Sterben, wie man lebt: Vaters letzte Tage
Ich stell‘ mir öfter mal vor, ich läge im Sterben und das zöge sich einige Wochen und Monate dahin. Würde ich deswegen eigentlich meine „virtuelle Existenz“ aufgeben wollen? Nicht mehr ins Diary schreiben, was ich über die Welt denke? Keinen Newsletter mehr aussenden und nicht mehr mit Stammgästen und Gelegenheitsbesuchern im Forum plaudern? Bewahre! Es kommt natürlich drauf an, in welchem Zustand ich mich befinde und was für Fähigkeiten mir bleiben: Kann ich noch am Bildschirm lesen? Kann der Mausfinger noch klicken und finde ich noch immer die richtigen Tasten? Wenn ja, sehe ich momentan keinen Grund dafür, etwas zu verändern, mit irgend etwas aufzuhören, das Teil meines Lebens ist, „nur“ weil ich bald sterbe.
Da wir nie wissen, WANN das sein wird, sind wir im Übrigen sowieso immer in derselben Situation. Als mein Vater starb, hab‘ ich zum ersten Mal überdeutlich mitbekommen: Man stirbt ganz genau so, wie man lebt: In dem Maß an Wahrheit und Bewusstheit, zu dem man eben in der Lage ist. Das wird nicht auf einmal mehr oder weniger!
Ich war gerufen worden, weil es mit ihm zu Ende ging. Die Ärzte hatten einen aggressiven, schnell fort schreitenden Krebs diagnostiziert, gegen den sich im Grunde nichts mehr machen ließ, da er bereits „überall“ war. Allerdings durfte ihm das nicht gesagt werden, seine dritte Frau erwartete, dass ich ihm eine Ausrede bezüglich meiner Anreise aus Berlin erzählen würde, irgend etwas mit Computer-Workshops, vielleicht ein Arbeitstreffen. Ja, ich sollte tatsächlich sagen, ich sei wegen Maschinen und Programmen gekommen, nicht etwa wegen ihm.
Meine Güte! Ich war völlig entnervt wegen dieser Zumutung, schließlich bin ich schon das ganze Leben lang der festen Überzeugung, die Wahrheit über den eigenen Zustand dürfe man niemandem verheimlichen. Sollte jetzt also ICH diejenige sein, die das entgegen dem lügnerischen Bemäntelungsverhalten seiner Frau, nach deren Weisungen sich auch alle anderen richteten, durchsetzen sollte? Lag es an mir, zu sagen: Papa, du stirbst?
An Mut hätte es mir nicht gefehlt. Diese ganz persönliche Rücksichtslosigkeit im Namen der Wahrheit war mir dereinst ja sehr nahe. Glücklicherweise hatte ich im Lauf‘ des Lebens schon dazu gelernt, so dass ich auch wahrnahm, dass so ein Verhalten auch immer etwas Eigennütziges hat. Man kann damit rechnen, sich irgendwie GROSSARTIG zu fühlen, wenn man dem Anderen eine existenziell wichtige Wahrheit um die Ohren haut, die er vielleicht lieber nicht hören will – das ist MACHT, vermeintlich im Sinne hoher Werte ausgeübt. Eine gute Gelegenheit auch, sich für Verletzungen aus der Vergangenheit zu revanchieren . Und wer hätte mich je mehr verletzt als mein Vater – damals, als ich noch ein Kind war?
Ich saß ihm Zug nach Wiesbaden und grübelte: Sollte ich brav den Mund halten, wie seine Frau verlangte? Oder sagen, was anliegt – vor ihr? Oder erst, wenn ich mit ihm alleine wäre? Vielleicht gar ganz offen die Kooperation der Lüge verweigern und ihr das bereits vorher „ansagen“? Ich kam zu keinem Ergebnis, für alles gab es ein Für und Wider, die Gedanken überschlugen sich und mir wurde nur immer enger zu Mute, als trüge ich eine zu kleine Rüstung um die Brust. Ich dachte an meinen Vater, stellte ihn mir im Krankenbett vor, erinnerte mich an vergangene Krankenhausaufenthalte, an seine unnachahmliche Manier, mit einem kleinen Stapel medizinischer Fachbücher und Lexika die Ärzte zu beeindrucken. An seinem Bett stehen und über ihn reden, als sei er nicht da, das konnte man mit ihm nicht machen!
Jetzt aber gab es gar nichts mehr zu tun. Seine Macht, seine ganze Kompetenz, andere nach seiner Pfeife tanzen zu lassen, war obsolet geworden. Wie würde er das verkraften? Niemand sprach ja mit ihm darüber. Alle verbargen das Offensichtliche und taten, als wäre nichts, als werde er bald genesen – wie schrecklich!
Auf einmal musste ich weinen. Ich fühlte die Verzweiflung, die er fühlen musste, angesichts dieser seiner letztlichen Machtlosigkeit – und er tat mir so leid! Schließlich hatte er sich nie im Leben mit diesem Aspekt des Daseins auseinander gesetzt, sondern immer nur darum gekümmert, seine persönliche Macht, seinen Einfluss auf die Dinge zu erhalten, bzw. zu stärken. Er wusste immer, wo es lang zu gehen hatte und was das Richtige sei. „Umgeben von Idioten“ zweifelte er niemals an sich selbst, zeigte es zumindest nicht – es musste furchtbar für ihn sein, am Ende des Machens anzukommen!
Das Weinen rettete mich. Der Schmerz des unerwarteten Mitgefühls befreite mich vom Denken. Ich merkte, dass es nichts zu entscheiden gab, dass ich einfach aus dem Augenblick heraus handeln würde, oder eben nicht. Zur Not würde ich einfach in Tränen ausbrechen, die Ebene des „Vernünftigen“ hinter mir lassen, wo Entscheidungen gefordert sind – meine Güte, was für eine Freiheit!!!! Und nicht nur für diese Situation, sondern ÜBERHAUPT!
Als ich dann an seinem Krankenbett saß, war auch der Arzt da. Schon draußen im Flur hatte er mich über den unveränderten Stand der Dinge in Kenntnis gesetzt: Keine Therapie würde mehr etwas bringen, ja, man könne ihm deren „Nebenwirkungen“ eigentlich auch nicht mehr zumuten. Auch G., seine dritte Frau saß am Bett und schaute voller Angst auf den Arzt, was der wohl jetzt sagen werde.
„Sie sind ein Mann wie ein Baum, aber der Baum ist von innen morsch“, fing er an. Ich schaute auf meinen Vater, der, obwohl völlig wach, die Botschaft nicht zu verstehen schien. Jedenfalls lächelte er, als habe er ein Kompliment bekommen. Klar, er hatte nur die erste Hälfte des Satzes an sich heran gelassen! Ich hörte weiter zu, verfolgte mit äußerster Konzentration dieses denkwürdige Gespräch zwischen dem Arzt und meinem Vater – war das wirklich ein Gespräch? Aus meiner Sicht hatte der Arzt alles in gebotener Deutlichkeit gesagt und nichts verschwiegen – es aber andrerseits meinem Vater überlassen, sich die Botschaften heraus zu suchen, die er vernehmen wollte. Und der wollte auf keinen Fall zur Kenntnis nehmen, dass es mit ihm zu Ende ging, dass auch die medizinische Kunst hier am Ende war. Ich staunte, ja, ich war völlig perplex. Sowas hatte ich bis dahin nicht für möglich gehalten: Man konnte die Wahrheit hören, sich aber vollständig vor ihr verschließen!
Er brachte es sogar fertig, sich eine (völlig nutzlose) Chemotherapie mit „halber Dosis“ zu verordnen – der Arzt hat es ihm nicht verweigert und ich musste zugeben: Ja, das ist jetzt das einzig richtige, das mitmenschliche, nämlich dasjenige Verhalten, das die Selbstbestimmung des Patienten an die erste Stelle setzt. Wenn der es nun mal vorzieht, die Wirklichkeit zu ignorieren und sich bis in die letzten Momente mit fürchterlichen Medikamenten voll zu dröhnen, dann ist das so zu akzeptieren!
Noch ein paar Tage war ich dort, saß täglich am Krankenbett und hörte meinem Vater zu. Der sprach meist ohne Punkt und Komma von Belanglosigkeiten, und wenn ihm mal der Faden ausging, machte seine Frau weiter. Bloß keine Lücke entstehen lassen, in die der Gedanke an die Realität eintreten könnte!
Und doch drang sie manchmal durch die Ritzen seines Bewusstseins. Er war ja selber der Körper, der hier starb, wie konnte ihm das verborgen bleiben? Ich sah, wie er gelegentlich etwas unkonzentrierter wurde, sein aktuelles Thema schien dann zu verblassen, die Aufmerksamkeit sich nach innen zu verlagern, als würde er dort etwas hören…. und sofort umnachtete sich sein Geist. Manchmal kamen noch ein paar Tränen, doch immer gleich auch hilfreiche Halluzinationen, die ihn ablenkten von dem, was er weder hören noch spüren wollte: das Zimmer drehte sich wie ein Karusell, an den Wänden erschienen Bilder in schnellem Wechsel – aufgeregt berichtete er von dem, was er sah, schimpfte auf das Krankenhaus, das nicht einmal die Stabilität der Möbel im Griff habe, verlor sich weiter und weiter in Belanglosigkeiten…
So ist er dann auch gestorben, etwa zwei Wochen später. Zurück in Berlin hatte ich noch mal mit ihm telefoniert: immer noch redete er von der hoffentlich bald eintretenden Besserung, von der Chemotherapie, deren Dosis man vielleicht erhöhen müsse….
Ich habe viel von ihm gelernt. Durch dieses Sterben vermutlich genauso viel und Wichtigeres, als während seines ganzen Lebens. (Danke, Papa!)
In meinem Herzen lebt er, solange es mich gibt.
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