Thema: Schreiben & Bloggen

Claudia am 19. Januar 2001 — 5 Kommentare

Nebel, Traum, Dr.Fine, Webdiarys

Unglaublich eintönig verstreichen die Tage, der neblig-trübe Himmel, das kühle Licht des Monitors, tagein tagaus dasselbe. Vormittags ein Besuch bei den Hühnern, Frischfutter verteilen, Scheiße von der Leiter kratzen, sie ein bißchen anstaunen: wie sind sie doch lebendig! Und wie sie mich ansehen – wie das wohl für sie ist?

Heute hat mich ein Traum in ein anderes Dasein katapultiert. Ich weiß nichts, wirklich gar nichts mehr von diesem Traum, außer dass er auf einer ganz anderen Ebene der Lebensenergie spielte: hoch spannend, erotisch, bis hin zu fast religiöser Ekstase. Eine Gefühlserinnerung, sonst nichts.

Ich lese gerade „Dr.Fine“ von Samuel Shem. Es ist die Geschichte eines Psychoanalytikers, der seit seiner Lehranalyse nicht mehr in der Welt, sondern in deren psychoanalytischer Deutung lebt. Es ist zum Schreien komisch, spannend, tragisch, herzergreifend und bildend, also alles, was man heute von einem Unterhaltungsroman wünschen kann. Und es geht – das tun nur ganz wenige – über diese Ebene hinaus, es vermittelt ein „mehr“, ohne dieses mehr zu benennen.

Ich frage mich immer, was es ist, das bei dem einen Autor sofort in die Geschichte hinein zieht, ohne Zögern und Stolpern, ohne „Längen“, aber doch mit genug Stoff, um die Personen lebendig zu machen, so lebendig, dass sie zu Freunden oder Feinden werden und das eigene Leben tendenziell aus dem Bewußtsein verschwindet. Ein geistiges Wunder, das – je älter ich werde – immer seltener geschieht. Und nur dann, wenn der Autor eine für mein Empfinden vollständig flüssige Sprache spricht, funktioniert es.

Update 2019 / Und hier der verdiente Werbelink:

Dr.Fine bei Amazon

Diarys und Öffentlichkeit

In der CT dieser Woche ist ein Artikel über Webdiarys erschienen, der mal ein bißchen MEHR bringt als das blosse Staunen über den Exhibitionismus der Schreibenden. Die Diary-Szene boomt mittlerweile, Hunderttausende schreiben ihre täglichen Eindrücke auf, manche geben tatsächlich Einblicke in intimste Gedanken und Gefühle, berichten über ihr Liebes- und Sexleben, ihre Ängste und Verrücktheiten. Es hat schon ein bißchen was von „Big Brother für Alphabeten“, keine Frage!

Obwohl ich selber die Ebene des totalen sozialen Outings vermeide, lese ich manches dieser Diarys ganz gern und frage mich gelegentlich, ob das nicht doch ein Übergangsphänomen ist: Wenn die Netzkompetenz der breiten Massen weiter wächst, werden viele das Suchen & Finden lernen und spasseshalber die Namen ihrer Freunde, Kollegen, Bekannten und Verwandten recherchieren. (Man glaubt ja gar nicht, was Google.com alles findet!) Und dann wird es immer öfter passieren, dass jemand mit einem selbstentblößenden Tagebuch morgens von seinem Arbeitskollegen wütend empfangen wird, weil er oder sie sich tags zuvor im Web allzu deutlich über den neuesten Streit ausgelassen hat. Damit nicht zu rechnen, ist nicht Mut, sondern Unwissenheit und Naivität, freundlich ausgedrückt. Selbst wer seine Seiten NICHT in den Suchmaschinen anmeldet, wird früher oder später von Robots verdatet, von anderen gelinkt oder die URL wird auch schon mal ganz unwissentlich von Lesern weiter verbreitet. (In meiner Referenzliste mit den automatisch erfaßten Adressen, WOHER die Leser kommen, fand ich schon manche Website, von deren „Öffentlichkeit“ der Verfasser sicher nichts ahnte.)

In jüngeren Jahren hätte ich vielleicht die Ansicht vertreten, dass totale Offenheit überall und zu jeder Zeit – also auch in der Öffentlichkeit – das anzustrebende Ideal sei. Davon bin ich allerdings weggekommen, denn: Was ich ausspreche, gar aufschreibe und in die weite Netzwelt schicke, gewinnt auch ganz ohne Absicht einen gewissen Ewigkeitswert. Schubladen in fremden Köpfen werden errichtet, die so ohne weiteres nicht mehr wegzukriegen sind – auch wenn das Ereignis, das mich gerade bewegt, meine Leiden und Freuden und meine Gedanken darüber morgen schon wieder ganz anderns aussehen mögen. Auf diese Weise baue ich mit an der eigenen Unfreiheit, mache mich erreichbar und definierbar – doch das bin ich nicht!

Diary-Schreiben ist für mich eher eine Form, Distanz zu mir selbst zu gewinnen. Wenn ich an ganz konkreten Dingen leide, die mit meinen Nächsten zusammen hängen, fühle ich natürlich den Impuls, zu schreiben. Doch gerade die Anforderung, Intimität und Privatheit niemals zu verraten, unterstützt mich dabei, das Konkrete auf eine allgemeinere Ebene zu heben. Es bringt mich weg vom Kreisen im eigenen psychischen Sumpf und damit ist der Hauptzweck schon erreicht.

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Claudia am 15. Januar 2001 — Kommentare deaktiviert für Von Arbeit verschluckt

Von Arbeit verschluckt

Das Esoterik-Thema vom letzten Mal lass ich noch ein bißchen abkühlen bis zur Wiederaufnahme. Es ist schon erstaunlich, wie sehr das die Gemüter erregt, positiv wie negativ! Die zustimmenden Leser schreiben ins Forum (herzlichen Dank!), die Ablehner mailen privat, bis hin zu Hassmails anonymer Idioten! Egal, klick und weg… Weiter → (Von Arbeit verschluckt)

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Claudia am 02. Januar 2001 — Kommentare deaktiviert für Der digitale Irrtum

Der digitale Irrtum

Wer mal Gitarre oder ein anderes Instrument gelernt hat, weiss, dass es schier endloser Wiederholungen bedarf, bis ein Stück „sitzt“, bis es einfach so flutscht und man während des Spielens nicht mehr daran denken muß, wie die Finger bewegt werden müssen. Auch alle handwerklichen Tätigkeiten brauchen diese Lernzeit: Die ersten Tapetenbahnen werden meistens schief oder fallen gleich wieder von der Wand, die erste eigene Lackierung bekommt Risse, das erste Augen-Make-Up verschmiert gnadenlos, anspruchsvollere Künste benötigen gar Jahre der Übung. Ebenso verhält es sich mit dem Tanzen (jenseits des sogenannten „Freistils“) und den unterschiedlichen psychophysischen Übungssystemen wie z.B. Yoga oder Tai Chi: zu Anfang kommt man sich vor wie ein Sack Holz. Weiter → (Der digitale Irrtum)

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Claudia am 23. Dezember 2000 — Kommentare deaktiviert für In der Lücke

In der Lücke

Jetzt ist es also soweit: Die Wintersonnwende ist vorüber, morgen brechen die „12 heiligen Nächte“ an. Der Konsumrausch feiert sein Finale, dann gehen alle nachhause, um die letzten Vorbereitungen zu treffen, das Erstandene zu verpacken, vorzukochen – fast komisch, so ein kollektives Agieren in einer das Individuelle so hoch schätzenden Gesellschaft.

Bei uns hier nichts von alledem. Am zweiten Weihnachtsfeiertag sind wir bei Freunden im Haus eingeladen, ansonsten Stille. Die Wiese, die Büsche und Bäume draußen sind jetzt voller Reif, zweimal am Tag bekommen die Hühner warmes Wasser, weil es so schnell einfriert – ich möchte jetzt nicht Huhn sein! Und doch legen sie immer weiter Eier… Ein Vogelhaus haben wir heute aufgestellt, aber noch halten sich die Vögel zurück.

Wenn ich meinen Eintrag vom 23.12. letzten Jahres lese, merke ich, dass ich heute deutlich weniger besinnlich drauf bin. Lustigerweise war damals ebenfalls Reif, und zwar der einzige im ganzen Jahr! Ist schon komisch, so ein Diary, ich schaue selten alte Einträge an, vielleicht wär‘ das ein Einstig ins jahresendzeitliche Bilanz ziehen.

Was tun in diesen letzten Tagen, ohne ins allgemeine Festgeschehen involviert zu sein? Zu meiner Family nach Wiesbaden fahre ich nicht, denn da tobt Weihnachten echt die Lucy. Und so ist es fast ein wenig abenteuerlich, hier in der Pampa im Nichts zu sitzen, frei geschaufelt von den Pflichten, noch ganz ohne Vorstellung, wie das selbst gewollte Vakuum zu füllen wäre. Ich liebe Lücken im normalen Geschehen, in denen man spürt, dass das Leben nichts Selbstverständliches ist, sondern sehr sehr seltsam.

Jedenfalls hab‘ ich vor, bis Anfang Januar recht viel Diary zu schreiben – in Berlin konnte man nachts in die Kneipe gehen und andere versprengte Weihnachtsflüchter treffen, hier muß ich eben virtuell „nach draußen“ gehen. Webdiarys sind ja dieses Jahr in Mode gekommen, viele schreiben jetzt ein „Weblog“. Ich bin mal gespannt, was davon übrig bleiben wird. Die, in die ich bisher eher zufällig ‚reingelesen habe, wirken auf mich meist irgendwie „äußerlich“, jemand schreibt, was er oder sie so denkt, aber ohne daß man einen wirklichen Eindruck von der Person gewinnen könnte, die da schreibt! Und DAS ist für mich doch der eigentliche Grund, Tagebücher zu lesen, Leute „aus der Entfernung“ kennen zu lernen. Erst wenn ich sie „kenne“, sagt es mir was, wenn sie dieses oder jenes empfehlen oder kritisieren.

Viele, die nonkommerziell im Web publizieren, scheinen ein bißchen gespalten in der eigenen Intention: sich ausdrücken wollen, aber möglichst ohne sich zu zeigen. Dabei halte ich es für immer wichtiger, dass Menschen sich im Netz darstellen. Nicht „zur eitlen Selbstdarstellung“, wie es Carola Heine mutig auf ihre Seiten schrieb, sondern damit wir uns überhaupt noch verstehen können in diesen Zeiten, in denen die Begriffe selber immer bedeutungsloser werden. Ich merke, dass abstraktes Argumentieren auch bezüglich allerwichtigster Themen bei mir nicht mehr ankommt: ich will denjenigen sehen, der die Behauptungen aufstellt und die Argumente bringt. Erst wenn ich insgesamt einen Eindruck habe, ob ich von dieser Person einen Gebrauchtwagen kaufen würde, erst dann lasse ich mich auf Argumente ein.

Durchaus bedenklich, ich weiß. Aber ich MACHE mich nicht, sondern ich werde. Allenfalls kann ich zuschauen und beschreiben, was läuft.

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Claudia am 09. Dezember 2000 — Kommentare deaktiviert für Vom lebendigen Hypertext

Vom lebendigen Hypertext

Danke, danke für die guten Wünsche: Heute ist der dritte Tag der Erkältung, der Tag ihres Verschwindens. Als erste Erkältung seit vielen Jahren ist das sowieso eher eine interessante Erfahrung: diese körperliche Schlaffheit, die volle physische Unfähigkeit zu irgend welchen Anstrengungen bringt mir eine selten verspürte innere Ruhe. Vermutlich funktioniert der psychische Mechanismus nach dem Motto: Wo nichts geht, kann auch nichts verlangt werden, wie schön! Und aus dieser Entlastung heraus konnte ich locker aktiv werden, voller Freude vor dem Monitor sitzen und mein neues KnowHow-Projekt anschieben, dessen erster Artikel (zu Nielsen, siehe Kasten) ja seit gestern zu besichtigen ist.

Meine Motivationskrise, die sich seit Monaten hinzog, ist mit diesem Projekt-Start vorbei: Endlich wieder ein lebendiger Hypertext! Das Diary ist natürlich auch lebendig, doch seine Form ist fest, mit ihr experimentiere ich nicht mehr. Das Erotische des Webdiarys, das praktisch ein Teil meiner Existenz geworden ist, findet auschließlich auf der inhaltlichen Ebene statt: Wie weit zeige ich mich? Ist das, was ich zeige, überhaupt real? Welche Motive stehen hinter diesem Tun? Soll ich dies und jenes wirklich schreiben? Hat es einen Sinn, und wenn nicht, warum findet es trotzdem Leser? Usw. usf. – im Ganzen eine sehr persönliche Angelegenheit, nichts, womit ich irgendwie auf’s real existierende öffentliche Leben einwirken will.

Im jetzt endlich gestarteten Webwriting-Magazin kann ich dagegen das Netz für mich wieder mal ganz neu erfinden: Den in jahrelanger Praxis gemachten Erfahrungen mit dem Publizieren im Internet eine eigene Form geben und diese gleichzeitig auch ausformulieren und begründen. Mit Michael Charlier ist mir dafür der ideale Co-Worker begegnet, er hat erstens Jahrzehnte schreiberisch-journalistische Erfahrung, doch vor allem auch die Geduld, Dinge wirklich auf den Punkt hin auszuformulieren. Quellen angeben, Autoren zitieren, Dinge wirklich von Anfang bis Ende rezipieren und dann nachvollziehbar bewerten, das ist nicht unbedingt das, was mir Spaß macht. Ich setze lieber ein Beispiel, verschaffe ein ERLEBNIS und sage dann: Wenn sie es nicht selber schnallen, dann eben nicht. Insofern ergänzen wir uns aufs Beste und ich bin guter Dinge, dass das Webwriting-Magazin eine unverwechselbare Qualität aufweisen wird, von der auch andere etwas haben.

Lebendige Texte?

Gute Hypertexte haben für mich etwas Utopisches. Schließlich sind es keine fertigen Artefakte, die irgendwo ausgestellt stehen, keine WERKE, in irgendwelchen Speichern und Bibliotheken gehortet, vielleicht gerühmt, oft schnell vergessen. Nein, Hypertexte sind im besten Fall offene STRUKTUREN, Organisations- und Kommunikationsstrukturen für Texte und Menschen. Nehmen wir einen guten Prototyp als Beispiel: Selfhtml [aktualisierte URL, Stefan ist nicht mehr dabei] von Stefan Münz ist nicht nur das Produkt (die 7 Versionen des Hypertextes selbst), sondern ein Teil von Stefan, den er so nach außen gestellt hat, worauf sich andere einfanden, die zur Sache etwas beitrugen. Rund um das Dokument entstand eine weit verstreute Community aus Menschen, die von Stefans ganz spezifischen Art, Wissen weiterzugeben, angerührt sind und diese Art & Weise mit- und weitertragen. (Natürlich gibt es auch jede Menge „blosse Konsumenten“, das ändert aber nichts.)

Es ging und geht dabei nicht nur um HTML, sondern um die Vermittlung der spezifischen Sicht von Stefan auf das Netz: Um den Geist gegenseitiger Hilfe, um Kooperation jenseits kommerzieller Interessen, um Ordnung, und wie man sie im Chaos schaffen kann, um Werte eben, die durch den Hypertext (dessen „Leben“ im Web) nicht etwa zitiert und beschrieben, sondern VERWIRKLICHT werden. Und es ist ja auch eingeschlagen! Dass Einsteiger heute oft lieber zu grauenhaften WYSIWYG-Editoren (Ihre Homepage in zehn Mausklicks) greifen, anstatt selbst HTML zu lernen, liegt einerseits am großen Umfang, den HTML mittlerweile angenommen hat, zum anderen daran, dass sie in einer (fast) ganz kommerzialisierten Umgebung keinen Zugang zur „Energie des Verstehens“ (=Untertitel zu Selfhtml) finden, die ja etwas anderes ist als die Energie des Verkaufens. Es braucht mehr und immer neue Hypertexte, um das immer wieder neu zu vermitteln.

Übrigens hab‘ ich mich gerade mal in den Chat auf Selfhtml-Life eingeklingt. Da heißt es auf einem Laufband: „Frage Dich stets, wer Du bist, bevor du uns fragst, wie das alles mit JavaScript geht….“. Klasse! Da ist er wieder, der philosophische Geist von Selfhtml, den man in einer Lernstruktur zu so etwas Trockenem wie HTML gar nicht erwarten würde.

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Claudia am 27. November 2000 — Kommentare deaktiviert für Geist ist knapper als RAM

Geist ist knapper als RAM

Endlich bin ich ins arbeiten geraten! Es ist schon längere Zeit her, dass ich mal völlig selbstvergessen vor einer entstehenden Webseite sitzen konnte und mich einfach nur um die Harmonie der Optik kümmern: Ist das der richtige Abstand? Hat der Text genug Platz? Wirkt das ganze eher locker und beiläufig selbstverständlich, oder ist alles in eine starre Form gezwängt? Sollte da nicht etwas Rundes auftauchen, wo doch das senkrechte und eckig-quaderhafte technisch bedingt dominiert? ( Und weiter: Wie sieht die Seite auf einem 800x600er Bildschirm aus? Braucht sie irgendwo Bewegung oder lieber nicht? Bloss kein Zappeln in den Augenwinkel, wenn der User wirklich LESEN soll… Weiter → (Geist ist knapper als RAM)

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Claudia am 23. November 2000 — Kommentare deaktiviert für Nachlese zur Gehirnwäsche, Mehltau über dem Web

Nachlese zur Gehirnwäsche, Mehltau über dem Web

Den gestrigen Beitrag Wahrheit oder Gehirnwäsche? hatte ich auch im STERN-Raucherforum gepostet und damit heftigen Wiederspruch geerntet. Dazu muss man wissen, dass dieses Forum ungemein überlaufen ist und extrem schnell durchscrollt – ein Grund, dort allenfalls mal eine URL zu hinterlassen, zum richtigen Gedanken-Austausch ist es viel zu ungemütlich. Umso mehr wundert es mich, wenn dann doch lange „Widerlegungen“ kommen: Warum, um Himmels Willen macht sich da jemand die Mühe, in einem anonymen Rahmen „an Unbekannt“ so ausführlich und voll agressiver Energie zu antworten? Naja, der Schreiber nennt sich immerhin Fumo, das heisst „Rauch“, und das ganze Forum ist ein Raucher- und kein Nichtraucherforum. :-)

Genug davon – für jetzt. Ich kann mir gut vorstellen, wie sehr dieses Thema manchen langweilt, der damit nun mal nichts am Hut hat. Sorry, aber hauptsächlich schreib‘ ich dieses Diary für mich: als Selbstverständigung, zur Ordnung der Gedanken und Gefühle, und als ein Experiment in der Frage „Wer bin ich?“. Wenn ein Text nämlich mal „draussen“ ist, dann verändert er sich auf geheimnisvolle Weise in einen Beitrag zum Thema „Wer will ich sein?“, auch wenn ich darauf wert lege, halbwegs authentisch zu schreiben und nichts definitiv Falsches einfliessen zu lassen. Diese Tatsache immer wieder zu beobachten, ist schon an und für sich lehrreich. Man kann dabei feststellen, wie Texte es doch niemals vermögen, ein Ganzes abzubilden, bzw. wie dieses Ganze sich eiligst ändert und seinem Begräbnis in den Festschreibungen immer wieder davonläuft. (Glücklicherweise behindert mich keinerlei VERPFLICHTUNG gegenüber unbekannten Lesern, explizit „ehrlich“ zu sein. Ihm oder ihr könnte ich ohne den Schimmer eines Schuldgefühls das Blaue vom Himmel herunterschreiben, schliesslich werde ich hier mehr oder weniger in der Sparte „Unterhaltung“ konsumiert. Andrerseits ist das absichtsvoll Simulierte für mich sehr viel langweiliger und anstrengender als das, was „von selber“ kommt – das mach‘ ich also verständlicherweise nur noch gegen Bezahlung.)

Werkstattbericht: Mehltau über dem Web

Tja, so langsam gerate ich doch wieder ins arbeiten, ein Glück! Zwar ist es nicht der große Motivationsschub, die durchgreifende Veränderung, der ganz neue Elan, – sowas kann man wohl nur im Frühling und nicht im November spüren – doch das Gefühl der Lähmung, der absoluten Ablehnung aller Aktivitäten ist vorbei. Und so langsam beginne ich mich wieder für das zu interessieren, was ich vorhabe. Da ist zuvorderst das Webwriting-Magazin, für das jetzt die ersten Artikel in Arbeit sind. Sowohl die Inhalte als auch das Design des Cyberzines entstehen ganz neu, alles, was vor Monaten schon einmal vorlag, wird links liegen gelassen, allerhöchstens ausgeschlachtet. Anders als bei fast allen vorherigen Projekten steht im Moment auch DESIGNERISCH der Inhalt im Vordergrund, der Text, der Sinn. Der erste Artikel wird über den Webguru Nielsen („Designing Web Usability“) gehen und befindet sich damit inmitten der Kontroverse und der Entwicklungen, die auch zu meiner monatelangen Depression bezüglich der Web-Arbeit beigetragen haben.

Es ist mir aus guten Gründen in der letzten Zeit nicht mehr gelungen, ein neues Magazin-Design zu entwickeln, das meinen eigenen Ansprüchen genügt. Wie ich jetzt bei der Arbeit am Artikel bemerke, lag das daran, dass es grundfalsch war, wieder eine neue SCHUBLADE, bzw. ein REGAL für beliebige Texte schaffen zu wollen. Dieses eigentlich öde Bemühen hat bei mir eingesetzt, als ich 1996 mein erstes Frameset für Missing Link baute (weil es soviel Arbeit spart…) und stellt sich heute webweit so dar, dass Programme beliebige Inhalte aus verschiedensten Datenbanken auf Designvorlagen zusammensetzen, die von den Inhalten völlig unabhängig sind. Genau dieses Herangehen zerschlägt die Einheit von Form und Inhalt, die nun einmal das Ideal ist, das im Herzen eines jeden Autors liegt; noch dazu ein Ideal, das sich – wie gute Webdesigner wissen – im Web sogar verwirklichen lässt, wenn man sich die Arbeit macht.

Die „Magazinform“ als Container hat heute eine Standardisierung erfahren, die jeder kennt, weil sie bei jedem zweiten Mausklick erschient: Dreispalter, links und rechts allerlei Navigation und Werbung, in der Mitte kurz angerissen diverse Artikel, drüber Bannerplatz und Erscheinungsdatum, drunter Impressum, Zusatzangebote…. gähn. Ich verspreche nicht, dass das Webwriting-Magazin letztlich ganz anders sein wird, vielleicht ist das ja die „optimale Form“. Doch erlebe ich jetzt immerhin, dass ich auf jeden Fall ganz anders herangehen muss: nämlich beim LayOut des zentralen Contents beginnend, bei der bestmöglichen Präsentation eines einzelnen Artikels, die Erfordernisse des künftigen Magazins nach und nach darum herum wachsen lassend – und immer erst dann, wenn man sie braucht, nicht von vorne herein ein für alle mal.

Denn, das hab‘ ich schmerzhaft gemerkt: man kann sich monatelang damit befassen, einen Magazin-Mantel mit allem SchnickSchnack zu entwickeln, der heute üblich ist, und sich dabei immer weiter vom ursprünglichen Impuls entfernen, warum man dieses Magazin eigentlich wollte: Um bestimmte Inhalte zu kommunizieren, um Angelegenheiten zu verhandeln und Einfluß auszuüben in einem Sinne, den man für richtig und nützlich, für gut und schön hält.

Ich bin praktisch der Hynose erlegen, die der kommerzielle Sektor über das Web gelegt hat wie Mehltau. Es geht da ja nicht mehr um Kommunikation, nicht einmal um die viel beschworenen NÜTZLICHEN Anwendungen – nein, in aller breit angelegten Ödheit geht es nur noch darum, wie man im Web Geld verdienen kann, und zwar so viel, dass es den Kapitalmarkt dauerhaft interessiert. Ein Bekannter mailte mir gestern:

„…Die ganze momentane Stimmung im Web gefällt mir nicht mehr. Zu viel Cash, zu viel Geballer, zu viel Status Quo, zu viel Phrasendrescherei. Das ist nicht mehr das inspirierende Umfeld, in dem ich mal angefangen habe, sondern kommt mir manchmal eher vor wie die Plastikbank an der Bushaltestelle im Gewerbegebiet …“

Richtig, so ist es. Und ich sage trotzdem: Der kommerzielle Sektor irrt! Der Kaufklick mag alles sein, was ihn bewegt, dies gilt aber bei weitem nicht für den Menschen schlechthin. Ich brauch‘ gar nicht die Pose der Cybervisionärin einnehmen, um vorauszusagen, dass auch in zehn Jahren von hundert Mausklicks (bzw. entsprechenden Akten), noch immer 99 KEINE Kaufakte sein werden! Dem Nemax 50 wäre von daher zu wünschen, dass er demnächst die 2000 Punkte wieder sieht. Vielleicht würde dann allgemein soviel Ernüchterung einsetzen, dass im Web wieder Inhalte erscheinen, die auch von jemandem GEMEINT sind – und nicht nur als Pausenfüller da stehen, weil ja nicht jeder Klick ein Kaufklick sein kann….

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