Thema: Autobiografisches

Claudia am 23. August 2002 — Kommentare deaktiviert für Der philosophische Virus, Weltbilderschütterung, OOBE

Der philosophische Virus, Weltbilderschütterung, OOBE

Ohne große Ankündigung ist hier doch eine art Sommerpause entstanden. Ich komme seltener zum Schreiben, die Tage fließen zahflüssiger und seit dem Ausflug nach Mecklenburg und den Zelt-Übernachtungen beeinträchtigten mich auch noch Schlaffheit und Dauerkopfschmerz. Ich glaube, es ist jetzt soweit, Zelt und Luftmatratze zu entsorgen, alles hat seine Zeit.

Dank ein paar homöopathischer Kügelchen bin ich nun wieder gesundet – oder wär‘ es auch einfach so vorbei gewesen? Das weiß ich nie wirklich und das ärgert mich. Jedes Loch, das sich im Universum auftut, vergrätzt mich, egal, wo es sich auftut. Mit Loch meine ich Unstimmigkeiten, Unvollkommenheiten im Weltbild, mit dem wir täglich leben: plötzlich merkst du, verdammt noch mal, DAS HIER dürfte es doch eingentlich gar nicht geben, wenn „die Wissenschaft“ recht hätte – und dann? Weiter → (Der philosophische Virus, Weltbilderschütterung, OOBE)

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Claudia am 19. Juni 2002 — 1 Kommentar

Wahrheit und Tod.

Sterben, wie man lebt: Vaters letzte Tage

Ich stell‘ mir öfter mal vor, ich läge im Sterben und das zöge sich einige Wochen und Monate dahin. Würde ich deswegen eigentlich meine „virtuelle Existenz“ aufgeben wollen? Nicht mehr ins Diary schreiben, was ich über die Welt denke? Keinen Newsletter mehr aussenden und nicht mehr mit Stammgästen und Gelegenheitsbesuchern im Forum plaudern? Bewahre! Es kommt natürlich drauf an, in welchem Zustand ich mich befinde und was für Fähigkeiten mir bleiben: Kann ich noch am Bildschirm lesen? Kann der Mausfinger noch klicken und finde ich noch immer die richtigen Tasten? Wenn ja, sehe ich momentan keinen Grund dafür, etwas zu verändern, mit irgend etwas aufzuhören, das Teil meines Lebens ist, „nur“ weil ich bald sterbe.

Da wir nie wissen, WANN das sein wird, sind wir im Übrigen sowieso immer in derselben Situation. Als mein Vater starb, hab‘ ich zum ersten Mal überdeutlich mitbekommen: Man stirbt ganz genau so, wie man lebt: In dem Maß an Wahrheit und Bewusstheit, zu dem man eben in der Lage ist. Das wird nicht auf einmal mehr oder weniger!

Ich war gerufen worden, weil es mit ihm zu Ende ging. Die Ärzte hatten einen aggressiven, schnell fort schreitenden Krebs diagnostiziert, gegen den sich im Grunde nichts mehr machen ließ, da er bereits „überall“ war. Allerdings durfte ihm das nicht gesagt werden, seine dritte Frau erwartete, dass ich ihm eine Ausrede bezüglich meiner Anreise aus Berlin erzählen würde, irgend etwas mit Computer-Workshops, vielleicht ein Arbeitstreffen. Ja, ich sollte tatsächlich sagen, ich sei wegen Maschinen und Programmen gekommen, nicht etwa wegen ihm.

Meine Güte! Ich war völlig entnervt wegen dieser Zumutung, schließlich bin ich schon das ganze Leben lang der festen Überzeugung, die Wahrheit über den eigenen Zustand dürfe man niemandem verheimlichen. Sollte jetzt also ICH diejenige sein, die das entgegen dem lügnerischen Bemäntelungsverhalten seiner Frau, nach deren Weisungen sich auch alle anderen richteten, durchsetzen sollte? Lag es an mir, zu sagen: Papa, du stirbst?

An Mut hätte es mir nicht gefehlt. Diese ganz persönliche Rücksichtslosigkeit im Namen der Wahrheit war mir dereinst ja sehr nahe. Glücklicherweise hatte ich im Lauf‘ des Lebens schon dazu gelernt, so dass ich auch wahrnahm, dass so ein Verhalten auch immer etwas Eigennütziges hat. Man kann damit rechnen, sich irgendwie GROSSARTIG zu fühlen, wenn man dem Anderen eine existenziell wichtige Wahrheit um die Ohren haut, die er vielleicht lieber nicht hören will – das ist MACHT, vermeintlich im Sinne hoher Werte ausgeübt. Eine gute Gelegenheit auch, sich für Verletzungen aus der Vergangenheit zu revanchieren . Und wer hätte mich je mehr verletzt als mein Vater – damals, als ich noch ein Kind war?

Ich saß ihm Zug nach Wiesbaden und grübelte: Sollte ich brav den Mund halten, wie seine Frau verlangte? Oder sagen, was anliegt – vor ihr? Oder erst, wenn ich mit ihm alleine wäre? Vielleicht gar ganz offen die Kooperation der Lüge verweigern und ihr das bereits vorher „ansagen“? Ich kam zu keinem Ergebnis, für alles gab es ein Für und Wider, die Gedanken überschlugen sich und mir wurde nur immer enger zu Mute, als trüge ich eine zu kleine Rüstung um die Brust. Ich dachte an meinen Vater, stellte ihn mir im Krankenbett vor, erinnerte mich an vergangene Krankenhausaufenthalte, an seine unnachahmliche Manier, mit einem kleinen Stapel medizinischer Fachbücher und Lexika die Ärzte zu beeindrucken. An seinem Bett stehen und über ihn reden, als sei er nicht da, das konnte man mit ihm nicht machen!

Jetzt aber gab es gar nichts mehr zu tun. Seine Macht, seine ganze Kompetenz, andere nach seiner Pfeife tanzen zu lassen, war obsolet geworden. Wie würde er das verkraften? Niemand sprach ja mit ihm darüber. Alle verbargen das Offensichtliche und taten, als wäre nichts, als werde er bald genesen – wie schrecklich!

Auf einmal musste ich weinen. Ich fühlte die Verzweiflung, die er fühlen musste, angesichts dieser seiner letztlichen Machtlosigkeit – und er tat mir so leid! Schließlich hatte er sich nie im Leben mit diesem Aspekt des Daseins auseinander gesetzt, sondern immer nur darum gekümmert, seine persönliche Macht, seinen Einfluss auf die Dinge zu erhalten, bzw. zu stärken. Er wusste immer, wo es lang zu gehen hatte und was das Richtige sei. „Umgeben von Idioten“ zweifelte er niemals an sich selbst, zeigte es zumindest nicht – es musste furchtbar für ihn sein, am Ende des Machens anzukommen!

Das Weinen rettete mich. Der Schmerz des unerwarteten Mitgefühls befreite mich vom Denken. Ich merkte, dass es nichts zu entscheiden gab, dass ich einfach aus dem Augenblick heraus handeln würde, oder eben nicht. Zur Not würde ich einfach in Tränen ausbrechen, die Ebene des „Vernünftigen“ hinter mir lassen, wo Entscheidungen gefordert sind – meine Güte, was für eine Freiheit!!!! Und nicht nur für diese Situation, sondern ÜBERHAUPT!

Als ich dann an seinem Krankenbett saß, war auch der Arzt da. Schon draußen im Flur hatte er mich über den unveränderten Stand der Dinge in Kenntnis gesetzt: Keine Therapie würde mehr etwas bringen, ja, man könne ihm deren „Nebenwirkungen“ eigentlich auch nicht mehr zumuten. Auch G., seine dritte Frau saß am Bett und schaute voller Angst auf den Arzt, was der wohl jetzt sagen werde.

„Sie sind ein Mann wie ein Baum, aber der Baum ist von innen morsch“, fing er an. Ich schaute auf meinen Vater, der, obwohl völlig wach, die Botschaft nicht zu verstehen schien. Jedenfalls lächelte er, als habe er ein Kompliment bekommen. Klar, er hatte nur die erste Hälfte des Satzes an sich heran gelassen! Ich hörte weiter zu, verfolgte mit äußerster Konzentration dieses denkwürdige Gespräch zwischen dem Arzt und meinem Vater – war das wirklich ein Gespräch? Aus meiner Sicht hatte der Arzt alles in gebotener Deutlichkeit gesagt und nichts verschwiegen – es aber andrerseits meinem Vater überlassen, sich die Botschaften heraus zu suchen, die er vernehmen wollte. Und der wollte auf keinen Fall zur Kenntnis nehmen, dass es mit ihm zu Ende ging, dass auch die medizinische Kunst hier am Ende war. Ich staunte, ja, ich war völlig perplex. Sowas hatte ich bis dahin nicht für möglich gehalten: Man konnte die Wahrheit hören, sich aber vollständig vor ihr verschließen!

Er brachte es sogar fertig, sich eine (völlig nutzlose) Chemotherapie mit „halber Dosis“ zu verordnen – der Arzt hat es ihm nicht verweigert und ich musste zugeben: Ja, das ist jetzt das einzig richtige, das mitmenschliche, nämlich dasjenige Verhalten, das die Selbstbestimmung des Patienten an die erste Stelle setzt. Wenn der es nun mal vorzieht, die Wirklichkeit zu ignorieren und sich bis in die letzten Momente mit fürchterlichen Medikamenten voll zu dröhnen, dann ist das so zu akzeptieren!

Noch ein paar Tage war ich dort, saß täglich am Krankenbett und hörte meinem Vater zu. Der sprach meist ohne Punkt und Komma von Belanglosigkeiten, und wenn ihm mal der Faden ausging, machte seine Frau weiter. Bloß keine Lücke entstehen lassen, in die der Gedanke an die Realität eintreten könnte!

Und doch drang sie manchmal durch die Ritzen seines Bewusstseins. Er war ja selber der Körper, der hier starb, wie konnte ihm das verborgen bleiben? Ich sah, wie er gelegentlich etwas unkonzentrierter wurde, sein aktuelles Thema schien dann zu verblassen, die Aufmerksamkeit sich nach innen zu verlagern, als würde er dort etwas hören…. und sofort umnachtete sich sein Geist. Manchmal kamen noch ein paar Tränen, doch immer gleich auch hilfreiche Halluzinationen, die ihn ablenkten von dem, was er weder hören noch spüren wollte: das Zimmer drehte sich wie ein Karusell, an den Wänden erschienen Bilder in schnellem Wechsel – aufgeregt berichtete er von dem, was er sah, schimpfte auf das Krankenhaus, das nicht einmal die Stabilität der Möbel im Griff habe, verlor sich weiter und weiter in Belanglosigkeiten…

So ist er dann auch gestorben, etwa zwei Wochen später. Zurück in Berlin hatte ich noch mal mit ihm telefoniert: immer noch redete er von der hoffentlich bald eintretenden Besserung, von der Chemotherapie, deren Dosis man vielleicht erhöhen müsse….

Ich habe viel von ihm gelernt. Durch dieses Sterben vermutlich genauso viel und Wichtigeres, als während seines ganzen Lebens. (Danke, Papa!)

In meinem Herzen lebt er, solange es mich gibt.

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Claudia am 21. Dezember 2001 — Kommentare deaktiviert für Weihnachtsliebe

Weihnachtsliebe

Pünktlich zum Winteranfang der Schnee! Eine Seltenheit in Berlin, wo sich die vierte Jahreszeit oft genug darauf beschränkt, dunkel, matschig, nass und abstoßend zu erscheinen, auf die Laune zu drücken und die zig Tonnen Hundescheiße auf den Gehwegen feucht zu halten. Ich bin begeistert – im letzten Eintrag hatte ich mir die Schneedecke gewünscht und prompt kommt sie runter, wenn das nicht ein gutes Zeichen ist! :-)

Zu Weihnachten werden die Menschen freundlicher, spenden für die Bedürftigen in aller Welt, kaufen öfter als sonst die Obdachlosenzeitungen und überlegen, wie sie anderen zum Fest eine Freude machen können. Was schenken in einer Welt, in der sich viele alles kaufen können, was sie brauchen? Und: Ist es nicht bloße Konvention, weihnachtlicher „Konsumterror“, dem man am besten ferne bleibt, womöglich gleich auf die Südhalbkugel entfliehend?

Früher dachte ich so, hörte schon mit 19 auf, zu schenken, hüllte mich in meinen Hochmut, lästerte ein wenig mit Gleichgesinnten über „die Massen“ und war froh, wenn die Feste endlich vorbei waren. Kernpunkt der Kritik, sofern wir in den 70gern überhaupt darüber nachdachten, war der Vorwurf der Heuchelei: Das ganze Jahr geht euch die Welt am Arsch vorbei, aber an Weihnachten ist Glaube, Liebe, Hoffnung angesagt – gestützt von nochmal ins Gigantische gesteigerter Völlerei, damit man’s besser erträgt! Oh böse Welt, geh wende dich und dreh dich bitte weg, dass ICH dich nicht mehr seh…

Welch‘ jugendliche Arroganz, denk‘ ich mir heute. Es ist ja ein Leichtes, sämtliche Konventionen in Grund und Boden zu kritisieren, die bösen oder banalen Motive dahinter zu entlarven und das immer auch Eigennützige hinter allen „guten Taten“ dingfest zu machen – aber dann? Folgt aus der Kritik eine bessere Praxis? In der Regel nicht – wofür man sich auch noch eine lange Zeit ganz unschuldig fühlt, je nachdem, wie lange es gelingt, von sich selber abzusehen, bzw. sich immer nur als Opfer der Verhältnisse zu betrachten.

In einer der vielen Internet-Umfragen der letzten Zeit (Quelle vergessen) wurde unter anderem nach dem ehrenamtlichen sozialen Engagement der Teilnehmer gefragt. Null Prozent konnten diese Frage bejahen! Das hat mich schon erschüttert, ich hätte zumindest eine kleine Minderheit an ehrenamtlichen Helfern erwartet, auch unter Web-Surfern, die ja demoskopisch mehr und mehr einem Querschnitt durch die Gesellschaft entsprechen dürften. Bevor ich mich über sowas dann aber richtig aufrege, fällt mir ein, daß ich die Frage auch selber mit „Nein“ beantwortet hätte – möcht‘ ich trotzdem weiter lästern? Vom Welthass zum Selbsthass fortschreiten? Wem würde das nützen?

In meiner Generation ist das Helfen in Verruf geraten, in vieler Hinsicht. Erstmal politisch betrachtet als „Symptomkuriererei“ am verhaßten „System“, später dann als psychologisch-hilfloses Dilettantentum, wo man besser professionelle Kräfte wirken lassen sollte: Therapie für alle! Das finale Totschlagsargument gibt sich dann spirituell und heißt: Man kann Anderen nicht wirklich helfen, allenfalls hilft man sich selbst. Selbstveränderung kann nicht von außen kommen, Einsicht ist nicht vermittelbar, jeder findet auf dem eigenen Weg das vor, was er verursacht hat – wer wären wir, jemanden davor „erretten“ zu wollen? Selbst wenn es funktionieren würde, würden wir dadurch nicht nur eine Entwicklung verzögern? Schließlich tritt Bewußtsein vor allem mitten im Leiden auf, wem es gut geht, der verfällt dem großen Schlaf…

Es ist vorbei mit der christlichen Nächstenliebe, zu Tode kritisiert im Abendland, Ersatz nicht in Sicht. Einige versuchen, das Licht aus dem Osten zu importieren, zum Beispiel die „Meta-Meditation zur Entwicklung liebender Güte für alle Wesen“ aus dem tibetischen Buddhismus. Ich weiß nicht, ob das wirklich etwas an der eingefleischten Ignoranz, in der wir gewöhnlich leben, ändert. Mir kommen die tibetisch-buddhistischen Gemeinden vor wie die katholische Kirche in zeitgemäßer Fassung: wieder mystischer, prunk- und geheimnisvoller, ohne Gott, aber mit „grüner Tara“ – für mich funktioniert es so nicht, ich würde dann eher das Original nehmen, wenn ich mir von organisierter Religion noch etwas erhoffte.

Sich also abfinden mit der Kälte in der Welt? Sich in den warmen Whirl-Pool setzen und vierhändig ayurvedisch massieren lassen, wenn es sich zu ungemütlich anfühlt? Weihnachten zeigt Jahr für Jahr einen Restbestand an Unzufriedenheit: der Wellness-Gedanke ist doch ein wenig dünn als Erbe ehemaliger Groß-Werte wie Liebe, Güte und Solidarität. Läßt er sich vielleicht erweitern? Soweit, daß zum EIGENEN Wohlfühlen auch das Wohl des Anderen gehört? Und OHNE dass man dem anderen mit jedweder Zuwendung gleich eine Forderung mitliefert: Du sollst dich nach meinen Vorstellungen ändern, sonst… ?

Schreibend läßt sich das nicht feststellen, man muß es ausexperimentieren. Und deshalb mach‘ ich an dieser Stelle besser Schluß.

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Claudia am 14. Dezember 2001 — Kommentare deaktiviert für Das Licht der tiefsten Nacht

Das Licht der tiefsten Nacht

Nur noch wenige Tage bis zur längsten Nacht. Ich merke, wie sich meine Aufmerksamkeit von den 1000 Kleinigkeiten des Alltags abwenden will – nach innen, oder „hinter“ die Dinge, in einen Raum, der den Worten nicht so leicht zugänglich ist. Vielleicht ist es das schwindende Licht, das ganz unbewußt an Vergänglichkeit und Tod erinnert, worauf der Verstand mit allerlei Sinnfragen antwortet. Was tun wir „hier“ eigentlich? Ist es nicht verrückt, angesichts des großen Geheimnisses, das unser kurzes Dasein ahnen läßt, von früh bis spät in Nebensächlichkeiten zu versinken?

Lange schon weiß ich, dass es keine den Verstand befriedigenden Antworten gibt, jedenfalls keine, die man einfach nachlesen oder nachleben könnte. Also keine Suche mehr, es genügt, sich in der Stimmung der Frage aufzuhalten und zu spüren, was für Gefühle aufkommen: Melancholie, Anflüge von Traurigkeit, doch inmitten des dunkelsten Bereichs auch eine Freude, die man gerade dort nicht erwarten würde. Das muß das Licht sein, das symbolisch in der längsten Nacht entzündet wird, ein Eindruck, der mich mit den Seltsamkeiten des Weihnachtsfestes, wie es heute zelebriert wird, immer wieder versöhnt.

Diesen Punkt der Freude hinter der Traurigkeit berührend, verändert sich der Blick auf die Welt und wird zärtlich. Aber diese Zärtlichkeit macht gleich noch trauriger. Auf einmal springt so viel sinnloses Leiden ins Auge, das sich mit einer „realistischen“ Haltung weit besser ertragen läßt, mit dem üblichen Zynismus, mit cooler Schnoddrigkeit, mit steter Konzentration auf den eigenen Nutzen, das eigene Meinen und Wollen, das dann von anderen auch nichts anderes, jedenfalls nichts Besseres erwartet.

Dieses hingeschrieben, hört es sich schon wieder wie ein Vorwurf an, oh Elend der Sprache! Gibt es einen Weg, etwas auszudrücken, ohne aufgrund bloßer Beschreibung gleich der Kritik verdächtig zu werden? Kritik ist das verbale Rüstzeug in der Welt des Kampfes, doch wovon ich sprechen will, liegt jenseits davon. Wenn mir zum Beispiel einer dumm kommt, mich angreift, mir in irgend einer Hinsicht am Zeug flicken will, bin ich üblicherweise auf Verteidigung eingestellt – oder, wenn der Gegner übermächtig ist oder die Sache es für mich nicht lohnt, auch auf Ausweichen, auf Flucht oder schlichtes Ignorieren. Ich kann aber auch – zumindest dann, wenn dieser „Punkt der Freude“ gerade zugänglich ist – „hinter“ den Angriff sehen, die Motive und Gefühle mit-spüren, die den Anderen zur Härte zwingen. Das bedeutet, Angst und Unsicherheit wahrzunehmen, Verzweiflung, Haß und innere Verwüstungen an sich heranlassen, ganz genau so nah, als wären es die eigenen. Ja, es SIND in gewisser Weise die eigenen, denn wir sind alle aus demselben Holz geschnitzt.

Sofern und solange das gelingt, bin ich voller Zärtlichkeit – und traurig über das, was ist. Das Visier klappt NICHT herunter, sondern meine Weichheit teilt sich dem Anderen mit. Geschieht das im „ganz normalen Leben“, kann es sein, daß der Kampf endet, bzw. gar nicht erst beginnt. Das ist dann kein üblicher „Kontakt“ mehr, wie wenn die Billardkugeln aufeinander treffen, sondern eine Begegnung von Menschen als Menschen: als diejenigen, die sterben müssen und immer schon darum wissen.

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Claudia am 28. November 2001 — Kommentare deaktiviert für Zum Lernen gezwungen?

Zum Lernen gezwungen?

Seit gestern starke Wurm-Attacken, ich bekomme Mails von Bekannten und Unbekannten mit Anhängen wie „me_nude.mp3.scr“ – und allermeist wissen die armen Opfer nicht, dass ihr PC den Virus hat. Er verschickt sich selbst an alle, die im Adressbuch des Mailprogramms stehen, zusammen mit Dateien, die er vermutlich auf dem PC des Betroffenen findet – z.B. im Ordner „eigene Dateien“.

Ich habe KEIN Virenschutzprogramm installiert, das hätte auch nichts genützt, denn nur die allerneuesten Updates hätten ihn erkannt. Zudem verhält sich so ein Programm, auf „volle Wächterfunktionen“ geschaltet, oft selber so sperrig, daß es mich mehr stört als die Viren, vor denen es doch schützen soll. Mich schützt allein Wissen und Erfahrung: Niemals zweifelhafte Attachements öffnen, doppelte Datei-Endungen (.doc.rsc) sind unsinnig, also vermutlich feindselig. Ganz wichtig: Jedes „automatisch“ irgendwo mitgelieferte zusätzliche Microsoft-Programm erhöht die Gefahr. Die meisten Viren sind für das MS-Mailprogramm geschrieben, denn es ist am verbreitetsten: Wer macht sich schon die Mühe, etwas anderes auszusuchen, zu installieren und zu lernen, wenn Outlook doch „im Bundle“ mitkommt und keine weitere Arbeit macht? Und so entsteht eine Monokultur, die – genau wie in der ersten Natur – für Virenangriffe immer anfälliger ist.

Was hier stattfindet ist eine Art Bürgerkrieg auf dem PC und auf Internet-Servern. Er wird meist „just for fun“ geführt, die oft jugendlichen Programmierer wissen offensichtlich nicht wohin mit ihrer Kreativität und freuen sich, weltweit für Ärger und Verunsicherung zu sorgen. Neben Datenverlusten, die gelegentlich echte Schäden anrichten, ist der übelste Effekt solcher Virenattacken der, daß unzählige Menschen dazu gezwungen werden, sich mit schlichter Verteidigung zu befassen und nicht mit Inhalten, die die Welt wirklich braucht.

Guru-Wissen ?

Seit 1992 arbeite ich am Computer und ich erinnere mich gut, wie interessant es im ersten Jahr noch wahr, die seltsamen Fehlfunktionen zu erforschen. Ein kundiger PC-Freak half mir, wenn er mal streikte. Wir saßen stundenlang zusammen vor dem schwarzen DOS-Screen und ich fragte immer wieder: Was machst du jetzt? Woran hat es denn gelegen? Zwar wußte ich um die Grundstrukturen und Funktionen eines PC, denn das Arbeitsamt gönnte mir gerade eine Umschulung/Weiterbildung zur EDV-Fachkraft – aber bis in die Feinheiten reichte mein Anfängerwissen nicht. Lernbegierig bewunderte ich den Könner neben mir, der in die Tasten hackte und kryptische Meldungen erzeugte, immer neue „Parameter“ ausprobierte, dies und jenes neu installierte bis irgendwann das Gerät wieder brav tat, was es sollte.

Im Lauf mehrerer solcher Sessions, die oft bis tief in die Nacht reichten, erkannte ich dann zu meiner großen Enttäuschung, daß mein kundiger Helfer keinesfalls „wußte“. Alles was er tat, war ein stetes Ausprobieren und Austauschen, Aus- und wieder Einschalten, ein Modulwechsel im Stil Versuch & Irrtum – er war genauso weit entfernt davon, zu wissen, „woran es denn gelegen hat“ wie ich. Und er vermittelte mir beiläufig, dass es ein solches „totales Wissen“ hier gar nicht geben kann, denn schon an einem einzigen Großprogramm haben hunderte Menschen entwickelt, Fehler bereinigt, dabei neue erzeugt, neue Versionen geschaffen und neue Technologien & Strategien eingearbeitet – und von derlei Programmen „lebt“ eine ganze Armada auf jedem PC, es ist geradezu ein Wunder, wenn er mal länger einwandfrei funktioniert. Genausowenig, wie man heutige Autos noch „kundig“ reparieren kann, sondern nur noch Teile austauscht, ist der PC nicht mehr wirklich durchschaubar, lange schon nicht.

Das war das Ende meines Interesses an der Maschine selbst. Ich war nicht weiter bereit, Hirnschmalz und Arbeitszeit zu investieren, um meinen PC zu „pflegen“ und „auf dem Stand“ zu halten. Geradezu amüsiert hat mich die Tatsache, dass sich so mancher, meist männliche Besuch „just for fun“ mit meinem Gerät beschäftigte, mal ein bißchen Platte komprimieren, mal kaputte Dateien entfernen, dies und jenes „eleganter“ anordnen, Einstellungen verändern, damit es SCHNELLER geht – es machte ihnen offensichtlich Freude. Mir kam das zunehmend so vor, als würde man während eines Besuchs mal eben ein bißchen zusammen das Auto waschen und schnell mal den Motor reinigen… nicht unbedingt ein Zeitvertreib nach meinem Geschmack, aber wenn es jemanden glücklich macht…

Was droht?

Mich macht es nicht glücklich, es raubt mir nur die Zeit für sinnvolle und freudige Aktivitäten. Einen PC will ich benutzen, um etwas zu tun – also schau ich strikt auf den Schaden, der schlimmstenfalls droht, wenn ich mich der Technik als solcher verweigere und NICHT jedes Update, jedes „Patch“ und vielfältige Sicherungen und Verteidigungsanlagen installiere. Was droht? Im übelsten Fall ein voller Datenverlust – na und? Meine sämtlichen Webwerke und Arbeitsstadien für Kunden sind auf Webservern im Netz, könnte ich mir alles neu herunterladen. Eine zweite Festplatte dient als Parkraum für weitere Daten, selten gehen mal beide Festplatten gleichzeitig kaputt! Und dann brenn ich noch gelegentlich eine CD, naja, nicht oft genug, aber bisher ist mir noch nichts Schlimmes zugestoßen.

Wenn ich überlege, wieviele Arbeitsstunden mir diese Herangehensweise schon gerspart hat, komm ich locker auf die Kosten des neuen PC, den ich mir alle drei Jahre kaufe! (Volles Update inbegriffen, ob ich will oder nicht).

Und doch: ein bißchen um die Basics wissen, ist schon ganz sinnvoll! Erst dann kann man nämlich kundig Lern- und Arbeitsverweigerung betreiben. Die Mär, es sei „alles ganz einfach“ ist eine glatte Lüge, die Menschen dazu verführen soll, zum Beispiel die Microsoft-Monokultur auf ihrem Gerät automatisch wachsen zu lassen. Viele wissen auch nicht, was das Internet ist und wie das Zusammenspiel zwichen den verschiedenen Diensten (Web, Mail, FTP etc.) eigentlich abläuft. Wenn dann plötzlich etwas nicht funktioniert oder in der Presse über Viren, Trojaner, Sicherheitslücken, Ausspioniert-werden und Datenklau berichtet wird, können sie diese Ereignisse und Meldungen nicht einordnen, fühlen sich verunsichert und ausgeliefert. Mit Tretroller-Kenntnissen einen Jumbo fliegen – vermutlich geht das heute, denn es gibt ja den Autopiloten und automatisierte Start- und Lande-Prozesse. Aber wer würde sich schon gern einem solchen Piloten anvertrauen?

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Claudia am 22. November 2001 — Kommentare deaktiviert für Keine Zeit? Leben & Arbeiten

Keine Zeit? Leben & Arbeiten

Das war jetzt mal eine lange Diary-Pause! Der „Endspurt“ für einen wichtigen Auftrag hat mich derart beschäftigt, dass ich kaum noch über irgend einen Tellerrand gucken konnte. Bzw. nicht wollte, mich hat ja niemand gezwungen, ich hätte es auch lockerer angehen können.

Komischerweise fällt mir das immer noch schwer. Immer neige ich dazu, die Dinge linear, eins hinter dem anderen, abzuarbeiten. Wenn dann was Größeres anliegt, wird zwangsläufig anderes längere Zeit vernachlässigt – wobei es interessant zu beobachten ist, WAS unter solchen Bedingungen als das Wichtige und weniger Wichtige erscheint. Klar, zuerst kommt die Brotarbeit, alles, worauf ein Auftraggeber wartet. Danach folgen dann verbindlich vereinbarte Projekte mit anderen: zum Beispiel das Webwriting Magazin, dessen Update ich auch grad‘ hinter mir habe. Als nächstes folgen Vorhaben, die anderen zugesagt sind, die aber unter der Überschrift „just for fun“ oder Kulturarbeit entstehen – oder auch nicht. Ganz zuletzt kommt das Eigene, angefangen vom Diary bis hin zu verschiedenen Projekten aus der umfangreichen Liste „mach ich, wenn ich Zeit habe“.

Neben dieser Web-Schiene gibts noch die Ebene „Behördendschungel“, die ich gern ganz ans Ende stelle. Schon wieder mal die Umsatzsteuervoranmeldung zu spät eingereicht – obwohl es richtig lächerlich ist, das vor mir her zu schieben, kostet es doch nur ein paar Minuten. Gottlob betreibe ich ja keinen Versandhandel und auch keinen Tante-Emma-Laden mit vielen einzelnen Vorgängen! Aber selbst das „Rechnungen schreiben“ hat komischerweise keine Priorität, sondern rangiert als „Papierkram“ ziemlich weit hinten.

Was ich hier berichte, ist eine „innere“ Bewertungsskala. Natürlich setze ich sie in der Realität nicht exakt so um, sondern schreibe auch mitten im „Endspurt“ mal Diary, mach‘ ein paar schöne Bilder, schau mal in die Mailinglisten – doch alles, was nicht der „Reihenfolge der Wichtigkeit“ entspricht, ist mit schlechten Gewissen verbunden, als würde ich mir die Zeit STEHLEN müssen, nein, nicht mir, sondern anderen.

Bei alledem hab‘ ich ein paar wirklich schöne Dinge des Lebens noch gar nicht erwähnt: Menschen treffen, Spaziergänge, körperliche Aktivitäten – all das beglückt und bereichert mich weit mehr als das Sounsovielte Web-Projekt, aber gerade das steht oft an letzter Stelle, wenn ich glaube, zuviel zu tun zu haben. Immerhin: hier bin ich schon ein wenig weiser geworden im Lauf des Lebens und gebe mir gelengentlich einen Tritt, um wieder mal hinter dem Monitor hervor zu kommen!

Was ich mir wünsche ist eine Art diszipliniertes Multitasking: In aller Frühe erstmal Yoga, dann Diary-Schreiben, vormittags die Brotarbeit, mittags Fitness-Center mit Sauna oder Spaziergang, nachmittags die Eigenarbeit – mit anderen und alleine. Und abends mit dem Lebensgefährten ausspannen oder andere inspirierede Menschen treffen, zumindest zweimal die Woche. Dies alles unterbrechbar durch Ausnahmen: Dinge, zu denen ich auf einmal Lust habe – und bitte ohne schlechtes Gewissen!

Ob ich da nochmal hinkomme? Hat es unter Euch jemand geschafft, sich in diese Richtung „umzuerziehen“? Gerade bewerbe ich mich um einen Auftrag, der mich „von Tag zu Tag“ beschäftigen wird, wenn’s klappt. Langfristig! Das wär‘ super, dann ginge es nämlich nicht mehr anders als mittels einer Routine, wie ich sie mir hier erträume.

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Claudia am 15. November 2001 — Kommentare deaktiviert für Die Nähe so fern

Die Nähe so fern

Vielleicht gelingt es dann auch, einige der mißhandelten Kinder zu finden„, hofft der Kriminalbeamte, der von der in mehreren Ländern zeitgleich durchgeführten Razzia gegen einen Kinderporno-Ring berichtet. Zigtausende Bilder wurden gefunden, Computer beschlagnahmt, Täter verhaftet – vorbei die Zeiten, da der Cyberspace ein rechtsfreier Raum war, wo man den miesesten Aspekten menschlichen Begehrens unerkannt und ungestraft nachgehen konnte, gut so!

Aber die Kinder: Wo sind sie? Wird es gelingen, sie mittels der Bilder, Texte und Daten aus „Virtual World“ ausfindig zu machen, den Mißbrauch und die Ausbeutung im „realen Leben“ zu unterbinden? Vielleicht gibt es ja eine kleine Chance, auf diesem Weg das eine oder andere Opfer aus den Klauen seiner Mißhandler zu befreien, andrerseits: Wäre da überhaupt eine derart große Nachfrage nach Kinderporno, gäbe es einen „Markt“, ohne die weltweite Vernetzung? Vor allem: Warum bemerkt in der Umgebung der Kinder niemand etwas? In der Schule, im Kindergarten, in der Nachbarschaft, beim Arzt?

Heute Morgen hab‘ ich zuerst den PC eingeschaltet, erst eine Stunde später mal die Vorhänge aufgezogen und ein Fenster geöffnet. Mein „Blick in die Welt“ richtet sich immer öfter auf einen Bildschirm, wenn es mich nach Kommunikation und Kontakt, Gemeinschaft und Austausch gelüstet. Und ich erlebe das nicht etwa als Verlust und Beschränkung, sondern bin in der Regel begeistert, mittels der Netze so viel leichter Menschen zu finden, mit denen ich etwas anfangen kann, Menschen gleichen Geistes oder zumindest mit ähnlichen Interessen und mentalen Horizonten. Die Leute aber, die in meinem Mietshaus wohnen, erkenne ich auch nach einam halben Jahr noch nicht alle als Nachbarn – wie denn auch?

Das Netz wird immer engmaschiger und manchmal hoffe ich darauf, daß sich beim Erreichen einer bestimmten Dichte ein Qualitätssprung im Nahbereich ereignet: Wenn ich dann meine Adresse bei Google eingebe, finde ich die Homepages und Blogs meiner Nachbarn! Und dann? Werde ich ihnen eine E-Mail schreiben, in der Hoffnung, mit diesen Menschen in der Nähe auch in Kontakt zu kommen?

Vielleicht gerade nicht! Ich habe Grund zur Annahme, daß die Sehnsucht nach physischer Nähe, die uns noch immer als das Echte und Wahre, das einzig „richtig Wirkliche“ vorkommt, gar kein tatsächliches Bedürfnis mehr ist, sondern nur noch eine alte Denkgewohnheit. Warum schätze ich denn die Stadt und bin nach zwei Jahren auf dem Land mit Freude wieder in den „Moloch Berlin“ gezogen? Gerade wegen der Anonymität, dem „Leben und Leben lassen“, das die einzige Weise darstellt, wie viele Menschen auf so engem Raum zusammen (nein, eben nicht zusammen!) leben können. Wegen der Ignoranz und Unverbindlichkeit, könnte man auch sagen, also genau wegen derjenigen Aspekte, an denen wir doch so sehr zu leiden meinen.

Das kreatürliche Bedürfnis nach physischer Nähe ist natürlich immer noch vorhanden, es treibt mich in die Sauna, ins Fitness-Center und in die Shopping-Mall. Ich erkläre mir das mit unserer engen Verwandtschaft mit den Affen: die sitzen auch gern zusammen herum, können sich sogar lausen, schlagen und vernaschen, ohne erst wochenlang Denkinhalte abgleichen zu müssen. Manchmal beneide ich sie darum, wohl wissend, daß ich selber allzu spontan-ursprüngliche Kontaktaufnahme im Nahbereich nie und nimmer tolerieren könnte!

Und so treffe ich bei solchen und ähnlichen Gedankenspielen immer wieder auf die absurde Widersprüchlichkeit des eigenen Daseins. Wie soll ich da ernsthaft bleiben? Wie ernst kann ich meine Wünsche und Bedürfnisse noch nehmen, wie kann ich bleibende Werte vertreten, wenn ich doch weiß, daß ihre Verwirklichung mich in überstürzte Fluchten treiben würde?

Einfach alles „sein lassen“ wie es eben ist und fröhlich darüber lachen? Sich keine weiteren Gedanken machen, sondern das Leben genießen, so gut man es gerade vermag? Auch das ist keine echte Möglichkeit, wenn ich mit offenen Augen durch die Welt gehe (oder sollte ich sagen: surfe?). Denn ich sehe, dass genau dieses absurde Sosein, das zunehmende Verschwinden aus dem Nahbereich, zu so viel Elend führt: Die Kinder, deren Verletztheit wir nicht bemerken, die Alten, Kranken und Behinderten, die in Heime und Anstalten weggesperrt werden – und schließlich auch die tiefe Sehnsucht, die in den Herzen der Menschen weiterlebt und niemals damit zufrieden ist, dass wir zu Bildern, Texten, Zahlen werden, nurmehr an schönen Oberflächen und technischen Apparaten arbeiten und den Anderen ignorieren, wenn wir ihn nicht gerade als Konkurrenten fürchten.

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Claudia am 09. November 2001 — Kommentare deaktiviert für Sag niemals nie!

Sag niemals nie!

Seit Anfang September geh‘ ich in ein Fitness-Center, ich glaub es kaum!. „Sport ist Mord“ war schließlich jahrzehntelang mein Wahlspruch: Verschwitzte Jogger mit modischem Stirnband, muskelbepackte Bodybuilder an martialischen Geräten, Mädels im Aerobic-Wahn, alles Mitglieder einer verirrten Sekte, die „Fit for fun“ und einen gestylten Body als oberste Werte zelebriert. Geistflüchtlinge, Renegaten, bedauernswerte Gestalten, die ihre Orientierungslosigkeit im Physischen zu überwinden suchen: Gewicht, Puls, Kraft, alles immerhin verlässlich messbare Größen, da weiß man, was man ist!

Fitnesscompany BerlinUnd jetzt lauf‘ ich selber übers Band. Glücklicherweise ist Joggen heute out und „walken“ angesagt, sonst‘ hätt‘ ich den Einstieg vermutlich nie geschafft. Bei 6,2 km/h bring ich in zehn Minuten einen virtuellen Kilometer hinter mich, verbrauche dabei 75 Kalorien, gerate leicht ins Schwitzen und fühl‘ mich so wohl dabei, daß ich oft noch zehn Minuten „rudern“ dranhänge, oder gar‘ weiterlaufe zum wöchentlich angesagten „Cardio-Training“: 40 Minuten auf der Stelle treten, mein Gott, wo bin ich gelandet?

Im September hatte ich die Einladung zum (fast) kostenlosen Probemonat im Briefkasten gefunden, ein Center in meiner Nähe, dass ich auch zu fuß erreichen kann. „Jetzt probierst du’s einfach mal aus“, dacht‘ ich mir. Gerade war ich nämlich dabei, wieder in eine verschärfte „Gesund-Leben-Phase“ einzuschwenken, fettarm essen, viel Rohkost, nicht rauchen, abnehmen – selber orientierungslos geworden, ödete mich alles an, was nur über einen Monitor zu erleben ist, von der Brotarbeit über die vielfältigen Kommunikationsformen bis hin zum künstlerischen Selbstausdruck und politischen Engagement. Immer nur Tasten drücken, Maus-klicken und denken? Nein danke, das kann doch nicht alles sein! Die Sauna als wunderbare Abwechslung in einem Bildschirmleben hatte ich ja schon kennen gelernt – nun war es vom passiv Schwitzen zum aktiven Anstrengen gar kein so großer Schritt. Und eine Sauna gibt’s im Center ja auch, da spart man richtig Geld!

Yoga

Yoga-AsanaGanz unbedarft in Bezug auf die körperliche Ebene war ich nicht, als ich mein „Probetraining“ absolvierte. Über zehn Jahre ZEN-Yoga liegen hinter mir und ich bin nicht so verrückt, das eine durch das andere ersetzen zu wollen, bewahre! Obwohl eine Yogastunde von außen betrachtet vornehmlich aus körperlichen Übungen und Haltungen besteht, liegt der Schwerpunkt doch auf der psychisch-geistigen Ebene: Sich selbst kennen lernen, indem man das Zusammenspiel von Körper, Gefühl und Denken bemerkt, dazu die Schwingungen aus der Umgebung, die Veränderungen im Lauf der Jahreszeiten, Momente der Stille, Entspannung, Nicht-Denken… – wer bis dahin hauptsächlich auf der mental-intellektuellen Ebene lebt, lernt die Welt auf ganz neue Art kennen, die vordergründige Abgetrenntheit des „Ich denke“ entpuppt sich als Illusion, aber auch das völlige Ausgeliefertsein an Emotionen – Wut, Ärger, Panik, Euphorie – nimmt deutlich ab. Man erkennt: Eindrücke von außen (und auch innere Grübeleien) erzeugen üblicherweise automatenhafte Gefühlsreaktionen, die wiederum das Denken bestimmen. Aber diese „Gefühle“ sind samt und sonders im Grunde körperliche Reaktionen – im Bauch, im Brustbereich, um den Solarplexus, im Becken -, gepaart mit Veränderungen der Atmung.

Je mehr ich mir dieses Geschehens übend und beobachtend bewußt werde, desto weniger kann ich dieser Ebenen-Verkettung verfallen. Wenn der Körper einmal gelernt hat, auf eine plötzliche Verspannung (Angst, Angriff…) mit Tiefer-in-den-Bauch-atmen zu antworten und sie so augenblicklich wieder zu lösen, dann bedeutet das einen ungeheuren Freiheitsgewinn im Psychisch-Geistigen, im Realen Leben mit all seinen Schrecken und Freuden. Voraussetzung ist eine Flexibilisierung des Körpers, damit er seine Zustände überhaupt von Augenblick zu Augenblick verändern kann und nicht in jahrzehntelang entwickelten Dauerverspannungen festhält, die nicht nur zum Muskel- , sondern auch zum Charakterpanzer geworden sind, wie man ihn überall beobachten kann, wo man Menschen trifft.

Obwohl nun Yoga, wie ihn mein Lehrer Hans-Peter Hempel lehrt, dazu herausfordert, sich vollständig kennen zu lernen, alle unberührten Räume und Gerümpelecken des eigenen Daseins zu betreten und zu „belichten“, ist es mir doch in all diesen Jahren gelungen, ganz unbemerkt eine bestimmte Ebene weitgehend zu vermeiden, die mir schon als Kind als der Horror schlechthin erschien: alles, was richtig anstrengt und Kraft kostet, wobei man heftig ins Schwitzen gerät, wo die Muskeln nicht nur gedehnt werden, sondern auch Krafteinsatz bringen müssen. Es gibt solche Übungen, auch im Yoga, aber sie machen eher einen kleinen Teil aus und den konnte ich durchaus „halblang“ angehen, ganz unauffällig, lange Zeit sogar, ohne dass es mir bewusst geworden wäre.

Und jetzt walke ich 40 Minuten, mach‘ Sonntags den Langhantel-Kurs, verausgabe mich an den Geräten und GENIESSE es auf einmal, ins Schwitzen zu geraten! Ich hab‘ keinen Ehrgeiz, schwere Gewichte zu stemmen, sondern stell‘ mir alles so ein, dass ich gerade mal eine gewisse Anstrengung verspüre – und in nur fünf Wochen mußte ich pro Gerät schon ein- bis zwei „Briketts“ nachlegen, damit das Gefühl das gleiche bleibt. Wow! Da ich den ganzen Tag am Computer sitze, fühle ich mich wie ein neuer Mensch, wenn ich mittags eineinhalb bis zwei Stunden Fitness plus Sauna einschiebe. Meine Freude an der Arbeit ist weit größer, die Laune besser und auch der Output ist MEHR geworden, obwohl ich geglaubt hätte, soviel Zeit könne ich doch der Sache nicht opfern.

Ach ja, bevor ich’s vergesse: Auch die Angst, mit einem nicht-perfekten Körper unter lauter jungen Halbgöttinen und Göttern zum Gespött zu werden, war völlig unbegründet: Solche sind – zumindest in meinem Center – eher eine kleine Minderheit. Das mittlere Alter ist stark vertreten und derzeit steigt der Anteil der Over60s gerade spürbar an!

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