Thema: Alltag

Claudia am 23. Dezember 2000 — Kommentare deaktiviert für In der Lücke

In der Lücke

Jetzt ist es also soweit: Die Wintersonnwende ist vorüber, morgen brechen die „12 heiligen Nächte“ an. Der Konsumrausch feiert sein Finale, dann gehen alle nachhause, um die letzten Vorbereitungen zu treffen, das Erstandene zu verpacken, vorzukochen – fast komisch, so ein kollektives Agieren in einer das Individuelle so hoch schätzenden Gesellschaft.

Bei uns hier nichts von alledem. Am zweiten Weihnachtsfeiertag sind wir bei Freunden im Haus eingeladen, ansonsten Stille. Die Wiese, die Büsche und Bäume draußen sind jetzt voller Reif, zweimal am Tag bekommen die Hühner warmes Wasser, weil es so schnell einfriert – ich möchte jetzt nicht Huhn sein! Und doch legen sie immer weiter Eier… Ein Vogelhaus haben wir heute aufgestellt, aber noch halten sich die Vögel zurück.

Wenn ich meinen Eintrag vom 23.12. letzten Jahres lese, merke ich, dass ich heute deutlich weniger besinnlich drauf bin. Lustigerweise war damals ebenfalls Reif, und zwar der einzige im ganzen Jahr! Ist schon komisch, so ein Diary, ich schaue selten alte Einträge an, vielleicht wär‘ das ein Einstig ins jahresendzeitliche Bilanz ziehen.

Was tun in diesen letzten Tagen, ohne ins allgemeine Festgeschehen involviert zu sein? Zu meiner Family nach Wiesbaden fahre ich nicht, denn da tobt Weihnachten echt die Lucy. Und so ist es fast ein wenig abenteuerlich, hier in der Pampa im Nichts zu sitzen, frei geschaufelt von den Pflichten, noch ganz ohne Vorstellung, wie das selbst gewollte Vakuum zu füllen wäre. Ich liebe Lücken im normalen Geschehen, in denen man spürt, dass das Leben nichts Selbstverständliches ist, sondern sehr sehr seltsam.

Jedenfalls hab‘ ich vor, bis Anfang Januar recht viel Diary zu schreiben – in Berlin konnte man nachts in die Kneipe gehen und andere versprengte Weihnachtsflüchter treffen, hier muß ich eben virtuell „nach draußen“ gehen. Webdiarys sind ja dieses Jahr in Mode gekommen, viele schreiben jetzt ein „Weblog“. Ich bin mal gespannt, was davon übrig bleiben wird. Die, in die ich bisher eher zufällig ‚reingelesen habe, wirken auf mich meist irgendwie „äußerlich“, jemand schreibt, was er oder sie so denkt, aber ohne daß man einen wirklichen Eindruck von der Person gewinnen könnte, die da schreibt! Und DAS ist für mich doch der eigentliche Grund, Tagebücher zu lesen, Leute „aus der Entfernung“ kennen zu lernen. Erst wenn ich sie „kenne“, sagt es mir was, wenn sie dieses oder jenes empfehlen oder kritisieren.

Viele, die nonkommerziell im Web publizieren, scheinen ein bißchen gespalten in der eigenen Intention: sich ausdrücken wollen, aber möglichst ohne sich zu zeigen. Dabei halte ich es für immer wichtiger, dass Menschen sich im Netz darstellen. Nicht „zur eitlen Selbstdarstellung“, wie es Carola Heine mutig auf ihre Seiten schrieb, sondern damit wir uns überhaupt noch verstehen können in diesen Zeiten, in denen die Begriffe selber immer bedeutungsloser werden. Ich merke, dass abstraktes Argumentieren auch bezüglich allerwichtigster Themen bei mir nicht mehr ankommt: ich will denjenigen sehen, der die Behauptungen aufstellt und die Argumente bringt. Erst wenn ich insgesamt einen Eindruck habe, ob ich von dieser Person einen Gebrauchtwagen kaufen würde, erst dann lasse ich mich auf Argumente ein.

Durchaus bedenklich, ich weiß. Aber ich MACHE mich nicht, sondern ich werde. Allenfalls kann ich zuschauen und beschreiben, was läuft.

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Claudia am 18. Dezember 2000 — Kommentare deaktiviert für Kurz vor Jahreswechsel

Kurz vor Jahreswechsel

Immer länger ist es dunkel, wenn das so weiter geht, könnte ich glatt mal einen Tag verpassen! Die Außenwelt kann ich derzeit fast ganz abschreiben: grauer verhangener Himmel, Matsch, gelegentlich Nieselregen – sogar ein Besuch bei den Hühnern wirkt wie eine große Unternehmung. Das Leben auf dem Land in einem kleinen Dorf ist mitten im Winter, der nicht mal ein richtiger Winter ist, ganz besonders öd, besser gesagt, ein „Leben“ existiert praktisch nicht.

Was bleibt? Natürlich sitze ich nicht still herum und besinne mich auf die Vergänglichkeit aller Dinge, wie es vielleicht angesagt wäre. Das hat noch gut Zeit, die „12 heiligen Nächte“ dauern vom 24.Dezember bis zum 6.Januar, also noch sechs ’normale‘ Tage bis dahin. Im Fernsehen beginnt aber schon das allgemeine Themenwiderkäuen zur Jahreswende, das heißt, auch die schwarze Glotze ist kein Mittel der Wahl, um dem Nichts zu entkommen. Ich kann gut verstehen, dass man sich früher beim Bauern versammelt und die dunklen Wochen mit viel essen und noch mehr trinken hinter sich gebracht hat. Was auch sonst?

In den letzten Tagen bin ich „fremd gegangen“ und hab mal ein bißchen in der SELFHTML-Lounge mitgeschrieben – ich hab‘ ja erwähnt, dass Hypertext für mich einen utopischen Charakter hat, den ich gern mal ein bißchen herausarbeiten würde. Allein schon die Tatsache, dass man sich „am Rande des berühmtesten Hypertextes“ in einer „Lounge“ trifft… wunderbar! Und die Gespräche dort sind mehrere Grad engagierter als das übliche zweizeilige Blafasel, das auf vielen Bords und auch in Mailinglisten die Lust nimmt, sich zu beteiligen. (Hoffentlich ändert der Link hier nichts daran!).

Heute fällt mir nicht viel ein, sorry. Wollte trotzdem ein paar Zeilen in die Welt schreiben, einfach nur mal kurz „da sein“ – warum denn auch immer ‚was leisten? Schließlich sind die Leistungen von Millionen immer nur einen Mausklick entfernt … (falls jemand einen Surftipp zu einer ungewöhnlichen Site hat, bitte im Forum lassen!).

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Claudia am 07. Dezember 2000 — Kommentare deaktiviert für Webwriting-Magazin startet

Webwriting-Magazin startet

Eine Erkältung. Gestern nach dem Saunabesuch spürte ich sie kommen, wollte es erst kaum glauben (bin doch abgehärtet!), seit Jahren war ich nicht krank. Ausgerechnet jetzt, wo ich morgen zu einem Symposium nach Romainmotier eingeladen war, auf dem ich über Mitschreibprojekte hätte reden sollen: Alles abgesagt. Meine Lunge ist ein Reibeisen, allein die 12 Stunden Zugfahrt von Schwerin bis hinter Lausanne wären der reine Horror gewesen.

„Ich hab‘ mir eine Erkältung geholt“, sagt der Volksmund und meint damit: Wenn man eine braucht, ist sie leicht zu haben. Doch wäre ich wirklich GERN in die Schweiz gefahren, auch, weil ich da eine langjährige Online-Freundin das erste mal „real“ gesehen hätte – wunderbares Essen, Logis, Anreise und sogar ein Honorar hätte es gegeben. Wie inspirierend ein Treffen beim „Migros Kulturprozent“ sein kann, davon erzählt die Website, die vor zwei Jahren nach dem ersten Wochenende entstanden ist, das ich in RM verbringen durfte: Digitaler Diskurs – als Hypertext leben.

Inspiration – eine wunderbare Sache, doch bei mir ist derzeit eher ein Umsetzungsstau festzustellen. Zum Glück ist zumindest das Webwriting-Magazin endlich begonnen: Der erste Artikel steht:

WWMAGJacob Nielsen’s Webdesign – Der Erfolg des Einfachen.
Durchgelesen und auf Verwendbarkeit geprüft von Michael Charlier.

Das Webdesign ist eine Demonstration gegen die Eintönigkeit des derzeitigen Mainstreams: diese immergleichen Dreispalter mit den überladenen Randstreifen, dem max. 1,5 Bildschirme langen Artikeln (ohne jede Nutzung des Hypertext-Prinzips!), den blinkenden Bannern und Unmengen von EyeCatchern, die vom Inhalt ablenken, sofern überhaupt einer geboten wird. Es ist Webdesign, wie es nur Menschen machen, bzw. für einen spezifischen Inhalt entwickeln können, nicht Programme, die nur noch Daten aus 20 verschiedenen Datenbanken in möglichst simple Vorlagen einsetzen.

Um den Demo-Aspekt noch zu unterstreichen, WÄCHST das Webwriting-Magazin: Artikel für Artikel wird erscheinen und mit den zunehmenden Inhalten werden sich erst Rubriken und Bereiche entwickeln, die wiederkehrenden Designelemente werden klar werden. Irgendwann wird mir ein Logo einfallen, Suchmechanismen und Indizes dazukommen – immer dann, wenn man sie braucht. Dennoch ist das, was im Web zu sehen sein wird, als einzelner Content immer vollständig – nutzloses Surfen in leere Bereiche mit Under-Construction-Schildern wird es nicht geben, keine Sorge!

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Claudia am 01. Dezember 2000 — Kommentare deaktiviert für Film: Warum immer nur das eine?

Film: Warum immer nur das eine?

Im Kino gewesen: THE CELL angesehen und gestaunt! Den Kritiken kann ich voll zustimmen: Story recht dünn, doch spektakuläre Bilderwelten und Effekte beeindrucken so sehr, dass der Besuch lohnt. Die Rahmenhandlung braucht nur wenig Worte: hübsche Psychologin wird über Hirn/Computer/Hirn-Interface mit häßlichem Serienmörder verschaltet, reist in dessen Bewußtsein, um ihm den Aufenthaltsort seines letzten, noch lebenden Opfers zu entlocken: Der begehbare Frauenmörder als virtueller Freizeitpark für alle. Weiter → (Film: Warum immer nur das eine?)

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Claudia am 28. November 2000 — Kommentare deaktiviert für Yoga – meine Geschichte

Yoga – meine Geschichte

Endlich mal wieder deutlich früher aufgestanden: um sieben anstatt erst um halb acht. In der dunklen Jahreszeit besteht eine Neigung, länger im Bett zu bleiben, doch genau das trägt zum Winterblues bei. Je später man aufsteht, desto kürzer wirkt der Tag, umso länger die Nacht, die jetzt schon kurz nach vier beginnt: Was um Himmels willen soll ich diese ganze lange Zeit tun? Manchmal beneide ich die Bären um ihren Winterschlaf! Die morgendliche Nacht wirkt dagegen inspirierend, die Stille ist voller Versprechen, langsam verdichtet sich die Energie in Richtung Tag, die Morgendämmerung setzt ein, hier draussen noch immer in Stille. Wunderschön.

So ungefähr an zwei Dritteln aller Tage übe ich morgens von 8 bis 9 mit meinem Lebensgefährten Yoga. Eigentlich hatte ich nie vor, das morgens zu machen, doch letztlich hat es sich so ergeben: es ist sehr viel schwerer, einen Tag – und sei er noch so eintönig und ereignislos – zu unterbrechen, um eine Stunde Übungen zu machen, als gleich morgens damit zu beginnen. Das gilt erst recht, wenn es Übungsformen sind, die sowieso einen leeren Geist benötigen, bzw. erst richtig erfahren werden können, wenn das Gedanken-Wandern im Kopf zum Erliegen kommt oder zumindest von der Konzentration auf den Atem dominiert, wenn schon nicht ganz abgelöst wird.

1991 hab‘ ich mit Yoga angefangen, eine wirklich lange Zeit. Ich möchte gar nicht wissen, was aus mir geworden wäre, wie ich heute das Leben spüren bzw. nicht spüren würde und was ich darüber dächte, wenn ich NICHT mit Yoga angefangen und es stets und ständig fortgeführt hätte. Acht Jahre mit Unterstützung meines ZEN-inspirierten Lehrers in seinen wunderbar kleinen Gruppen von jeweils nur vier Schülern! Der einmal-die-Woche-Termin hat sich dadurch als Minimum eingespielt, das ich mit wenigen Ausnahmen all die Jahre durchgezogen habe, auch in lustlosen Zeiten. Doch per „einmal die Woche“ geschieht im Yoga nicht viel. Ich kann von Glück sagen, dass Hans-Peter es fertig brachte, meine Motivation zu Beginn derart zu steigern und regelmäßig neu zu entfachen, dass ich die ersten Jahre fast täglich übte. Allein die Veränderungen der Befindlichkeit, die sich im ersten halben Jahr ergaben, gerieten deshalb spektakulär und taten das ihre, mich weiterhin bei der Stange zu halten. Auch später gab es viele lange Phasen, wo das Üben zumindest in Richtung täglich tendierte oder sich bei zwei bis dreimal pro Woche einpendelte.

Wenn eine Übungsweise mal so weit in einem Leben etabliert ist, gewinnt sie einen ganz anderen Charakter und völlig andere Bedeutungen, als zu Beginn des Engagements. (Da liegt auch der Grund meiner tiefen Dankbarkeit für Hans-Peter-Hempel, denn ohne ihn hätte ich diese Kontinuität niemals aufbringen können). In der Rückschau wirkt manches geradezu komisch, was ich über Yoga zu wissen meinte, bzw. davon erwartet habe, als ich damit anfing. Und es ist ein unverdientes Wunder, ein großes Glück, dass ich dabei geblieben bin, wenn auch mit größtmöglichen Schwankungen in der inneren und äußeren Beteiligung.

Vermutlich ist es ganz egal, was man macht: ob Yoga, Tai Chi, Feldenkrais, QiGong, Bogenschiesen, Karate, KungFu, Sitzmeditation oder Marathon, man muss es nur machen, öfter als einmal die Woche, länger als ein paar Monate. Und nicht mechanisch wie ein sogenanntes „Working Out“, sondern mit aller Sorgfalt, Aufmerksamkeit und Hingabe. Es braucht nun einmal diese Zeit, damit sich die eigentlichen, weniger oberflächlichen Wirkungen dieser Übungen entfalten – auf Ebenen, auf denen man sie gar nicht erwartet hätte.

Es wäre nun zwar möglich, Konkreteres aus meiner Yoga-Geschichte zu erzählen, doch damit wäre der Abgrund nicht überbrückt zu denjenigen, die noch nie eine Geist-UND-Körper-einbeziehende Übungsweise LÄNGER praktiziert haben: Die vielleicht nach drei Monaten Yoga zu TaiChi geweschselt sind, danach Kailash-Besteigung oder Trecking in Nepal, im Winter dann Sitzmeditation, im Frühling das Sportstudio und zur Sonnwende die Schwitzhütten-Zeremonie, als Vorbereitung und Reinigung vor dem Tantra in der Toskana. Oder die, die vom Körper allenfalls Leistung verlangen, aber keinerlei Erkenntnisse – schließlich findet denken im Kopf statt und den behält man am sichersten oben, wenn man sein Leben im Sitzen verbringt.

Das schreibt sich lustig dahin, doch war ich auch nicht viel besser. Mit Yoga hätte ich ganz gewiss nicht angefangen, hätte ich nicht Hans-Peter getroffen, ihn einfach um einen Termin gebeten nach seinem Vortrag über „Buddhismus und Abendland“ an der Berliner Urania.

Hans-Peter Hempel

Hans Peter Hempel,
Yogalehrer, Professor für Politik & Philosophie an der TU Berlin
lehrt einen buddhistisch inspirierten Yoga (ZEN-Yoga), der darauf verzichtet, neue Systeme absoluter Wahrheiten zu errichten.Offene Weite – nichts von heilig
Bücher z.B.

  • „Alle Menschen sind Buddha. Der Weg des Zen“
  • „Im Hier und Jetzt – Unterweisungen im ZEN-Yoga“

Dass er Yoga lehrte, wusste ich gar nicht, sondern hatte aufgrund des Vortrags angenommen, dass er eine Meditationsgruppe leite. Yoga war bei mir „schon durch“ wie vieles andere: Mal ein tolles Buch gelesen, selber mit den Übungen angefangen, nach dem dritten Mal wieder aufgehört, weil ich mir ein bißchen blöd vorkam auf der Matte am Boden meines Zimmers. Das nächste Buch, bitte. Es kann auch gut sein, dass ich das „heiligmäßige Leben“ nicht länger als eine Woche ausgehalten habe, das für meine Begriffe zwingend dazugehörte. Jedenfalls war Yoga für mich kein Thema, als Hans Peter davon anfing: Der Körper sei so unruhig, nervös und verspannt bei uns Westlern, dass es ganz unmöglich sei, aus einem solchen Zustand in Meditation zu kommen. Deshalb lehre er Hatha-Yoga, schlichte Übungen, die jeder machen könne.

Ich hatte meine Zweifel, denn mein Leben lang hatte ich Sport vermieden und erst kürzlich wieder bemerkt, dass ich mich kaum noch ohne Schmerzen bewegen konnte. Ein paar Wochen Krankengymnastik hatten mir gezeigt, wie eingerostet ich mit 36 schon war und das schlimmste wieder hingebügelt. Aber auch sonst war ich weit vom REINEN LEBEN entfernt, das ich als Voraussetzung meinte erstmal leben zu müssen: Der Alkohol war immerhin schon „von mir abgefallen“, nicht aber rauchen, kiffen, zuviel essen, der Kaffee und vieles mehr. Ich – eine Yogini? Unmöglich!

Nicht mehr rauchen? Das könne man nicht verordnen, sagte Hans-Peter. Das müsse alles von selber verschwinden. Und in seiner unendlichen Geduld kreidete er es mir niemals an, dass ich über viele Jahre Raucherin blieb, bzw. es immer wieder wurde. Nur merkte er gelegentlich in der Yogastunde an, dass man es wieder mal sehr stark rieche…
Dass er mich trotzdem angenommen hat, obwohl ich seine Nase beleidigte, dafür bin ich ganz besonders dankbar. Neun Jahre später scheint das Rauchen sich zu verabschieden – eine lange Zeit.

Genug spontane Autobio – die Arbeit lockt…

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Claudia am 06. November 2000 — Kommentare deaktiviert für Schaffenskrise: Sinn – Sein – Sinnlichkeit

Schaffenskrise: Sinn – Sein – Sinnlichkeit

Mehrere Tage ohne das morgendliche Diary-Schreiben bringen mich in eine neue Form von Entzug, doch noch nicht in neue Dimensionen der Arbeit, bisher nicht. Zwar staut sich das, was normalerweise alsbald zum Ausdruck kommt, nun zu größeren Mengen an und entfaltet mehr Druck, mehr Verlangen, mehr Drive. Dennoch packe ich es einfach nicht, die Energie sinnvoll zu nutzen und von der Gedankenebene auf die symbolische Schiene zu kommen.

Im Kopf schreiben sich gleich mehrere Kurzessays gleichzeitig, doch wenn ich mich hinsetze und das in eine konsumierbare Form bringen will, läßt der Elan schnell nach, versickert nach ein paar Sätzen wie ein Glas Wasser in der Wüste – warum nur? Es ist, als wandele mich in dem Moment, in dem etwas vom Möglichen ins Wirkliche übergeführt werden soll, mit aller Macht die Sinnfrage an, also immer dann, wenn es beginnt, in irgend einer Weise anzustrengen.

Wenn ich Familien mit Kindern sehe, beneide ich sie manches Mal. Sie verströmen eine Anmutung von Normalität, Sinn, Selbstverständlichkeit, Fraglosigkeit, konkretisierter Form und Heimat in dieser Form, wie es ein einzelnes Individuum niemals zustande bringen kann. Das große „Worum willen“, das als unbekannter Beweger hinter allen Aktivitäten steht, ist ein- für allemal geklärt, es gibt nur das „Wie?“, aber keine Überlegung, ob überhaupt, und wenn ja, warum eigentlich…

Dieser eigenartigen Schaffenskrise kann ich mich nur hingeben, weil derzeit kein Druck aus dem Bereich der Brotarbeit auf mich wirkt. Und genau darauf habe ich ja hingearbeitet! Es war mein größter Wunsch, einige Zeit frei zu haben, undefiniert frei, nicht etwa Urlaub oder Krankheit oder Töpfern in der Toscana. Wenn ich mich so umsehe, gibt es kaum Leute, die einfach mal untätig sind, ohne Plan und Ziel, ohne vorgegebenen Zweck. Nein, es ist im Gegenteil so, dass praktisch alle guten Freelancer, die ich kenne, überlastet, ausgebucht und bis ins nächste Jahr verplant sind. Sie arbeiten und arbeiten – ja woraufhin eigentlich? Ist das eine unzeitgemäße Frage? Ist Arbeiten & Geld verdienen mittlerweile selbst letztes Ziel und finaler Sinn? Wir arbeiten, damit wir nicht aus dem Geschäft kommen, damit wir immer weiter arbeiten dürfen?

Ich kenne vier Gründe, um zu arbeiten: Lebenserhaltung, Anerkennung, Freiheit, Selbstvergessenheit. In dieser Reihenfolge werden sie bewußt, werden sie wichtig und wieder unwichtig. Der Bereich der Lebenserhaltung ist keineswegs so groß, wie man gemeinhin denkt. Würden alle nur soviel arbeiten, wie unbedingt nötig, wäre der ganze wirtschaftliche Umtrieb längst nicht so auschweifend. Die Sehnsucht nach Anerkennung treibt dagegen viel weiter als die Notwendigkeit, und wer die Siegertreppchen nicht (mehr) braucht, wünscht zumindest Freiheit – Freiheit in Zeit und Raum, also in der Regel genug Geld auf der Kante.

Doch es gibt keine wirkliche Unabhängigkeit, man ist immer im Austausch, immer betroffen von Anderen, von der Umwelt, der Gesellschaft. „Fertig werden“ ist keine ernstzunehmende Arbeits-Utopie, und das ist sogar ebenso schön wie schlimm: Der untätig am Strand herumlungernde Millionär aus der Werbung ist nur eine lächerliche Figur, der alsbald schon psychisch vor die Hunde gehen würde, fände er keinen ganz persönlichen Sinnhorizont – tätig oder untätig.

So bleibt also nur die Selbstvergessenheit: Etwas arbeiten, in das ich so hineinversinke, dass es daneben nichts mehr gibt, vor allem nicht mich selbst mit meinen langweiligen Anliegen. Wenn ich zum Beispiel im Fotoshop experimentiere oder ein Webprojekt designe, manchmal auch, wenn ich einen Text niederschreibe – dabei bin ICH als Konglomerat von Gedanken, Fähigkeiten und Energie genau so wichtig oder unwichtig wie die Maus, die Tastatur, die Grammatik, der Strom oder sonstige Komponenten, die zum fertigen Werk führen. Ich falle dabei also sinnvoll in eins zusammen mit allem, was sonst noch da ist und mitwirkt. Es gibt nichts Schöneres, aber leider läßt es sich nicht zwingen. Weil es derzeit nicht gelingt, die Selbstvergessenheit in der Arbeit zu erleben, wechsle ich einfach die Ebene und switche in die Sinnlichkeit: Musik hören, Saunabesuche, Yoga-Übungen, einfach nur daliegen….

(Ich hoffe ja doch, dass sich das bald mal wieder ändert! :-)
Meine Musikempfehlung heute: Einstürzende Neubauten – Silence is sexy)

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Claudia am 01. November 2000 — Kommentare deaktiviert für Shangrila

Shangrila

Heute ist ein wunderbarer Tag. Ich fühle mich klar und zuversichtlich, ohne dass es dafür besondere Gründe gäbe. Hab‘ gestern ausgespannt, Sauna, ein Spaziergang auf dem Flohmarkt, Besuch bei den Nachbarn und abends einen Serienmörder-Krimi. :-) Schon sieht die Welt wieder richtig freundlich aus, Sinnfragen verblassen im Morgenlicht, treten in den Hintergrund – bis zum nächsten Mal? Weiter → (Shangrila)

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