Thema: Lebenskunst, Philosophisches

Reflexionen über Wesentliches

Claudia am 28. September 2005 — Kommentare deaktiviert für Nichts bleibt, wie es war

Nichts bleibt, wie es war

Über den Umgang mit Veränderungen und Verlusten

Noch stehen die Pyramiden. Immer wieder staune ich über diesen Ausdruck des Willens eines ganzen Volkes, der Vergänglichkeit etwas Dauerhaftes entgegen zu setzen. Der Todeskult, die extreme Orientierung auf ein jenseitiges Weiterleben, das mittels bestimmter Methoden und Techniken erreichbar schien, erscheint wie das erste große Aufbäumen der Menschen gegen die Vergänglichkeit: der erwachte Verstand kann sein eigenes Ende nicht fassen und tritt „mit allen Mitteln“ dagegen an! Faszinierend und tragisch zugleich.

„Und alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit“ – also sprach Nietzsche und trifft damit eine Wahrheit, die jeder in sich spüren kann: wir wollen alles, was wir „haben“, festhalten: geliebte Menschen, mühsam erworbenen Besitz, einmal erreichten Status, Gesundheit, Jugendlichkeit, Bequemlichkeit, glatte Haut. Wachsen und Werden wird verstanden als Macht und Besitzstand mehren, und die Bewegung, die Anstrengung, die das mit sich bringt, lenkt die Aufmerksamkeit vom Vergehen und Verlieren, vom unaufhaltsamen Verschwinden aller Dinge eine Zeit lang ab. Manche Menschen setzen sich ins Auto, wenn sie sich mies fühlen, und fahren einfach ohne Ziel herum: die bloße physische FORT-Bewegung verbessert das Befinden, die Situation am Steuer gibt ein Gefühl von Macht und Einfluss, das Umschlossensein von einer guten Tonne Blech und Plastik vermittelt Sicherheit. Es geht voran, und wo es voran geht, winken Gewinne, man fährt den drohenden Verlusten, der Leere, dem Sterben einfach davon.

Kann man sich mit dem Verschwinden, mit Verlusten aller Art anfreunden? Als Kind wurde ich von einer übermächtigen Kinderbande oft gezwungen, an sportlichen Wettläufen teilzunehmen, die mir extrem verhasst waren. Ich war die kleinste, jüngste und schwächste im Club, noch dazu eine „Zugezogene“, deren Mundart vom Hessischen abwich. Es strengte mich über alle Maßen an, dreimal um den Hof und dann hechelnd dem Ziel entgegen zu rennen, und so kam ich eines Tages auf die verzweifelte Idee, jedes Streben einfach aufzugeben. Von einem Augenblick zum anderen hörte ich auf, noch irgendwie einen engagierten Eindruck machen zu wollen, um mir wenigstens minimalen Respekt meiner Mitkinder zu erhalten. Ich ließ mich auf halber Strecke auf den Kiesweg fallen, schürfte mir die Knie blutig, schied so aus dem Rennen und hatte meine Ruhe.

Voraussetzung dieser allzu selbstverletzenden Art, den Notausgang zu nehmen, war mein Erfahrungswissen, dass ich sowieso keine Chance hatte, zu gewinnen oder auch nur einen Platz im Mittelfeld zu erreichen. Wie immer, würde ich die Letzte sein, auch wenn ich mich noch so sehr bemühte. Warum also nicht GLEICH aussteigen aus dem Rattenrennen?

Scheitern, versagen, nicht genügen, verspottet und verlacht werden – diese Erfahrung beherrschte meine Kinderjahre. Es gab für mich auch keinen sicheren Flucht- oder Rückzugsort, denn zuhause terrorisierte mich mein oft alkoholisierter Vater, und meine Mutter konnte mich zwar vordergründig trösten, mich aber nicht wirklich beschützen.
So blieb mir nur übrig, in mir selbst mit alledem einen Umgang zu finden, der mich weiter leben ließ. Das „aufgeben und loslassen“ war eine der Methoden, die ich fand.

Gar nicht erst kämpfen, das verbraucht nur nutzlos Energie und macht nichts besser – als EINZIGES Konzept für ein ganzes Leben ist das nicht unbedingt hilfreich und ich bin froh, dass sich meine Lage mit der Einschulung veränderte: Lesen und Schreiben beherrschte ich gut und bekam dafür auch Anerkennung. Plötzlich bekam Anstrengung und Bemühen einen Sinn, aber das ist eine andere Geschichte.

Nichts zu verlieren

Das, was ich in den „schrecklichen Jahren“ mit der Kinderbande lernte, nämlich das Leben am (gefühlten) sozialen Nullpunkt, umgeben von Feinden oder falschen Freunden, die jederzeit und auf gänzlich unberechenbare Weise zu Angreifern werden konnten, war „trotz allem“ nicht etwa nutzlos. Alles, was später kam, war dann nämlich vergleichsweise leicht zu bestehen: die Kämpfe und Irritationen der Pubertät, das Leben in den Peer-Groups als Jugendliche, die heftigen Auseinandersetzungen in fast symbiotischen Zweierbeziehungen, schließlich die politischen Aktivitäten, der kreative Kampf um die Teilhabe an der Macht, die „wir“ nicht den Parteien und etablierten Institutionen überlassen wollten.

Auf all diesen Ebenen war ich erfolgreich, nicht zuletzt deshalb, weil ich „innerlich radikal“ sein konnte: die Möglichkeit, die eigenen Errungenschaften, Ansprüche und Wünsche von einem Augenblick zum anderen vollständig loszulassen, gab meinen Aktivitäten eine gewisse Leichtigkeit, einen Aspekt des „Spielerischen“, der große Dynamik und das Eingehen von Risiken ermöglichte. Ohne lange darüber nachzudenken, opponierte ich auch gerne gegen Versuche, für alle Probleme oder Gestaltungsaufgaben ENDLÖSUNGN zu finden. Von der Verkehrsberuhigung über die Brunnenplatzgestaltung bis hin zur halbjährlichen Renovierung einer Kneipe, die ich mit einem Freund betrieb: immer suchten alle nach Lösungen „für immer“, ohne sich bewusst zu fragen, ob das denn so sein muss, ob „für immer“ überhaupt zu haben ist! Aber egal, es musste ein Aufwand getrieben werden, als ginge es um Ewigkeit – und oft genug verhinderte gerade dieser unbewusste Perfektionsanspruch, dass überhaupt etwas zustande kam.

Alles verändert sich

Wo es um Menschen geht und nicht um Dinge, ist festhalten und besitzen wollen nicht nur kontraproduktiv, sondern geradezu Gift für Freundschaft und Liebe. Projekte, Geschäfte und das große Abenteuer des Kinderaufziehens brauchen Verbindlichkeit und Stabilität, ohne Frage. Das meine ich hier auch nicht, sondern das Sehnen danach, dass der Andere morgen und nächste Woche ganz genauso sein möge, wie er gestern war, als man miteinander Schönes erlebte. Wer sich selbst beobachtet, stellt fest, dass es so etwas wie ein gleich bleibendes Ich gar nicht gibt. Da ist ein ständiger Fluss der Veränderung, Gedanken, Gefühle, Empfindungen kommen und gehen, Prioritäten verändern sich, sogar ganze Weltbilder bröckeln mal locker weg, wenn sich die Umstände drastisch ändern. Wer kann wissen, was und WER er morgen sein wird? Möchte ich bleiben, was ich heute bin? Wünsche ich mir Freunde und Geliebte, die mich so konservieren wollen? Gewiss nicht! Lieber werde ich verlassen, als dass ich so bleibe, wie X mich gerne hätte, das steht ja nicht einmal in meiner eigenen Macht! Ich könnte nur „so tun als ob“ und ihm ein Schauspiel bieten, anstatt mich zu geben, wie ich gerade bin, und so etwas mache ich nicht umsonst. Da bedarf es einer ordentlichen Gegenleistung – und schon sind wir im Reich der (Beziehungs-)Geschäfte und nicht mehr im Raum der Liebe!

Ist nicht gerade die Veränderung, das Unberechenbare, das unerforschliche Werden und Sich-Verwandeln das Spannende im Leben, das Wunderbare am Mitmenschen??

„Genießen war noch nie ein leichtes Spiel“ sang Constantin Wecker und meint damit die Tatsache, dass „mehr vom selben“ nicht zu mehr Genuss, sondern zum Gegenteil führt: zu Überdruss und Langeweile. Unser Gehirn ist nicht dafür ausgelegt, Gleichförmigkeit lange zu ertragen: egal ob Freude oder Leiden, nach einiger Zeit verändert sich das Erleben, tendiert wieder auf die andere Seite der Bandbreite zwischen dunkel und hell, schrecklich und schön, Glück und Verzweiflung, Lust und Schmerz.

Alles, was gewonnen wird, wird auch wieder verloren. Sich darin zu erschöpfen, dem entgegen zu treten und alle Energien dafür einzusetzen, Verluste zu vermeiden, bedeutet, die Lebenszeit mit sinnlosen Anstrengungen zu vergeuden. Ein besonders krasser Schub in dieser Richtung findet gerade auf dem Gebiet körperlicher Attraktivität und Fitness statt. Unternehmen sortieren Mitarbeiter aus, die optisch nicht mehr in ihre Läden mit den vielen schönen Dingen passen, Nachrichtensprecherinnen haben durchweg faltenlose, jugendliche Glattgesichter, was beim Verkünden von Katastrophen und anderen Übeln der Welt oft ein wenig grotesk wirkt. Das Schneiden, Spritzen, Auffüllen und Absaugen junger und alter Körper boomt, man hat glatt, jung und schön auszusehen, am besten noch mit 70!

Was aber, wenn so ein Mensch dann bemerkt, dass all die ständigen Anstrengungen letztlich nichts fruchten? Dass der Verfall unaufhaltsam und das Ende unvermeidlich ist? Geht es ihm dann nicht 1000mal schlechter als dem, der sich mit jedem Stadium des Alterns innerlich auseinandergesetzt und damit angefreundet hat?

Ich war betroffen und wenig amüsiert, als ich vor einem guten halben Jahr merkte, dass mein Gesicht einen neuen „Faltigkeitsgrad“ aufweist: weniger straff, eine unübersehbare Tendenz zu Hängebacken, nicht mehr verschwindende feine Falten über den Lippen (=vom Rauchen!), an den Seiten des Kinns und um die Augen sowieso – ihhh, wie hässlich! Und das soll jetzt so bleiben??? Gar schlimmer werden? Ich zog mir mittels Druck auf die Schläfen mal eben das ganze Gesicht nach oben und hinten: SO würde es aussehen, wenn ich mich liften ließe – glatt fünf Jahre jünger! Würde ich das wollen, mal angenommen, die OP wäre kostenlos und ungefährlich? Ich probierte ein bisschen Mimik aus und schon verschwand der positive Eindruck. Mein Gesicht bekam etwas deutlich Maskenhaftes, das mir trotz der Glattheit gar nicht gefiel. Das war nicht ICH, sondern eine Karikatur!

In der nächsten Zeit schaute ich öfter aufmerksam in den Spiegel, fühlte die Traurigkeit, die der Verlust an jugendlicher Straffheit auslöste – bis ich die Sache dann doch wieder vergaß. Ein paar Monate später probierte ich in einem Laden ein attraktives, paillettenbesetztes Top an, ich sah mich lachen, sah die Falten, die eine Art Sternenkranz um die Augen bildeten – und gefiel mir sehr gut! Worüber hatte ich mich eigentlich gesorgt? Warum hatte ich mich bloß so hässlich gefunden? Ich konnte das, was mich so verstört hatte, im Spiegel nicht mehr finden, obwohl alle damals neu bemerkten Veränderungen nach wie vor da waren. Doch jetzt gehörten sie zu mir, ich hatte mich an sie gewöhnt, sie in mein „Bild von mir“ aufgenommen, das nun nicht mehr von der Realität, die ich im Spiegel erblickte, abwich. Und damit hatten sie ihren Schrecken verloren.

Ob das so weiter geht, werde ich sehen. Gerade rede ich mir gut zu, mal wieder eine aktive
Phase im Fitness-Center einzulegen, wo ich seit Monaten nur Karteileiche bin. Ein bisschen Sporteln für mehr Kraft und körperliche Ausdauer ist nicht schon deshalb falsch, weil ich ja doch eines Tages sterben werde. Auch mit dem Hinnehmen des Unausweichlichen kann man es übertreiben!

Dieser Artikel wäre vielleicht nur eine Idee geblieben, hätte ihn nicht ein Diary-Leser unterstützt! 1000 Dank! Ich habe die mir so geschenkte „Schreibzeit“ sehr genossen!

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Claudia am 27. September 2005 — Kommentare deaktiviert für Familie verpasst

Familie verpasst

Eine kleine Meditation über Kinderlosigkeit

Seine drei Kinder sind jetzt sieben, elf und 18. Bernd – fast genauso alt wie ich – erzählt beiläufig, dass sie die große, zusammengelegte Altbauwohnung nun auf dem Papier wieder trennen werden, damit die Älteste als Haushaltsvorstand einer eigenen Bleibe Hartz4 beantragen kann. Sein Einkommen reicht nicht mehr für alle, die gut bezahlten Manager-Jobs sind Vergangenheit, das Angesparte ist lange aufgebraucht. Für sich alleine zu sorgen, wäre trotzdem kein Problem, sagt er, aber eine fünfköpfige Familie braucht mehr, viel mehr.

Ich bewundere Bernd. Niemals jammert er über seine „familiären Lasten“, nicht einmal unterschwellig. Ein bisschen mehr staatliche Unterstützung könnte sein, das ja, aber ansonsten sind ihm seine Kinder trotz gelegentlicher Schwierigkeiten eine frei gewählte, ungebrochene Freude. Voller Energie und meist bei bester Laune arbeitet er täglich zehn Stunden und mehr an seiner neuen Freiberuflerexistenz. Was er von seinen Kids erzählt, zeigt, dass er nicht etwa der immer abwesende Vater ist, der sich um nichts kümmert und die ganze Erziehungsarbeit seiner Frau überlässt. Wie schafft er das bloß alles – und über so viele Jahre?

Familie – nein danke!

Das hätte ich auch haben können, denk‘ ich mir manchmal. Bernds Frau ist mir vom Typ her ähnlich, sie ist auch tatsächlich „die Frau nach mir“, die Frau, die er geheiratet hat, nachdem sich unsere Wege vor 23 Jahren trennten. Ich wurde Hausbesetzerin, Mieteraktivistin, grün-alternative Polit-Funktionärin, er machte Karriere und gründete Familie.

Dass ich nicht seine Frau und Mutter dreier Kinder geworden bin, war nicht zufälliges Schicksal. Auch der „Mann nach Bernd“, ein cholerischer Individualist, dem ich weder Kinderwunsch noch Vater-Qualitäten zugetraut hätte, zeugte später noch einen Sohn – und ebenfalls mit einer Frau, die mir nicht ganz unähnlich war. Es lag allein an mir: ich wollte nicht heiraten und gebunden sein, wollte keine Kinder, die meinen Bewegungsspielraum einengen würden. Allein schon der Gedanke, schwanger zu sein, konnte mich in Panik versetzen, doch wurde ich tatsächlich niemals schwanger, trotz lebenslänglich nachlässiger Verhütungspraxis.

Warum war ich so? Der Zeitgeist der 70ger und 80ger Jahre ließ mich glauben, meine Verweigerung sei „ganz normal“, ja, angesagt und revolutionär. Nina Hagen schrie laut und vorwurfsvoll heraus, was viele dachten:

Warum soll ich meine Pflicht als Frau erfüllen?
Für wen? Für die? Für dich? Für mich?
Ich hab‘ keine Lust, meine Pflicht zu erfüllen!
Für dich nich‘, für mich nich‘, ich hab‘ keine Pflicht!
….
Marlene hatte andere Pläne.

Simone Beauvoir sagt, Gott bewahr‘!
Und vor den ersten Kinderschreien
muss ich mich erstmal selbst befreien.

Als sie später die Geburt ihrer ersten Tochter Cosima Shiva lustvoll zelebrierte, merkte ich einmal mehr, dass ich dabei war, etwas zu verpassen. Selbstbefreiung ist kein Konzept, das für ein ganzes Leben vorhält, sie bleibt ohne Sinn, wenn nichts dabei heraus kommt. Und Mitte dreißig stand ich inmitten meines ganz persönlichen „Nichts“: eine tiefe Krise zerbröselte meinen ersten Lebensentwurf, den man mit den Worten „aktiv dagegen sein“ hätte beschreiben können. Ich hatte geglaubt, die Welt sehr schnell zum Besseren verändern zu können und mich im Kampf an vielen Fronten zerschlissen. Nun war ich am Ende meiner Kräfte angekommen und musste loslassen, musste mich – nach einer Phase der dringend nötigen Erholung – völlig neu erfinden.

Die neue Sicht der Dinge

Der vorwurfsvolle Tunnelblick ausschließlich auf Missstände ist damals für immer von mir gewichen – unter anderem erkannte ich endlich, dass das Argument, keine Kinder in DIESE BÖSE WELT setzen zu wollen, niemals ehrlich gemeint war. Es ging nicht um die Kinder, sondern immer nur um mich, mein Wohlbefinden, meine persönliche Freiheit, meine Angst vor Bindung und Verantwortung. Dass ich so geworden war, lag auch nicht allein am Zeitgeist, sondern vor allem an ganz persönlichen Familienerfahrungen: die zerrüttete Ehe meiner Eltern, der cholerische und unberechenbare Vater mit seinem Quartalsalkoholismus, die Atmosphäre von Angst und Bedrückung, Einengung und Terror, die meine Kinder- und Jugendjahre überschattete, hatten mir den Gedanken an Familie von Anfang an in schwärzesten Farben gemalt: DAS wollte ich keinesfalls so oder ähnlich noch einmal erleben!

In den folgenden Jahren erfuhr ich einen inneren Frieden wie niemals zuvor. Ich schloss Freundschaft mit mir selbst und mit dem ehemals so verhassten Vater, verzieh ihm alle seine Schandtaten, da ich mittlerweile meine eigenen Abgründe ausreichend kennen gelernt hatte. Einen Rückweg in eine „Normalbiographie“ konnte es für mich jedoch nicht mehr geben: was gewesen war, hatte mich geformt, zu dem gemacht, was ich geworden war – und da ich mich auf einmal jenseits aller inneren Sklaventreiberei („du solltest…“) ohne Urteile sehen und schätzen konnte, nahm ich diese Form dankbar an. Meine Eltern haben getan, was sie konnten, und was dabei heraus gekommen ist, ist gar nicht mal schlecht! Ende der Kritik, Ende der Vorwürfe, Ende der Schuld-Debatten – ich war, spät aber doch noch, erwachsen geworden.

Mein Blick auf Kinder hat sich seitdem deutlich verändert. Ich bewundere den Mut und die Kraft, die Eltern aufbringen und ich sehe auch ihre Freuden, wo ich früher nur ihre Leiden und Beschränkungen erkennen konnte. Den neuen, noch etwas bemüht kinderfreundlicheren Zeitgeist unterstütze ich, wo ich kann – und bin damit einverstanden, als Kinderlose mehr Steuern und andere Abgaben zu bezahlen.

Wunderbare Wesen!

In Gottesgabe, dem kleinen Dorf in Mecklenburg, wo ich zwei Jahre lebte, hatte ich das Glück, neben einem dreijährigen Kind zu wohnen, das meinen Lebensgefährten oft besuchte. Zwar war ich für das kleine Mädchen die böse Hexe, die in ihren Augen um die Aufmerksamkeit ihres Freundes konkurrierte, doch für mich war es eine wundervolle Erfahrung, überhaupt mal ein Kind aus der Nähe zu erleben! Will man „etwas davon haben“ muss man selbst ein Stück weit wieder Kind werden – eine interessante, lustvolle und in mancher Hinsicht lehrreiche Erfahrung, die einen eigenen Artikel wert wäre. Es entzückte, erstaunte und erheiterte mich, mit welch selbstverständlicher Dominanz sie meinen Partner zu beherrschen suchte, wie unverstellt sie ihre Bedürfnisse klar machte und wie heftig ihre emotionalen Reaktionen wurden, wenn etwas nicht nach ihrem Kopf ging. Das war noch echtes, natürliches Leben, nicht das verdruckste, gehemmte und berechnende Verhalten, das für zivilisierte Erwachsene so typisch ist! Auch die Art, wie sie die Welt wahrnahm, bewunderte ich: hoch konzentriert, total wach – dafür muss unsereiner einen einwöchigen Meditationsretreat einlegen, um auch nur annähernd diese Präsenz zu erreichen. Ich verstand plötzlich, was Kinder ihren Eltern geben können, wenn sie dafür offen sind.

Einen echten Kinderwunsch aus einer Liebesbeziehung heraus hatte ich selbst niemals verspürt, und auch jetzt stellte er sich nicht im nachhinein ein, etwa in Form des Bedauerns, etwas sehr Schönes im Leben versäumt zu haben. Meine neue Liebe zu Kindern geht eher einher mit einem verstärkten Gefühl der Dringlichkeit, in diesem Leben mehr zu tun als nur das persönliche Befinden im Bereich des Gemütlichen zu halten. Ich möchte nützlich sein, meine innere und äußere Freiheit und Ungebundenheit, die wesentlich auf Kinderlosigkeit aufgebaut ist, soll auf irgend eine Art und Weise auch Eltern, Kindern und jungen Menschen nützen. Es macht mich glücklich, dass das Internet Kontakte ermöglicht, die im physischen Nahraum, wo die Generationen hübsch getrennt leben, niemals zustande kämen. Meine philosophische Ader und meine angesammelte Lebensweisheit kann ich so gelegentlich jungen Menschen zur Verfügung stellen, die Rat und Orientierung suchen. Das entsteht ganz beiläufig, weil man zu Beginn eines Gesprächs selten vom Alter des Gegenübers weiß, und ist weit authentischer und ehrlicher, als wenn es ein hierarchisches Verhältnis (wie zu Verwandten, Lehrern, Autoritäten…) gäbe. Trotz des Altersunterschieds ist es ein echter Austausch, ein Geben und Nehmen, kein „Rat schlagen“ von oben herab.

Über den Tod hinaus

Vorgestern war ich im Kino und schaute mir den Film „Broken Flowers“ an. Ein alternder Mann, dem gerade wieder eine Frau weglief, die mehr wollte als eine Affäre, erhält einen rosafarbenen Brief ohne Absender und Unterschrift. Darin wird ihm mitgeteilt wird, dass er einen Sohn hat, der jetzt 19 Jahre alt ist und sich vielleicht gerade auf der Suche nach seinem Vater befindet. Im minimalistischen Stil Jim Jarmuschs, der an Aki Kaurismäki erinnert, wird gezeigt, wie der Protagonist, der ansonsten recht desinteressiert aufs eigene, irgendwie bedeutungslose Leben schaut, auf einmal Jungs um die zwanzig ins Auge fasst: das könnte SEIN SOHN sein! Man ahnt, wie es ihn bewegt, obwohl sich seine Mimik kaum verändert.

Es gibt eine Art Kinderwunsch, die ich die männliche nenne, denn sie hat nichts mit der Lebensqualität zu tun, die Kinder ihren Eltern ermöglichen, nichts mit Alltag, Beziehung, Familie, Sicherheit und Nähe. Vielleicht kann ich sie deshalb mitempfinden, weil ich das Bedauern, all das verpasst zu haben, nicht spüre. Wohl aber überkommt mich, selten aber doch, eine gewisse Wehmut, dass meine Gene nicht weiter getragen werden: dass kein neuer Mensch, der die Hälfte seiner Potenziale von MIR mitbekommen hat, meinen Tod überleben und sich vielleicht in alle Zukunft fortpflanzen wird.

So fühlt man erst, wenn man das Ergebnis der eigenen Gen-Ausstattung anzunehmen und zu lieben gelernt hat – für mich war das leider zu spät. Ich tröste mich damit, dass immerhin meine Schwester drei wunderbare Kinder zur Welt gebracht hat, ein bisschen Klinger lebt weiter, ganz physisch. Was mich angeht, muss ich mich halt weiter bemühen, gute Texte zu schreiben, möglichst bis zuletzt, solange ich noch eine Maus bedienen kann. Vielleicht sind ja einige darunter, die mich überleben. Ich arbeite dran.

Dieser Artikel wäre nie geschrieben worden, hätte ihn nicht ein Diary-Leser unterstützt und sein Wunschthema „verpasste Familienplanung“ vorgegeben. Zunächst zweifelte ich, ob das so funktionieren kann, jetzt freue ich mich, mich diesem „Schreibimpuls“ ausgesetzt zu haben! Herzlichen Dank, es hat mich wirklich inspiriert!

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Claudia am 16. August 2005 — Kommentare deaktiviert für Und nochmal: Angst vorm Fliegen II

Und nochmal: Angst vorm Fliegen II

Ein paar Gedanken über Tod, Zeit und die Kunst, zu sterben

Seit meinem Artikel über die „Angst vorm Fliegen“ sind drei Maschinen abgestürzt, bzw. über die Landebahn hinaus geschossen und in Flammen aufgegangen. Letzteres lief erstaunlich glimpflich ab, alle Passagiere konnten rechtzeitig evakuiert werden. Dafür zeigt die neuerliche Katastrophe eines Billigfliegers, dass es noch weit Schlimmeres gibt, als „einfach abstürzen“ – nämlich eineinhalb Stunden mit dem Autopiloten weiter fliegen bis der Sprit alle ist und DANN abstürzen. Die Leute konnten noch SMS versenden – es graust mich, wenn ich es mir vorstelle!

Als ich vor ca. zwanzig Jahren das zweite Mal im Leben in ein Flugzeug stieg, um nach einer anstrengenden Arbeitsphase vier Wochen Tunesien zu genießen, war ich mit mir halbwegs im Reinen: ich WOLLTE diesen Urlaub, hatte genug Geld, um ihn selbst zu organisieren, nach mehreren Jahren ohne jegliches Interesse an „Urlaub“ stand mir der Sinn nach einem Abenteuer. Der Flugangst sah ich tapfer ins kalte Auge, lernte, dass der von der Stewardess angebotene Wodka durchaus helfen kann, und war dennoch überglücklich, in Tunis dann endlich wieder Boden unter den Füßen zu haben.

Doch auf diesem heimatfernen Boden empfingen uns wenig freundliche, martialisch auftretende Polizeikräfte: mein Begleiter hatte vergessen, seinen Pass zu verlängern, wir waren keine Pauschalurlauber mit fest gebuchtem Hotel, also steckte man uns „postwendend“ wieder in dieselbe Maschine und schickte uns zurück, anstatt uns in der Botschaft den Pass verlängern zu lassen.

Jetzt war ich NICHT mehr mit mir im Reinen: für vier Wochen Abenteuer war mir das Risiko als Preis nicht zu hoch gewesen – jetzt aber flog ich gegen meinen Willen. Würde ich JETZT abstürzen, wäre ich nicht „selber schuld“, sondern wäre Opfer der Willkür einer polizeistaatlich agierenden Obrigkeit, der wir suspekt erschienen waren. Seltsamerweise erregte mich das noch weit mehr, als es die Flugangst alleine vermochte. Auf dem Hinflug war ich damit einverstanden gewesen, für vier Wochen Tunesien mein Leben zu riskieren, mich einer dünnen Röhre anzuvertrauen, die mich in zehn Kilometern Höhe durch lebensfeindliche Luftschichten tragen sollte. Ganz bewusst hatte ich meine Lust auf Urlaub ÜBER meine Angst und die Möglichkeit eines Absturzes gestellt – und war mir dabei schon einigermaßen absurd vorgekommen! Wer seine Angst ernst nimmt, sollte vernünftigerweise nur dann fliegen, wenn es unumgänglich ist: wenn zum Beispiel ein Freund oder Verwandter in der Ferne im Sterben liegt, oder ein wichtiges Geschäft, von dem die Arbeit vieler Menschen abhängt, persönliche Anwesenheit erfordert. Und doch war ich aus bloßer Vergnügungssucht eingestiegen – aber immerhin selbst bestimmt!

Die Stewardessen waren sehr verständnisvoll und reichten erneut Wodka, der allerdings meine Flugangst weit weniger gut dämpfen konnte als auf dem Hinflug.

Wenn schon sterben, dann aber selbstbestimmt! Was für ein seltsames Verlangen, wenn man es genau besieht. Es ist allen vertraut, die sich ein „Mittel zum Abtreten“ wünschen, wenn sie an Alter, Krankheit und Tod denken. Wir wollen dem Geschehen nicht hilflos ausgeliefert sein, sondern über einen „Ausschaltknopf“ verfügen – um uns damit dem Tod vorzeitig in die Arme zu werfen, anstatt seinen „Anblick“ zu ertragen.

Dass da kein Tod ist, solange wir leben, und im Tod kein Subjekt mehr existiert, das sich über etwas erregen könnte, ist ein so abstrakter, bloß logischer Gedanke, dass er dem lebendigen Fühlen der Angst nicht wirklich etwas entgegen setzen kann. Ähnlich wirkungslos bleibt für das gewöhnliche Bewusstsein die Weisheit, dass es keine Zeit gibt, sondern allein den Augenblick, das „ewige Jetzt“: Vergangenheit existiert nicht, es gibt nur die Erinnerungen, die JETZT in uns leben. Zukunft ist ebenso wenig real, wir denken sie uns nur, machen uns Sorgen, hegen Wünsche und verfolgen Pläne – alles hier und jetzt, wann denn sonst?

Das sind immer wieder gern vorgetragene „Trostgedanken“ aus spirituellen oder naturwissenschaftlichen Kontexten, doch erscheinen sie mir oft als reine Abwehr gegen das Schreckliche, von dem man nicht hören und nicht lesen will. Lebt denn der, der so spricht, selber leibhaftig „im ewigen Augenblick“, frei von jenem Missbrauch der Fantasie durch den Verstand, der uns gewöhnlich Beschränkten so selbstverständlich ist wie die Luft zum Atmen?

Ja, wir gruseln uns gerne mal, das Kino- und Fernsehprogramm ist eine einzige Seelenmassage, die Erregungszustände vermittelt, denen wir uns in gesicherter Distanz wohlig hingeben – aber am Ende soll die Familie wieder zusammen finden, das Paar muss glücklich werden, der Held triumphieren, oder sein Tod soll bittschön einen Sinn haben, der über das Übel hinaus weist. Alles andere schwächt uns nur im täglichen Kampf ums Fortkommen, wo immer es hingehen mag. Also bitte, lieber Mitmensch: Sorge dich nicht, lebe! (Aber vergiss nicht den regelmäßigen Gesundheits-Check!).

Nach innen fliehen?

Das Erleben der Flugangst hat mir eine Einsicht vermittelt, die nicht durch bloßes Lesen und intellektuelles Verstehen vermittelbar ist, sonst hätte ich sie schon seit Jahrzehnten „intus“. Ich hatte mich immer schon gefragt, warum in den verschiedenen Meditationswegen auf bestimmten Stufen versucht wird, alles Sinnliche vollständig auszuschalten. Ein Bewusstsein ohne Inhalt, ein Schweben im Nichts – was sollte das bringen? In vielen Jahren Yoga und durch das Durchleben einer tiefen Lebenskrise war mir das Vermögen zugefallen, die Welt des Denkens und Sorgens durch Konzentration auf den Atem und die körperlichen Empfindungen auszuschalten – nicht nur „beim Üben“, sondern jederzeit. Dadurch erlangte ich ein – verglichen mit dem früheren Zustand – unglaublich friedvolles Lebensgefühl, von dem aus es eine regelrechte Anstrengung bedeutet, die Welt der Alltagssorgen, des Ehrgeizes und der sozialen Ängste noch „richtig ernst“ zu nehmen.

Auch eine gewisse Arroganz gegenüber den „gewöhnlich Besorgten“ ging damit gelegentlich einher, die ich gar nicht mochte und sorgsam verbarg. Schließlich hatte ich selber lange genug ein „verspanntes Leben“ geführt, es war mir peinlich und entsprach nicht meinem Wertesystem, nun auf Andere herab zu sehen, anstatt liebendes Mitgefühl zu empfinden. Am tibetischen Buddhismus bewunderte ich umso mehr die Methoden, dieses Mitgefühl in der Psyche zu erzeugen und zu stabilisieren, doch war es niemals mein Weg, mich einer Lehre anzuschließen und – über einen sehr diesseitigen Yoga hinaus – „ernsthaft zu praktizieren“. Soviel spirituelles „Streben“ packe ich einfach nicht, dafür bin ich zu faul, zu undiszipliniert, zu genusssüchtig. Es verhält sich damit ähnlich wie mit dem Thema „Ordnung“: nicht, weil mir eine Tradition oder Autorität „Ordnung“ als hohen Wert nahe legt, räume ich mittlerweile meine Wohnung auf, sondern weil ich festgestellt habe, dass ich zu faul bin zum Suchen – und weil mich Chaos von dem ablenkt, womit ich mich gerade beschäftigen will.

Aber zurück zur Sache: Im Flugzeug versuchte ich automatisch, der Angst mit der gewohnten Konzentration auf den Körper zu begegnen – aber das half nur sehr beschränkt. Ich vermied den Blick aus dem Fenster, hielt mir zeitweise Augen und Ohren zu und schaffte es so, die Fluggeräusche weitgehend auszublenden. Ich beobachtete den Atem, der sich ein wenig beruhigte, doch die Angst, die aus dem „Spüren“ kam, konnte ich nicht besiegen. Mein Bauch fühlte das Zittern der Tragflächen, das Ruckeln in den Turbulenzen, da war nichts zu machen. Und so verfiel ich immer wieder den Angstgedanken, sah mich abstürzen, in Panik geraten, aufschlagen und sterben.

Es liegt auf der Hand, dass ein weiterer Schritt „weg von alledem“, eine Praxis der leibfreien Meditation, die auch auf das Spüren des Körpers und Beobachten des Atems verzichten kann, hier äußerst nützlich wäre: Nach innen fliehen, wo die Flucht nach außen unmöglich ist – und nicht nur in einem Flugzeug, sondern auch in der Situation, die mit Sicherheit auf jeden von uns zukommt: Wenn das Ende in Sicht ist und das Leben nichts mehr bietet, das zum Bleiben verleiten könnte.

Dass ich deshalb jetzt zu einer „ordentlich Meditiererin“ werde, bezweifle ich. Dafür fliege ich einfach zu selten. Die Arroganz des „entspannten Bauches“ ist mir aber gründlich vergangen – und das ist ja auch schon was!

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Claudia am 27. Juli 2005 — Kommentare deaktiviert für Angst vorm Fliegen

Angst vorm Fliegen

Jede Angst ist im Grunde eine abgeschwächte und verkleidete Form der Todesangst, die als „letzte Angst“ hinter allen anderen Ängsten steht. In der Angst, beim Mitmenschen nicht anzukommen, nicht genug anerkannt oder geliebt zu werden, fürchten wir die Einsamkeit, den sozialen Tod. Die Angst vor Veränderungen, vor dem Wandel der Lebensumstände und vor dem Verlust gewohnter Sicherheiten bedroht unsere Selbstsicherheit, denn das Selbst, das wir sichern wollen, besteht oft aus nichts als Identifikationen mit dem einen oder anderen Besitzstand: meine Freunde, meine Stadt, meine Wohnung, mein Auto, mein Konto, meine Arbeit – wenn etwas davon wegzufallen droht, ist es, als ob ein „Stück von mir“ stirbt.

Lebensangst

Lange schon lebe ich mein Leben, ohne viel von diesen Ängsten zu spüren. Selbst wenn das Konto mal stark im Minus ist, kann ich Gelassenheit bewahren, gerate nicht in diese gehetzte und bedrückte Stimmung, die mich vor Jahrzehnten bei solchen Gelegenheiten um die innere Ruhe brachte. Da meine Laune nicht vom materiellen Besitz abhängt und es mir nie wichtig war, meinen Lebensstandard ins Luxuriöse zu steigern, hab‘ ich keine großen Verluste zu befürchten – klar, es wäre verdammt nervig, von der Freiberuflerin zur Harz4erin zu werden, doch vor allem wegen der damit verbundenen Bürokratie und der Beschränkung spontanen Handelns, nicht so sehr wegen der Armut selbst, die es bedeutet.

Ich hänge allerdings an meiner Wohnung und am Ort, an dem ich lebe. Das ist mir bewusst und ich rechne damit, zu leiden, sollte ich diese Wohnung mal nicht mehr halten können. Glücklicherweise ist sie relativ preiswert, genau wie die Lebenshaltungskosten in meinem Stadtteil. Also ist „im Prinzip“ im Moment nichts zu fürchten – toi toi toi! :-)

Stress mit dem Mitmenschen?

Mit Menschen hab‘ ich ebenfalls keine tiefer gehenden „Probleme“ mehr. Früher litt ich darunter, wenn jemand nicht so war, wie ich ihn mir erträumte, und fühlte mich ständig verletzt, wenn er meine Erwartungen nicht erfüllte. Doch irgendwann hatte ich es endlich geschnallt: das Glück kommt NICHT vom Anderen, kommt nicht von „außen“, sondern aus einem inneren Ort „Nirgendwo“, über den ich jetzt keine weiteren Worte machen will. Man kennt ihn oder eben nicht, man kann ihn nicht redend und schreibend teilen oder vermitteln. Er ist meine eigentliche „Heimat“, und alle Nähe, alles beglückende Miteinander, alle Verbundenheit mit Freunden und Geliebten zehrt allein von meinem Zugang zu jenem ortlosen Ort, an dem ich NIEMANDEN brauche, sondern bei mir selbst zuhause bin: wenn ich die Stille in mir nicht finde, finde ich nirgendwo sonst Erfüllung, sondern reibe mich nur auf in ewig sehnsüchtiger Suche am falschen Ort, immer wieder neu enttäuscht vom Mitmenschen, der als Glückslieferant zwangsläufig versagen muss.

Im Alltag bin ich deshalb nicht etwa gleichgültig, kann mich immer noch aufregen, ärgern, enttäuscht sein – aber anders als früher sehe ich, dass das automatenhafte psychische Prozesse sind, zum Leben gehörig wie der Schmerz, den ich empfinde, wenn ich mich in den Finger schneide: man sagt „aua!“, aber den Seelenfrieden bringt es nicht wirklich in Gefahr.
Es geschieht, ja, aber in dem Moment, in dem ich es als ganzen Prozess ins Auge fasse, einschließlich all der Bedingungen, die genau diese Realität herstellen, erkenne ich meinen kreativ-schöpferischen Anteil an dem, was mir dann als „Elend“ begegnet: sobald ich Erwartungen hege, mir ein Bild vom Mitmenschen mache, dem er gefälligst zu entsprechen hat, werde ich darunter leiden, wenn er dann anders reagiert, als erwartet. So sicher, wie mich das Messer in den Finger schneidet, wenn ich es in die falsche Richtung lenke.

Ich benutze immer noch Messer und schneide mich gelegentlich – vermutlich ist es meine persönliche Faulheit und Schlaffheit, dass ich mich nicht aufraffe, allerlei vermeidbare Leiden aus meinem Leben zu verbannen. Auch in Bezug auf meine Mitmenschen versuche ich nicht krampfhaft, keine Erwartungen entstehen zu lassen – ich erinnere mich nur, wenn das Leiden dann eintritt, dass ich daran erheblichen Eigenanteil habe. DAS schafft ausreichend innere Distanz zum eigenen Ärger, vergleichbar der zum Schmerz beim Schnitt in den Finger. Für mich reicht das momentan, was den Seelenfrieden angeht. Angst ist keine Begleiterin mehr in meinem Umgang mit Anderen – was will ich mehr?

Todesangst

Wie steht es aber mit der Angst vor dem Tod? Oft negieren Menschen, mit denen ich über sie spreche, dass sie da ist, dass sie hinter allem anderen, was uns bewegt, auch immer DA bleibt, solange wir leben. Schließlich wüssten wir ja alle, dass wir sterben, dass wir nur ein Stäubchen im Kosmos sind, in dem sowieso ständig alles bedroht ist. Morgen kann ein Meteor auf die Erde stürzen und alles ist vorbei. Ein Dachziegel kann mich treffen, die letzte Krankheit ist vielleicht nur noch nicht diagnostiziert, die statistische Lebenserwartung nur geringfügig zu überschreiten – alles lange bekannt! Das habe ein geistiger Mensch mit dem Intellekt durchdrungen, sagt mir ein Freund, und damit sei die Angst transzendiert und nicht mehr virulent.

So? Ich glaube kein Wort davon. Dass wir täglich alle unseren Alltag leben und die vielfältigen Bedrohungen genau wie das unvermeidliche Ende aus dem Bewusstsein ausblenden, ist eine Art nützliches Scheuklappen-Leben, bei dem wir uns alle gegenseitig unterstützen. Zivilisation ist die Lizenz zum Halbschlaf. Und gerade gerät dieser Halbschlaf durch die weltweiten Terror-Anschläge auch hierzulande in Gefahr, was viele dazu bewegt, ihre Urlaube umzubuchen – man möchte abschalten und nicht aufpassen müssen, nicht ständig an Gefahren denken. Das sind mir nicht mehr gewohnt und verteidigen unsere kollektive Illusion der Sicherheit mit vielerlei Mitteln.

Am Rande der Panik

Auf dem Flug nach Venedig bin ich der Todesangst begegnet – und dann wieder auf dem Flug zurück nach Berlin. Es war die dritte Flugreise meines Lebens und jedes Mal hatte ich MEHR Angst als beim Flug zuvor. Eine Angst, wie ich sie sonst nie und nirgends im Leben spürte, eine vom Körper und vom innersten Gemüt ausgehende kreatürliche Angst angesichts der sofortigen Vernichtung, die ein Absturz bedeuten würde. Der Blick aus dem Fenster auf Wolken unter mir oder auf die Erde aus unglaublicher Höhe versetzt mich fast in Panik – FAST, denn ich kann sie durch Konzentration auf den Atem und weitgehendes Ausschalten aller Sinneseindrücke halbwegs kontrollieren. Kontrollieren in dem Sinne, dass ich brav auf dem Sitz bleibe und nicht auffällig werde – aber NICHT etwa wegbekommen! Noch jetzt spüre ich die Reste der starken Kopf- und Nackenverspannung, die ich mir während dieser eineinhalb Stunden eingehandelte, obwohl seither mehr als 36 Stunden verstrichen sind. Diesen Text zu schreiben, lässt es mich erinnernd wieder fühlen – es ist das grauenhafteste Gefühl, das ich kenne. Kein Schmerz, kein persönlicher Verlust, kein Liebeskummer, keine Krankheit kommt auch nur ansatzweise an dieses furchtbare Angstgefühl heran, das mich im Innersten ergreift, wenn ich die Flugbewegungen spüre: das Beschleunigen oder Bremsen, das Ruckeln der Tragflächen in Turbulenzen – oder auch nur der Blick aus dem Fenster, wenn ich nicht zwanghaft in die andere Richtung schaue.

Es ist, als bliebe die Summe der Angst immer gleich. Da ich sie im Lauf eines halben Jahrhunderts aus weiten Teilen meines Lebens ausgeschieden habe, sammelt sie sich eben in der letzten Ecke und zeigt sich da in ganzer Stärke: Siehe, du bist sterblich, da kannst du machen, was du willst! Da rettet dich kein inneres Wachstum, keine Gelassenheit im Umgang mit Menschen und Dingen, keine innere Distanz durch Beobachten – rein gar nichts!

Dem Tod ist man (ja, MAN, nicht nur ich!) unrettbar ausgeliefert, weder Kampf noch Flucht ist mehr möglich. Dass ich DAS kein Stück „transzendiert“ habe, haben mir diese Stunden „über den Wolken“ gezeigt.

Es ist in Ordnung, diese Tatsache per Flugangst erlebt zu haben. Im Grunde wusste ich es immer schon, nur hab‘ ich es nicht GESPÜRT (meine früheren Flüge sind zwanzig und dreißig Jahre her, ich hatte es vergessen, bzw. verdrängt). Unter anderem ist dieses drastische Erlebnis ein Lehrstück über die Machtlosigkeit des Intellekts, der mit seinem Wissen über die statistische Gefährlichkeit bzw. Sicherheit des Fliegens angesichts real gefühlter Todesangst nichts auszurichten vermag – weniger als nichts!

Oder doch?

Ausweichen durch Betäubung und Vermeidung der Wachheit, das ist es, was vermutlich geht. Sollte ich noch einmal in diesem Leben in ein Flugzeug steigen wollen (wozu ich im Moment nicht die geringste Lust verspüre!), werde ich mich mit den Errungenschaften der Pharmaindustrie wappnen: in leicht euphorisierter Gleichgültigkeit dahin schweben, Valium, Prozac, oder was immer das Mittel der Wahl sein mag, in den Adern kreisend – vielleicht ist Fliegen ohne Todesangst SO ja möglich (Tipps dazu sind ausdrücklich erwünscht!).

Ob ich es damit dann riskiere, weiß ich aber noch nicht. Man muss ja nicht unbedingt fliegen, am Boden ist es ausgesprochen schön.

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Claudia am 23. Mai 2005 — Kommentare deaktiviert für Alt werden und darüber sprechen

Alt werden und darüber sprechen

Entgegen der Grammatik wird man in unserer Gesellschaft erst „älter“ und dann „alt“. Und spätestens seit Erreichen des 50. Jahrs kann ich mich nicht mehr hinstellen und sagen: Was geht mich das an? Ich bin SO, wie ich gerade bin, fühle mich im Wechsel der Tagesform und längerer Stimmungszyklen besser oder schlechter, was zum Teufel soll nur dieser Eiertanz ums Lebensalter? Individuell kann ich zwar so empfinden, doch auf einmal ist das eine Anschauung, die ich wie eine exotische Mindermeinung gegenüber einem überwältigenden Mainstream verteidigen müsste – ohne dass ich so genau erkennen könnte, warum eigentlich.

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Claudia am 24. Februar 2005 — Kommentare deaktiviert für Alt werden und Sterben

Alt werden und Sterben

„Du hast nur deshalb Angst vor dem Ersticken, weil du noch nicht mitten drin bist! Sterben ist immer JETZT!“, sagt M. mein Ex-Lebensgefährte. Unser Gespräch nach dem gemütlichen gemeinsamen Abendessen, das ich immer Mittwochs für ihn koche, kreist um Tod und Sterben. Genauer gesagt darum, wie wir es gerne hätten, wenn’s soweit ist. Er möchte am liebsten draußen in der Natur sein, sitzend an einen Baum gelehnt meditieren, bis die Barbiturate wirken. Weiter → (Alt werden und Sterben)

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Claudia am 03. Februar 2005 — Kommentare deaktiviert für Blicke nach drinnen

Blicke nach drinnen

Wenn ich einen Stein ins Wasser werfe, entstehen dort kreisförmige Wellen, die hübsch anzusehen sind. Wenn es windig ist und die Wasseroberfläche nicht gänzlich ruhig, sind sie weniger schön: verzerrt, auseinander gerissen, chaotisch.

Hätte der Stein ein Selbstbewusstsein, würde er vielleicht denken: „Oh, wie großartig! Ich bin ein Genie: so tolle Kreise hat noch keiner hingekriegt!“ Und im andern Fall würde er sich in Selbstvorwürfe stürzen: „Mist, ich kann es nicht, ich bin vollkommen unfähig!“.

Oft geht es mir nicht anders als dem Stein. Ich bin identifiziert mit den Wirkungen meines Tuns oder Lassens und vergesse, dass auch ich geworfen werde. Vielfältige „Ursachen“ bewirken mein Handeln, mein Begehren und Bewerten: Selbst wenn ich lange nachdenke und eine Sache von allen Seiten betrachte, bevor ich mich entschließe, etwas Bestimmtes zu tun, ist die Lage nicht anders. Die, die ich geworden bin, kann nicht anders, sondern eben „nur so“. Das ist dann der „Klinger-Stil“ im Umgang mit dem Leben und üblicherweise ist all dieses Erleben, Abwägen und Handeln mit dem Gefühl eines ICHs verbunden, das Träger all dieser Handlungen ist und sich in diesem Rahmen frei fühlt.

Über dieses Thema ist schon viel philosophiert worden, doch die abstrakte Fragestellung, wie „frei“ der Mensch überhaupt sein kann, interessiert mich nicht mehr so. Mir geht es um die Praxis, das tägliche Leben. Da finde ich mich immer wieder in mehr oder weniger irrationalen Bestrebungen und Tätigkeiten verhaftet: Ich rauche, ich sehne mich nach Arbeit A, wenn ich gerade B verrichten muss, worauf ich mich vorgestern noch richtig freute. Ich klebe vor dem PC, auch wenn der Körper lange schon signalisiert, dass es genug sei. Und ich hänge am regelmäßigen Besuch der Sauna, als sei sie der Garant fürs Seelenheil, obwohl ich doch da nur ein bisschen schwitze.

Wenn es mich nach etwas verlangt, fühle ich mich ganz besonders stark als „Ich“: Ich bin so bescheuert, ab und an Lust auf ein fettes Eisbein mit Sauerkraut zu haben – nun ja, das bin halt ICH! Deshalb, oder wegen all der anderen Verrücktheiten, die MEIN Leben ausmachen, lass ich mir doch von niemandem an den Karren fahren! Ich bin 50 und darf endlich ALLES. Wer sollte mir mit welchem Recht sagen, ich sei auf dem falschen Dampfer? Auf dem falschen Dampfer ganz ich selbst sein ist schließlich immer noch besser, als mich zu verkrampfen und ständig anders sein zu wollen – mit meistens eher weniger als mehr Erfolg.

Ran an den Feind…

Richtig und falsch: Lange Zeit kommen diese Bewertungen von außen, man versucht, sich danach zu richten oder dagegen zu rebellieren. Die Gesellschaft, die Herrschenden, die abendländische Kultur, die Megamaschine – alles böse, wahnsinnig, bekämpfenswert!

Später ist es dann der eigene Verstand, der der Feind zu sein scheint: Was nicht „verstanden werden“ kann, was irrational und unlogisch ist, ist irgendwie nicht in Ordnung. Als Gegenwehr gegen diese allzu beschränkte Sicht beginnt man, gegen den eigenen Verstand anzugehen: Ich bin doch nicht nur Großhirnrinde – der ganze große Rest will auch sein Recht, seine Freude und seine Spielfelder im Leben! Fühlen, Intuitionen, „innere Gewissheiten“ werden auf einmal die wesentlichen Identifikationspunkte: Weil ICH es will, ist es gut so! Niemand muss mich verstehen, auch nicht der eigene Verstand. Freiheit ist, einfach da sein und so sein, wie ich nun mal bin. Wenn ich damit aufhöre, ständig eine Andere sein zu wollen, ist alles gut.

Punkt, Schluss!? Zu Ende philosophiert für dieses Leben? In letzter Zeit bemerke ich das Auftauchen eines neuen Gefühls, das man leicht mit alten, lange überwundenen psychischen Instanzen verwechseln könnte. (Zum Beispiel mit dem inneren Sklaventreiber, der sich stets zu Wort meldet und sagt: Du SOLLTEST ..! ) Und doch ist es ganz anders, nicht vorwurfsvoll, nicht drängend, nicht verurteilend – mehr eine Frage, die gelegentlich auftaucht, wenn ich mal wieder viel Herzblut auf mein „So-Sein“ verwende, wenn ich meine persönliche Freiheit, bzw. das, was ich dafür halte, einfach genieße: Ist das schon alles? Willst du das jetzt bis ans Lebensende so betreiben? Jaaaa, du kannst! Du darfst! Niemand redet dir rein und wenn es jemand tut, lässt du dich nicht beirren. Nun und? WAS fängst du damit an?

Es ist KEIN schlechtes Gewissen, wie man meinen könnte. Sondern eher wie unerfüllte Liebe – die ganz große Liebe, die sich niemals mittels eines konkreten Menschen erfüllt. Eine Liebe zu ALLEM – und die Unzufriedenheit entsteht daraus, dass sie sich nicht genug verströmen und mitwirken kann, wenn ich meine Lebensenergie allzu sehr aufs ganz persönliche Streben, was immer es gerade sein mag, konzentriere.

Mir einen Ruck geben und „was Nützliches tun“ ist da nicht das Mittel der Wahl. Das habe ich im Leben allzu oft praktiziert, es ist nur Kratzen an der Oberfläche. Ich kann mit dem Verstand (noch?) nicht sagen, WAS die andere Qualität ausmacht, bzw. ausmachen würde, wenn ich dem folge. Im Moment weiß ich nicht mal, wie ich „dem folgen“ sollte! Also halte ich mich an das, was ich bereits kenne: Hinsehen, genau hinsehen, was geschieht – ohne Bewertung, ohne Umerziehungsabsichten.

Kein Nest nirgends

Als ich vor vielen Jahren mal das Glück hatte, mehrere Monate in einem Toskanischen Bauernhaus verbringen zu können, schaute ich mir mangels Alternative auch alles sehr genau an. Damals war es ein Blick nach draußen: die Natur, das Wetter, die Pflanzen und Tiere, die Nachbarn und ihre Aktivitäten, die Anwohner und Touristen. Insbesondere die Insekten fand ich sehr interessant, wohl deshalb, weil mich manche davon erschreckten oder gar anekelten. Das gab sich im Lauf meiner Beobachtungen. Ich begann, sie zu bewundern, und auch, sie ein bisschen zu erforschen.

Da war etwa ein kleines Wespennest am oberen Ende eines Balkens, der am Zaun zwischen Wiese und Weg lehnte. Nachts, als die vielleicht dreißig Bewohnerinnen nicht mehr wild herum flogen sondern friedlich schliefen, löste ich das Nest vom Balken und legte es auf einen anderen Balken, einen guten Meter entfernt. Am Morgen sah ich dann, wie die Wespen ausflogen, aber nicht zurück fanden. Sie umschwirrten den ursprünglichen Balken, die Stelle, an der das Nest gehangen hatte und ich fragte mich, was sie dort wohl hinzog. Da war ja nichts mehr!

Lange sah ich ihnen zu. Ihre bewusstlose Automatenhaftigkeit irritierte mich, sie gefiel mir nicht. Ich spürte Bedauern, Mitgefühl – aber nicht so sehr für DIESE dreißig Wespen, die ihre Heimat verloren hatten, sondern für alle Wespen und Insekten, die ihren inneren Programmierungen folgen (müssen…), ohne den Schimmer einer Chance, zu erkennen, was wirklich los ist. Ohne jede Möglichkeit, zu lernen, das größere Ganze in den Blick zu nehmen und entsprechend zu handeln. Wie furchbar!

Kann ICH das denn? Erkenne ICH im Fall des Falles, dass „da kein Nest ist“, wenn ich mich zielstrebig und voller Verlangen in eine Richtung bewege, in die es mich zieht? Sehe ich, „dass da nichts mehr ist“, wenn ich zum Beispiel in Folge immer noch vorhandener psychischer Altlasten nach DIESEM strebe und JENES vermeide?

Es fühlt sich seltsam an, sich als eine solche Wespe zu erkennen. Wenn das innerste Verlangen nicht „Ich“ ist, sondern auch nur ein Programm, das ins Leere läuft – was dann? WER bin ich dann?

Jedenfalls bin ich sehr gespannt, ob dieses „Sehen“ etwas ändert! Kann ich aufhören, das Nest zu suchen, wo es keines mehr gibt? Vielleicht niemals eins gegeben hat?

Schau’n wir mal!

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Claudia am 06. Oktober 2004 — Kommentare deaktiviert für Kleine Nachrichten im Oktober: Verdunkelung, Ärger, Schreiben, Harmonie

Kleine Nachrichten im Oktober: Verdunkelung, Ärger, Schreiben, Harmonie

Es klopft und hämmert, gerade bauen sie ein Gerüst auf, um die Fassade des Mietshauses zu erneuern, in dem ich wohne. Heut‘ wird sich also meine physische Nahwelt verdunkeln und ich werde zwei Monate Düsternis und Lärm ertragen müssen. „Besser jetzt als im Frühling“, sagte der Hauseigentümer, und wo er Recht hat, hat er Recht. Ich bin gespannt, ob es mir gelingen wird, diesen Teil der „Außenwelt“ einfach auszublenden und frohgemut weiter meine Tage vor dem PC zu verbringen!

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Ich habe es gewagt, einem Autor, den ich gerne lese, etwas aus dem eigenen Erleben zu berichten – mit Bezug auf seinen letzten Artikel, in dem es darum ging, wie beschissen er sich fühlt, wenn andere Menschen ihn penetrant von etwas zu überzeugen versuchen, von dem er genau weiß, dass es falsch ist.
In einer solchen Situation kann ich zwar schweigen, weil ich weiß, dass Argumentieren sowieso nichts bringt, doch nicht immer ist es ein „gelassenes Schweigen“: anscheinend lebt in mir immer noch der Wunsch, Andere zu meiner „Sicht der Dinge“ zu bekehren – und genau das erlebe ich dann als „genervt sein“, als Ungeduld und Ärger. Warum sollte es mich sonst stören, wenn Andere irren? Allenfalls Mitgefühl wäre angebracht, schließlich sind SIE es, die mit den Folgen der eigenen Blindheit und Verbohrtheit leben müssen.
Dieses Mitgefühl empfinde ich allerdings nur dann, wenn ich gerade ganz mit mir im Reinen bin, wenn ich nichts will und nichts brauche, sondern „alles fließt“. Also eher selten.

Der Weblog-Autor war über den freundlich vorgetragenen Versuch, meine Erfahrung mit ihm zu teilen, offensichtlich „not amused“. Er fühlt sich „belehrt“ und schimpft nun vor sich hin, bzw. rein ins WorldWideWeb.

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Ich wundere mich immer wieder darüber, was Menschen so alles nervig finden können: wollte man sich danach richten, dürfte man nicht mal mehr „Piep“ sagen! Manche können scheinbar mit Freundlichkeit und Anteilnahme nichts anfangen: fühlen sich geradezu bedroht, vereinnahmt, von fremden Mächten in unüberschaubare Pflichten genommen. Das „Fenster zum Anderen“ verschließt sich so mehr und mehr. Spontane angstfreie Kommunikation wird unmöglich, denn die Empathie im Miteinander funktioniert nicht: die Freundlichkeit wird gar nicht GEFÜHLT, geschweige denn beantwortet. Statt dessen verdunkelt irgend ein feindseliges „Denken über den Anderen“ jeglichen Kontakt. Angenehm ist es gewiss nicht, so zu empfinden.

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Meinen alten Bürostuhl, auf dem ich so gelitten habe, hab‘ ich getauscht und sitze nun auf einem schlichteren Teil, das ANDERE Leiden mit sich bringt: nicht mehr Beine und unterer Rücken schmerzen und schlafen ein, sondern Hals und Schultern verspannen sich. Abwechslung ist gut, sag ich mir. Wenn’s gar nicht mehr geht, benutze ich den Swopper, der absolute „Gesundstuhl“, der zu „aktivem Sitzen“ zwingt und nach jeder Seite frei schwingt. Ein tolles Teil, aber eben auch anstrengend! Letztlich werde ich, egal auf welchem Stuhl ich sitze, einfach öfter aufstehen und etwas anderes tun müssen.

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Mein neues Kursthema „Erotisch schreiben“ fasziniert mich! Zwar schreibe ich seit Jahren schon gelegentlich Szenen und Geschichten, doch sah ich das lange als bloßen Teil der persönlichen Kommunikation mit einem „Geliebten in der Ferne“: lustvolles Schreiben, aber nicht weiter erwähnenswert, jedenfalls nicht im beruflichem Sinn. Jetzt sehe ich – inspiriert durch den kommenden Kurs und ein persönliches Schreib-Coaching, das bereits angelaufen ist – die vielen Facetten dieser „Unternehmung“: Erotisches Schreiben eignet sich aufs Wunderbarste, die Basics dessen zu vermitteln, was ich unter „gutem Schreiben“ ganz allgemein verstehe. Ich glaube nämlich nicht ans „Pauken“ schreibtechnischen Wissens, sondern sehe das Schreiben als Geste des Beobachtens und Mitschreibens: Je mehr Dimensionen und Aspekte mir im Rahmen des „Geschehens“ einer erotischen Fantasie bewusst sind, desto besser wird das Schreiben. Und was könnte sich dazu besser eignen, als Texte rund ums erotische Erleben, das wir ja alle teilen?

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„Ich will nicht streiten, ich will Harmonie!“, sagt ein lieber Freund, der mir gelegentlich von frustrierenden Erfahrungen mit der Kommunikation im Internet berichtet. Ich weiß gut, wovon er spricht: Bloßer Text, ohne Mimik und Gestik, ohne die Möglichkeit, das eben Gesagte angesichts der Reaktion des Anderen zu relativieren, birgt unendlich viele Möglichkeiten zum Missverständnis. Als Schreibende bin ich weitgehend machtlos, kann nicht wissen, was der Leser in meine Worte alles hineindeuten wird, und wenn ich zuviel darüber nachdenke, kann ich das Schreiben gleich ganz lassen.

„Harmonie“ ist etwas, das ich in mir selber herstellen muss, wenn ich darauf Wert lege. Wer angesichts einer feindseligen Reaktion ausschließlich denkt: Was habe ICH falsch gemacht? Womit hab‘ ICH das verdient?, lebt in ständiger Verteidigungshaltung – nicht gerade harmonisch! Zudem geht dieses Denken davon aus, dass es wünschenswert wäre, das eigene Verhalten in vorauseilendem Gehorsam stets allen üblen Möglichkeiten anzupassen, die da vielleicht lauern mögen. Wo aber bliebe dann das Eigene, die „Harmonie mit mir selbst“?

Wenn ich mich so verhalte, dass ich selber in aller Klarheit dazu stehen kann, ist auf meiner Seite alles geleistet. Was der Andere damit anfängt, ist seine Sache. Versteht er etwas falsch, bin ich gern bereit, noch einmal zu erläutern, was ich meinte. Wenn er aber „darüber sauer ist“, dass ich bin, wie ich bin, kann ich’s auch nicht ändern. ER müsste sich ändern, wenn ihm die Welt so nicht gefällt – oder er kreist eben weiter in üblen Stimmungen und Missgefühlen.

Ich habe in den ersten Netzjahren schmerzlich gelernt, darauf zu achten, meine EIGENEN üblen Gefühle nicht ins „öffentliche Gespräch“ der Netze zu kippen. Emotional begründete Auseinandersetzungen kommen überhaupt erst in Betracht, wenn ich jemanden persönlich und nicht nur per Email kenne. Und selbst dann stimmt meistens der Spruch von Baghwan Sri Raynesh: „Denk nicht, sie sind gegen dich. Dafür haben sie gar keine Zeit!“.

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