mir ja dann reinziehen, wenn ich dafür die Muße habe. Nicht zu vergessen das Telefon: Jenseits des bloßen Info-Austauschs ist es das „angesagte“ Mittel für das Empfinden von Nähe: Dann aber muß ich völlig im Augenblick sein, ohne jedes inhaltliche Interesse ganz auf die Schwingung des Anderen einsteigen. Nicht schlecht, aber eben auch wieder ein hübsch abgespaltener Teil des Ganzen.

Und wenn mir das alles nicht reicht, gibts ja noch die Workshop-Szene: Unter Anleitung und Aufsicht treffen sich da wochenends „ganze“ Menschen für teures Geld: tanzen, reden, atmen, Töne summen, sich in die Augen sehen, einander zuhören, sich „einfach so“ umarmen – und in Tränen ausbrechen vor Rührung! Sollte ich mir mal wieder leisten…

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Claudia am 08. August 2001 — Kommentare deaktiviert für Raus in die Welt?

Raus in die Welt?

Sieben Wochen Berlin sind es jetzt und ich fühle mich bereits, als wohnte ich schon ewig hier in Friedrichshain – kein Wunder, sieht es doch genauso aus wie meine alte Heimat Kreuzberg vor fünfzehn Jahren. Die zwei Jahre Mecklenburg, Schloß Gottesgabe, das wunderbar weite Land mit den hohen Horizonten und den endlosen Feldern ist fast nur noch ein Traum, als wär‘ es sehr sehr lange her…. Weiter → (Raus in die Welt?)

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