Unglaublich eintönig verstreichen die Tage, der neblig-trübe Himmel, das kühle Licht des Monitors, tagein tagaus dasselbe. Vormittags ein Besuch bei den Hühnern, Frischfutter verteilen, Scheiße von der Leiter kratzen, sie ein bißchen anstaunen: wie sind sie doch lebendig! Und wie sie mich ansehen – wie das wohl für sie ist?
Heute hat mich ein Traum in ein anderes Dasein katapultiert. Ich weiß nichts, wirklich gar nichts mehr von diesem Traum, außer dass er auf einer ganz anderen Ebene der Lebensenergie spielte: hoch spannend, erotisch, bis hin zu fast religiöser Ekstase. Eine Gefühlserinnerung, sonst nichts.
Ich lese gerade „Dr.Fine“ von Samuel Shem. Es ist die Geschichte eines Psychoanalytikers, der seit seiner Lehranalyse nicht mehr in der Welt, sondern in deren psychoanalytischer Deutung lebt. Es ist zum Schreien komisch, spannend, tragisch, herzergreifend und bildend, also alles, was man heute von einem Unterhaltungsroman wünschen kann. Und es geht – das tun nur ganz wenige – über diese Ebene hinaus, es vermittelt ein „mehr“, ohne dieses mehr zu benennen.
Ich frage mich immer, was es ist, das bei dem einen Autor sofort in die Geschichte hinein zieht, ohne Zögern und Stolpern, ohne „Längen“, aber doch mit genug Stoff, um die Personen lebendig zu machen, so lebendig, dass sie zu Freunden oder Feinden werden und das eigene Leben tendenziell aus dem Bewußtsein verschwindet. Ein geistiges Wunder, das – je älter ich werde – immer seltener geschieht. Und nur dann, wenn der Autor eine für mein Empfinden vollständig flüssige Sprache spricht, funktioniert es.
Update 2019 / Und hier der verdiente Werbelink:
Diarys und Öffentlichkeit
In der CT dieser Woche ist ein Artikel über Webdiarys erschienen, der mal ein bißchen MEHR bringt als das blosse Staunen über den Exhibitionismus der Schreibenden. Die Diary-Szene boomt mittlerweile, Hunderttausende schreiben ihre täglichen Eindrücke auf, manche geben tatsächlich Einblicke in intimste Gedanken und Gefühle, berichten über ihr Liebes- und Sexleben, ihre Ängste und Verrücktheiten. Es hat schon ein bißchen was von „Big Brother für Alphabeten“, keine Frage!
Obwohl ich selber die Ebene des totalen sozialen Outings vermeide, lese ich manches dieser Diarys ganz gern und frage mich gelegentlich, ob das nicht doch ein Übergangsphänomen ist: Wenn die Netzkompetenz der breiten Massen weiter wächst, werden viele das Suchen & Finden lernen und spasseshalber die Namen ihrer Freunde, Kollegen, Bekannten und Verwandten recherchieren. (Man glaubt ja gar nicht, was Google.com alles findet!) Und dann wird es immer öfter passieren, dass jemand mit einem selbstentblößenden Tagebuch morgens von seinem Arbeitskollegen wütend empfangen wird, weil er oder sie sich tags zuvor im Web allzu deutlich über den neuesten Streit ausgelassen hat. Damit nicht zu rechnen, ist nicht Mut, sondern Unwissenheit und Naivität, freundlich ausgedrückt. Selbst wer seine Seiten NICHT in den Suchmaschinen anmeldet, wird früher oder später von Robots verdatet, von anderen gelinkt oder die URL wird auch schon mal ganz unwissentlich von Lesern weiter verbreitet. (In meiner Referenzliste mit den automatisch erfaßten Adressen, WOHER die Leser kommen, fand ich schon manche Website, von deren „Öffentlichkeit“ der Verfasser sicher nichts ahnte.)
In jüngeren Jahren hätte ich vielleicht die Ansicht vertreten, dass totale Offenheit überall und zu jeder Zeit – also auch in der Öffentlichkeit – das anzustrebende Ideal sei. Davon bin ich allerdings weggekommen, denn: Was ich ausspreche, gar aufschreibe und in die weite Netzwelt schicke, gewinnt auch ganz ohne Absicht einen gewissen Ewigkeitswert. Schubladen in fremden Köpfen werden errichtet, die so ohne weiteres nicht mehr wegzukriegen sind – auch wenn das Ereignis, das mich gerade bewegt, meine Leiden und Freuden und meine Gedanken darüber morgen schon wieder ganz anderns aussehen mögen. Auf diese Weise baue ich mit an der eigenen Unfreiheit, mache mich erreichbar und definierbar – doch das bin ich nicht!
Diary-Schreiben ist für mich eher eine Form, Distanz zu mir selbst zu gewinnen. Wenn ich an ganz konkreten Dingen leide, die mit meinen Nächsten zusammen hängen, fühle ich natürlich den Impuls, zu schreiben. Doch gerade die Anforderung, Intimität und Privatheit niemals zu verraten, unterstützt mich dabei, das Konkrete auf eine allgemeinere Ebene zu heben. Es bringt mich weg vom Kreisen im eigenen psychischen Sumpf und damit ist der Hauptzweck schon erreicht.
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