Thema: Leben & Arbeiten

Claudia am 08. August 2001 — Kommentare deaktiviert für Raus in die Welt?

Raus in die Welt?

Sieben Wochen Berlin sind es jetzt und ich fühle mich bereits, als wohnte ich schon ewig hier in Friedrichshain – kein Wunder, sieht es doch genauso aus wie meine alte Heimat Kreuzberg vor fünfzehn Jahren. Die zwei Jahre Mecklenburg, Schloß Gottesgabe, das wunderbar weite Land mit den hohen Horizonten und den endlosen Feldern ist fast nur noch ein Traum, als wär‘ es sehr sehr lange her…. Weiter → (Raus in die Welt?)

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Claudia am 31. Juli 2001 — Kommentare deaktiviert für Coole Rationalität

Coole Rationalität

Wie lange dauert das nun schon an, dass ich den Einstieg in ein ziel- und zweckgerichtetes „sinnvolles Arbeiten“ zwischen Montag und Samstag nicht richtig finde? Wochen, Monate? Ich weiß es gar nicht mehr, immer wieder tu ich ja doch was, kümmere mich – zu wenig, aber immerhin – um das Webwriting-Magazin, arbeite an Demos für neue Angebote, finde sogar gelegentlich etwas Neues, wie neulich einen anderen Design-Stil – aber all das ist sprunghaft da und dann gleich wieder weg. Im Moment bin ich für mich selbst eine schlechte Chefin, gerade, dass ich noch die nötigsten Verwaltungsangelegenheiten halbwegs termingerecht hinbekomme, ein Glück!

Dabei geht’s mir nicht schlecht, keine Rede. Ich fühle mich nicht deprimiert, nur höchst selten irgendwie geängstigt, könnte nicht mal behaupten, ein „Problem“ zu haben – oh Gott, schon das Wort ist mir so seltsam zuwider! Ein Problem wäre ja etwas, das ich lösen müsste und auch könnte, etwas, das mich fordert, es zu analysieren, Ziele festzulegen, Methoden und Schritte zu deren Erreichung zu planen – bis hin zur Erfolgskontrolle, dass ich auch mitbekomme, wann das Problem weg ist…. schon die Vorstellung ödet mich ungeheuer an.

Heute ist der vierte Tag meiner Erkältung, zwar ist sie besser geworden, aber nicht weg, wie sonst nach drei Tagen. Bin fast überzeugt, es liegt daran, dass ich gerne krank bin, irgendwie befreit mich das von der Pflicht, vernünftig zu sein und endlich richtig loszulegen – was immer das heißen mag. Die Erkältung ist übrigens genau dann aufgetreten, als ich den Alkohol als mögliches „Ausstiegsmittel für Stunden“ verabschiedet hatte – woraus will ich denn nur aussteigen und wohin lockt es mich eigentlich?

Es ist bezeichnend, dass mir das im Kopf nicht mehr einfallen will. Wie meistens befinde ich mich am Ziel meiner (denkbaren) Wünsche: die richtige Wohnung am richtigen Ort, kein Bock auf Urlaub, Friede, Freude, auch Inspiration durch andere Menschen, wenn ich danach verlange – was sollte ich denn sonst noch wollen? Ich weiß es nicht – und trotzdem ist da was…. was???

Luxusprobleme, könnte ich sagen und es dabei bewenden lassen. Es wird vorübergehen, irgendwann wird etwas von außen kommen, vermutlich etwas Unangenehmes, und mich in hektische Aktion versetzen – solange aber kann ich nicht umhin, diesen seltsamen Zustand „am Rande“ zu bemerken, als wäre ich drauf und dran, eine bis in den letzten Winkel erforschte Heimat zu verlassen, doch noch ohne jede Sicht auf ein „wohin“, also unfähig dazu, mit bekannten Bordmitteln die erforderlichen Schritte zu unternehmen.

Vorgestern erinnerte ich einen seltsamen Traum – der dritte Traum, nachdem ich beschlossen hatte, Träumen wieder Aufmerksamkeit zu schenken (erst dann „kommen“ sie wieder…):

Mit einem alten Freund fahre ich irgendwohin, vielleicht nach Süden, in den Urlaub? Ein Propeller-Flugzeug taucht auf, so ein kleines rasantes Ding: Tiefflug über die Autobahn, Looping durch die Luft, dann unter einer Brücke durch, kopfüber (!) mit dem Bauch nach oben durch eine dichte Nebelbank, die jede Sicht versperrt… wow! Es sind zwei Männer, einer davon Araber. Sie landen und wir kommen ins Gespräch: Ich will mal mitfliegen, sie haben nichts dagegen. Doch als ich wirklich eingestiegen bin und die Türen schließen, überkommt mich Angst: Ich will wieder raus, behaupte, mir sei übel geworden (glatte Lüge!). Doch die Männer verweigern mir das Aussteigen schlichtweg, dreckig dabei grinsend, und werfen den Motor an. Worauf Angst, Panik und jede Menge Haß in mir aufsteigen…

Jetzt die für einen Traum erstaunliche Sache: Ich wäge ab, was passieren kann, wenn ich hier herumtobe und meinen Gefühlen freien Lauf lasse – und beschließe, mir das lieber zu schenken. Ich würde ja womöglich unser aller Flugsicherheit gefährden… also schließe ich lieber die Augen, bereit, die Sache möglichst blind auszusitzen. Später dann, sag ich mir noch, wenn ich aus diesem Flugzeug lebendig ausgestiegen sein werde, werde ich mich an diesen Typen rächen!

Dann aufgewacht. Die üblen Gefühle wirkten nicht nach, ich wunderte mich nur über die coole Rationalität, die ich hier gezeigt hatte, noch dazu im Traum!

Der Traum hat mir bisher nichts gesagt, aber wenn ich ihn jetzt so hinschreibe, kommen mir doch spontane Einfälle: Genau diese coole Rationalität, die vermeintlich „zugunsten des Überlebens“ auf Gefühle scheisst, ist meine altbekannte Heimat. die ich nicht verlassen kann, obwohl sie „abgelebt“ ist. Vielleicht, weil ich der Angst, vor allem aber auch dem Haß wieder begegnen könnte. Haß? Ausgerechnet ein Gefühl, von dem ich mich seit mindestens zehn Jahren so angenehm frei fühle…

Da werd‘ ich jetzt aber nicht etwa weiter nachgraben! Weder hab‘ ich Lust auf psychologisierendes Wühlen in der eigenen Psyche, noch glaube ich dran, daß man damit irgend etwas erreicht. Um nämlich zu experimentieren, zu suchen, zu forschen braucht man Hypothesen, man projiziert bereits Gewusstes oder Gewünschtes und Gefürchtetes – und kann dann letztlich nicht mehr sagen, ob das Ergebnis „gefunden“ oder durch das Suchen erst „geschaffen“ ist.

Lieber mach‘ ich mal was Handfestes, zum Beispiel ein Regal im Bad anbringen.

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Claudia am 28. Juli 2001 — Kommentare deaktiviert für Kein Kampf

Kein Kampf

Seit vorgestern bin ich heftig erkältet. Mitten in der größten Hitze ist das eine komische Sache, irgendwie unpassend. Heute fühle ich mich aber auf einmal wohl damit: diese fiebrige Schlaffheit ergibt eine physische Ruhe, die ich allein vom Fühlen und Denken her nur selten und bruchstückhaft zustande bringe, allenfalls mal nach intensivem Yoga oder einem langen Spaziergang. Weiter → (Kein Kampf)

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Claudia am 24. Juli 2001 — Kommentare deaktiviert für Geburtstag

Geburtstag

Gestern hatte ich Geburtstag, wie immer ohne Feier oder besonderes Aufhebens. Ich wüßte gar nicht, was ich da veranstalten sollte, mag sowieso keine Feste und wenn mir jemand gratiuliert – so richtig face to face, mein‘ ich – dann spüre ich Verlegenheit, weiß nicht, was ich sagen soll und komme mir wie ein schlecht programmierter Automat vor.

Mit 18, also ab dem ersten selbstbestimmten Geburtstag, hab‘ ich das alles ersatzlos gestrichen und war einfach unendlich froh, daß mich niemand mehr an den Ohren zieht. Das ist nämlich eine Form des Gratulierens, die in Italien üblich ist, wo ich neun Jahre lang mitten im Familienurlaub zu einem Zwangsfest mit großem Auftrieb verdonnert war. Mein Vater hatte dafür immer Unmengen bayrisches Bier und Würstchen angeliefert, es erschienen bis zu 100 Gäste, mehrere italienische Großfamilien mit unüberschaubarem Anhang – und alle alle alle kamen auf mich zu, überschütteten mich mit ihrem Redeschwall, umarmten mich überschwenglich und zogen mich rituell an beiden Ohren. Nach wenigen Stunden glühten die Ohrläppchen – oh wie gerne wäre ich einfach unsichtbar geworden!

Bin ich ja dann auch, zumindest, was Geburtstage angeht. Dabei hat mich neulich ein guter Freund nochmal nachdenklich gestimmt: Es sei eine Frage der eigenen Wertschätzung, ob und wie man Geburtstage feiert, sich also selber feiert oder eben nicht. Gestern ist mir das dann eingefallen, ich hab‘ mir tatsächlich überlegt: Soll ich ‚was Besonderes machen? Mir richtig ‚was gönnen? Aber wie meistens ist mir nichts eingefallen, ich wollte einfach nur weiter am PC sitzen und am Design einer neuen Website experimentieren.

Das war gerade sehr sehr spannend: Zum ersten Mal nach langer Zeit gelingt mir nämlich ein neuer Stil, eine andere Herangehensweise, eine andere Art, mit Raum, Bild und Farbe umzugehen – und GESTERN war der Durchbruch in diese Richtung! Endlich weicht die Stagnation von mir, die mich lange davon abgehalten hat, meine Ideen und anstehenden Projekte definitiv anzugehen und umzusetzen. Ich war mir selber so unendlich langweilig geworden, wollte mich nicht immer nur wiederholen, so gut das im Einzelfall auch aussehen mag. Jetzt auf einmal geht etwas Anderes und vor mir liegt offene Weite, ein riesiges Spielfeld, auf dem ich das Neue in vielen Gestalten verwirklichen kann. Wie wunderbar! Ist das nicht ein tolles Geburtstagsgeschenk?

With a little help from my friends. Ohne die Inspiration durch andere Webwerker würde ich vermutlich noch lange in der Stagnation gesessen haben: Steffen (digitab.de), Becz (Becz.de) und Mia (Pandora’s Büchse) zeigten mir auf ihren Seiten ganz andere Webwelten – und für Mias Feedback, ihre konkreten Tips und Tricks bin ich ganz besonders dankbar! Nicht zu vergessen Udo, der bereit ist, mit seiner künftigen Homepage das Spielfeld abzugeben, auf dem ich mich in aller Freiheit austoben kann.

Ja, es war ein guter Geburtstag! Zum ansehen gibts erst was, wenn ich weiter bin… Weiter → (Geburtstag)

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Claudia am 20. Juli 2001 — Kommentare deaktiviert für Der Bär tobt

Der Bär tobt

Aus der Nebenwohnung Techno, Trance, Sound pur, das Wummern der Maschine, doch in einer erträglichen Form, das Maschinenhafte in mir wohlig ansprechend. Ich wippe auf dem Stuhl vor und zurück wie ein orthodoxer Jude im Gebet. Fühlt sich satt an, heimelig.

Am Prenzlberg lassen sie gleich die Kuh fliegen, aus vierzig Meter Höhe stürzt der Aktionskünstler Flatz eine tote Kuh vom Hubschrauber in eine Baugrube, wo sie dann – pyrotechnisch angereichert – explodiert, während der Künstler „blutüberströmt“ an einem Kran hängt und lacht. Ich bin nicht dabei, stelle es mir aber bildlich vor – igitt! Eigentlich wollte ich ja heut‘ ausgehen und im Dharmakaya e.V. den Vortrag von Lama Dechen hören: „Nirvana, kann ich wirklich Leid beenden?“ – aber auch gestern schon hab ich’s nicht ins Zeit-Los geschafft, zum „Lachen nach Lachübungen des indischen Arztes Dr.Kataria“. Die Möglichkeit, diese Veranstaltungen aufzusuchen, reicht mir meistens völlig aus, ich muß es nicht wirklich machen.

Gestern an der Tankstelle stand da Wolfgang Thierse, schon recht naß, trat von einem Bein auf’s andere und fand kein Dach gegen den heftigen Platzregen. Spontan grüßte ich ihn, war auf dem Weg zur Toilette, deren Schlüssel man nur zusammen mit einer großen leeren Weichspülerflasche bekommt, eine Vorsichtsmaßnahme gegen das Vergessen. Ich wollte ihm schon anbieten, ihn irgendwohin zu fahren, man kann ja selten ‚was für seine Abgeordneten tun, aber als ich aus der Toilette kam, war er weg.

Berliner Abendschau, natürlich wieder Bankgesellschaft, Sparmaßnahmen, dann Entrüstung über die tot Kuh, deren Flug vom Senat gefördert wird. Eine einstweilige Verfügung, die eine 13-Jährige beantragt hatte, ist abgelehnt: Man muß es sich ja nicht ansehen. Ich finde, Kunst darf provozieren, sofern das noch gelingt, darf auch ein Sakrileg begehen – aber nach den Bergen mit zigtausend brennenden Kühen in England ist die Pyro-Kuh völlig überflüssig, reine Flatz-PR.

In der Küche kann man die Stimmen der Nachbarn hören, ganz nah. Die Worte verschwimmen gottlob, doch die Gefühle kommen an. Erst glaubt man, Zeuge eines Streits zu sein, doch bald wird klar, daß das der ganz normale Umgangston ist. Von oben das schon bekannte Stampfen, da tritt jemand seinen Frust in den Boden, daß die Decke zittert. Wie es den Menschen doch zeitlebens gelingt, andere zu finden, um gemeinsam noch schlechter dran zu sein als allein. Warum gehen sie nicht auseinander, warum spielen sie füreinander so bereitwillig den Fußabtreter?

Von rechts das Rollen der Straßenbahn, beim Bremsen quietscht es ein wenig. Autos rollen suchend umher. Parkplätze sind um diese Zeit eine Seltenheit, besetzt von den Gästen der Simon-Dach-Straße, in der jeden Abend der Bär tobt.

Ich lasse ihn toben. Ohne mich viel aus dem Zimmer zu bewegen, sitze ich mitten im Geschehen, umstellt von Möglichkeiten, umgeben von Ereignissen und fühl‘ mich glücklich. Wie sonderbar. Weiter → (Der Bär tobt)

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Claudia am 15. Juli 2001 — Kommentare deaktiviert für Vom Mangel

Vom Mangel

Markus schrieb mir ins Forum: „Lese mal wieder.. 16.7.99, angekommen, Gottesgabe Tag 2.“ Was will er mir damit sagen? Ich lese selber den Beitrag nochmal, eine fast euphorische Schilderung des Neuen, voller Freude an der Natur, an der Landschaft und der großen Wohnung mit Blick ins Grüne. Ich lese es ohne Wehmut, fühle kein „Heimweh“, erst recht keine Reue, diesen Ort nach zwei Jahren wieder verlassen zu haben. Es ist ausgelebt, war die Verwirklichung eines Traums, an dem ich für den Rest meines Lebens fest gehangen hätte, wäre ich nicht aufs Land gezogen. Es ist gut, dort gewesen zu sein und auch gut, den Absprung rechtzeitig wieder geschafft zu haben, bevor sich das Gefühl des Mangels zu äußeren Katastrophen verdichten konnte. Weiter → (Vom Mangel)

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Claudia am 06. Juli 2001 — Kommentare deaktiviert für Stadtluft macht frei

Stadtluft macht frei

Was sind schon verlorene Papiere? Die Bullin in der Friesenwache versichert mir freundlich, dass ich doch in Deutschland gar keinen Ausweis mit mir führen muß. Und auf dem zentralen Fundbüro wird mir geraten, einfach noch zwei Wochen zu warten, meistens fänden sich verlorene Ausweise wieder ein. Wenn nicht, einfach neu beantragen! Warum also hab‘ ich mich über den verschwundenen Geldbeutel nur so aufgeregt?

Kontrollverlust macht Angst, das ist mir lange klar. Doch Kontrolle ist nur eine Illusion, je mehr ich ihr verfalle, desto stärker irritiert es mich, wenn mal was daneben geht und nicht so läuft, wie ich mir das vorstelle. Jetzt ist der Anfall wieder vorbei. Ganz entspannt korrespondiere ich mit Ämtern und Behörden, bereit, alles zu tun, was sie mir raten. Für alles existiert ein Algorithmus, eine Folge von „Wenn-dann-Vorschriften“, und wenn sich alle friedlich daran halten, gibt es keine Probleme – das ist die Utopie der Stadt, der ganzen technischen Zivilisation.

Als wir eingezogen sind, hat das Umzugsunternehmen rechtzeitig Halteverbotsschilder platziert, damit der Laster dann auch Platz zum Ausladen findet. Natürlich hielten sich die Anwohner nicht daran (schließlich ist das hier ein sozialer Problembezirk), Auto reihte sich an Auto. Kein Problem, signalisierte der türkische Umzugsunternehmer, holte per Handy die Polizei, die ihrerseits ein paar Formulare prüfte und dann den Abschleppdienst verständigte. Das Ganze zog sich ein wenig hin, die Leute in der Straße wurden aufmerksam, Bauarbeiter stiegen von den Gerüsten, Kunden aus dem Getränkeladen gegenüber eilten herbei – und als das „Umsetzen“ begann, stand nur noch ein einziger Wagen im Weg, der dann mit großer technischer Eleganz ein paar Meter weiter abgesetzt wurde. Wow!

Jetzt geht die dritte Woche in Berlin zu Ende. Noch immer geht mir der Lärm nicht auf die Nerven. Daß auch mal nachts um eins der Techno aus der Nachbarwohnung schallt, trifft mich komischerweise nicht. Selbst die Feststellung, daß offensichtlich ein anderer Nachbar nachts seine Frau schlägt, geht mir lange nicht so nahe, wie das auf dem Land, in der Isolation mit wenigen, ganz konkret bekannten Menschen der Fall gewesen wäre. Untätig bleibe ich deshalb nicht, rufe die Frauenbeauftragte im Bezirksamt an und lasse mich beraten, was zu tun ist. Eine Plakataktion in ganz Berlin bewirbt derzeit eine einschlägige Telefonnummer – ich erzähl das nur, weil selbst die Wahrnehmung dieser bekannten sozialen Schrecklichkeiten mir auf einmal ganz anders vorkommt: Immerhin wird es wahrgenommen, immerhin kümmert man sich darum, es gibt Anlaufstellen und Hilfseinrichtungen, es wird darüber gesprochen. Jede „hilflose Person“ wird von der Straße geklaubt, wogegen in Kleinwelzin, draußen in der Mecklenburger Pampa, die Insassen eines Alten- und Pflegeheims gelegentlich halb angezogen bei eisiger Kälte ziemlich weit durch das Land marschieren können, bevor sich jemand findet, der den Flüchtling zurückbringt.

Ich fühle mich zuhause, wie ich mich lange nirgends mehr zuhause fühlte. Es ist sogar körperlich spürbar, denn seit die Stadt mich wieder umgibt, ist ein bestimmter Bereich in der Gegend des Solar Plexus wieder entspannt, dessen Verspannung ich „draußen“ schon gar nicht mehr bemerkt hatte. Das macht wohl die Geborgenheit des Ameisenhaufens, das heimelige Gefühl, in der Metropole für alles und jedes Problem, aber auch für alle Wünsche und Möglichkeiten mit Sicherheit andere Menschen finden zu können. Darunter viele mit „Breitbandbewußtsein“, Leute, die gewohnt sind, flexibel zu denken und zu reagieren und die nicht schon gleich komisch gucken, wenn man mal einen ungewöhnlichen Hut aufsetzt. Stadtluft macht frei, das stimmte schon im Mittelalter und gilt heute erst recht.

Große Städte, in denen es nicht mehr möglich ist, daß jeder jeden kennt, sind virtuelle Gemeinschaften, also Communities der Möglichkeiten: WENN dies oder jenes geschieht, WENN ich dies und das brauche, WENN es mich nach X oder Y verlangt, DANN kann ich es haben, DANN finde ich meine Gegenüber. Ansonsten aber, und das ist verdammt wichtig, werde ich in Ruhe gelassen, jeder läßt den anderen sein, im Guten wie im Schlechten. Man kann also auch ganz ungestört unglücklich, krank, verrückt oder einsam werden, solange man nicht auffällig wird, das Getriebe nicht stört oder sich hilfesuchend bei den „Zuständigen“ meldet, ficht das keinen an. Das ist der Januskopf der Freiheit, die eben ihren Preis hat.

Ein Freund hatte sich kurz vor meinem Gang aufs Land in der Nähe von Belzig in eine genossenschaftliche Siedlung eingekauft. Als wir neulich telefonierten und er von meinem Rückzug erfuhr, meinte er etwas wehmütig: „Tja, als Mieter kann man sich sowas erlauben!“ Es hatte ihn schon kurz nach seinem Einzug gestört, daß er die anderen Siedlungsbewohner dauernd grüßen muß, womöglich noch stehen bleiben und ein paar Worte plaudern, ohne ihnen doch wirklich etwas zu sagen zu haben. Ich weiß jetzt, daß genau das der Punkt ist, der die Stadt „wahrer“ erscheinen läßt: Man hat sich nichts zu sagen, tut es also auch nicht, es gibt keine derartigen Erwartungshaltungen, jedenfalls nicht im Raum physischer Nachbarschaft oder zufälliger körperlicher Nähe. Wogegen die Kultur des Landlebens noch immer von einer Gemeinschaft ausgeht, die lange schon nicht mehr existiert. Die Dörfer da draußen sind voller Rentner, dazu ein paar Pendler. Wo kein Tourismus ist, sagen sich Fuchs und Hase gute Nacht. Es gibt faktisch keine Gemeinsamkeiten, da die gemeinsame ARBEIT des Landes, die Landwirtschaft, durch technische Evolution gesellschaftlich bedeutungslos geworden ist. Die anonyme Stadt ist so gesehen überall, nur daß man ihre Vorteile auf dem Land kaum genießen kann.

„Häuser in Brandenburg sind billig zu haben, jetzt sogar renoviert“, erzählt mir Hans, der Mann, mit dem ich 1979 nach Berlin gezogen bin. Ich wundere mich, schließlich ist doch die Schnäppchenzeit der Nachwendejahre lange vorbei. „Nee“, meint er, „die kommen alle wieder zurück und verkaufen ihre restaurierten Buden. Da sinken halt die Preise.“ Aha! Wieder mal bin ich also mitten im Mainstream… :-) Weiter → (Stadtluft macht frei)

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Claudia am 04. Juli 2001 — Kommentare deaktiviert für Im Papierkram untergehen

Im Papierkram untergehen

Es dauert wohl noch eine Weile, bis ich wieder voll Stadt-kompatibel bin. Gerade rudere ich in den seltsamen Bedingungen und Algorythmen der verwalteten Welt umher und sehe kein Land, ja, es scheint stündlich schlimmer zu werden. Das Chaos, das ich aus der Welt der physischen Gegenstände glaubte verbannt zu haben, hat sich auf die Papier- und Behördenwelt verlegt – und entfaltet sich da zu ungeahnter Größe: Ich kann mich nicht anmelden, weil mein Ausweis mitsamt Geldbörse und weiteren Papieren verloren oder geklaut ist. Das zentrale Fundbüro sagt, ich solle mindestens zwei Wochen mit der Neubeantragung der Papiere warten, mich aber doch möglichst bald in Berlin anmelden. Wie denn, frag ich, wenn doch mein Ausweis weg ist? Weiter → (Im Papierkram untergehen)

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