Thema: Lebenskunst, Philosophisches

Reflexionen über Wesentliches

Claudia am 03. April 2003 — 1 Kommentar

Vater UND Mutter ehren

Viele Lehren hat mir mein Vater mit auf den Weg gegeben. Zumindest hat er sich nach Kräften bemüht, mir etwas aus seiner Lebenserfahrung zu vermitteln, manchmal regelrecht einzutrichtern. Aus dem Stand fallen mir jede Menge Sprüche ein:

  • Kind, denk an deine Rente!
  • Schlag doch zurück, wenn du angegriffen wirst!
  • Männer sind Schweine und wollen immer nur das eine.
  • Vergiss den Gummi nicht!
  • Geld regiert die Welt.
  • Wer sich für andere engagiert, wird ausgenutzt.
  • Lass dir nichts gefallen!
  • Beschwer dich an der richtigen Stelle!
  • Um sein Recht muss man kämpfen!
  • Nichts ist umsonst!

„Niemals Aktien! Wenn, dann nur festverzinsliche Wertpapiere“, sagte er noch auf dem Sterbebett, als ich mir gerade überlegte, vielleicht doch ein paar Internet-Werte zu erstehen.

Bald war ich froh, es nicht getan zu haben. Nicht, weil ER das gesagt hatte, sondern weil mir Geldspekulationen zutiefst fremd sind. Diese Fremdheit ist allerdings auch schon eine Folge seiner „Geld-regiert-die-Welt“-Indoktrination. Diese, wie auch die meisten seiner anderen „Weisheiten“, hab‘ ich nie geglaubt, sondern immer auf Verdacht erst mal das Gegenteil für wahr gehalten. So ein Idiot konnte einfach nicht recht haben: Als cholerischer Quartalsalkoholiker war er in meiner Kindheit und Jugend der Terrorist der Familie, der Hass-Gegner schlechthin. Mein erstes Ziel im Leben war, aus seinem Machtbereich endlich zu entkommen und ich setzte es sofort um, sobald die Gesetzeslage es gestattete.

Wie sehr ich da bereits „Vatertochter“ war, wie weit mein Innenleben und meine Haltung zur Welt durch ihn, bzw. den Widerstand gegen ihn geformt worden war, realisierte ich erst viel später. Aber das ist eine andere Geschichte. Entgegen allen Erwartungen eine mit Happy End: Noch bevor er starb, liebte ich ihn. In aller Freiheit. Und half ihm per Telefon, seine „Beschwerden an den Bundeskanzler“ auf seiner Festplatte wieder zu finden, von deren Dasein und Struktur er keinerlei Vorstellung hatte.

Ohne viele Worte

Meine Mutter sagte nicht viel. Wie auch, ER redete ja immer und erzählte, wie es in der Welt zugeht und was man davon zu halten hat. Sie tat ihr bestes, um uns drei Schwestern vor seinen hässlichsten Seiten zu beschützen. Allerdings war ihre Macht beschränkt: War er besoffen genug, dass es ihm egal war, was sie von ihm dachte, weckte er uns nachts um drei auf, wollte uns mit halben Brathähnchen beglücken und gemeinsam noch einen drauf machen. Er wurde dann stinksauer, wenn das nicht so abging, wie er es sich wünschte – und wir zitterten vor Angst angesichts seiner Unberechenbarkeit. Auch, wenn er uns nicht aus den Betten holte, sondern nur durch die Wohnung polterte, laut singend: „Auf auf Matrosen, streckt eure müden Leiber! Die ganze Pier steht voller nackter Weiber!“, grübelten wir nicht über den Sinn dieses uns unverständlichen Liedes, sondern hofften nur inständig, er möge nicht ins Kinderzimmer kommen, nicht schon wieder.

Meine Mutter sagte also nicht viel. Ich liebte sie (und liebe sie heute noch), ohne Frage. Sie wirkte nicht durch Worte, sondern durch ihr Handeln, ihr Da-Sein und So-Sein. „Als Frau“ konnte sie mir allerdings kein Vorbild sein: So einen Kotzbrocken wie meinen Vater jahrzehntelang ertragen? Ich konnte es nicht verstehen und war mir ganz sicher, so etwas nie, nie, niemals im Leben auch nur ansatzweise in Betracht zu ziehen. Neben der Liebe war da also ein Vorwurf, einer der mir als „Vorwurf“ gar nicht bewusst wurde. Dass es damals in den 50ern und frühen 60gern noch keine „allein erziehenden Mütter“ gab und sie einfach keine Alternative für sich und uns sah, konnte ich als Kind nicht begreifen. Ich sah nur ihre Machtlosigkeit, manchmal auch ihre Verachtung, wenn ER gerade mal wieder „neben dran“ war. Eine schweigende Verachtung ohne für mich sichtbare Konsequenzen. Meine Welt war nicht in Ordnung.

Vaters Sprüche, selbst wenn ich sie mir mal anhörte, waren leider wenig hilfreich in Situationen, in denen es mir richtig dreckig ging. Die Angst vor der Kinderbande im Hof, später die Schwierigkeiten, in den pubertären Peer-Groups akzeptiert zu werden, bei alledem konnte er mir mit seinen Wehr-dich-doch-Sprüchen nicht helfen, ja, er machte es noch schlimmer, denn ich fühlte mich einmal mehr als unfähige Versagerin: ängstlich, schwach, und doch so begierig, dazu zu gehören.

Einsamkeit

Es gab niemanden, an dem ich mich wirklich orientieren konnte, von dem ich hätte lernen können, wie man sich in der Welt zu Recht findet. Wie ich es anstellen muss, dass „die Anderen“ mich mögen; wie ich mich verhalten sollte, wenn mein Vater besoffen auf mich einredete oder ausrastete, weil ich eine Mathe-Aufgabe nicht erklären konnte (ich war GUT in der Schule, aber für ihn reichte es nie). Was tun, wenn mich die Jungs auf dem Hof in ein Gebüsch schleppten und abtasteten? Was darüber denken? Da ich mit niemandem wirklich reden konnte, versuchte ich es bereitwillig sogar mit „Gott“, der mir als Ansprechpartner im Kommunionsunterricht anempfohlen wurde – ohne Erfolg. Gott antwortete nicht, obwohl ich ihn dringend gebraucht hätte, also gab ich den Glauben auf.

Meine einzige Zuflucht waren Bücher. Über Pipi Langstrumpf, griechische Heldensagen, nordische Märchen, englische Krimis, Karl Mai und andere Abenteuerschinken: ich verschlang die halbe Bibliothek und niemand redete mir rein, was ich da lesen durfte und was nicht. Ich orientierte mich an der „kleinen Dot“ und an Winnetou, liebte Tierbücher über alles, und in der beginnenden Pubertät las ich Geschichten von Mädchen, die nicht ausgehen und sich nicht schminken durften – genau wie ich.

So einsam wie als Kind war ich später niemals mehr. Im nachhinein kann ich sehen, dass mich das in gewisser Weise stark machte: Wenn man das Schlimmste schon hinter sich hat, ist man nicht mehr so sehr erpressbar. Auch, dass mein erwachendes Denkvermögen letztlich ganz allein auf sich selbst gestellt blieb, weil die sich üblicherweise anbietenden Erziehergestalten (Eltern, Großeltern, Lehrer, Pfarrer, „Freunde“) mir kein Vertrauen einflößten oder machtlos waren, hat mich ganz gut auf eine Welt vorbereitet, in der nichts sicher ist.

Wenn ich all das so erzähle, wundert es mich selbst, dass dieser Kindheit ein spannendes Leben folgte, in dem ich mich immer besser zu Recht fand. In dem ich es schaffte, mich niemals lange zu verbiegen, weder in einer Beziehung, noch in einer Arbeit, noch zugunsten einer Religion, einer politischen oder spirituellen Lehre. Natürlich heiratete ich nicht – kein Wunder bei dem Beispiel! Ich probierte alles aus, worauf ich Lust hatte, und ich ging, wenn es nur noch Leiden und Elend war. Klar, ich hatte auch meine selbst geschaffenen Sackgassen, in denen ich recht lange Zeit brauchte, um endlich die Kurve zu kriegen – aber das war schon zu einer Zeit, wo man für sein Gesicht selbst verantwortlich ist.

Wechsel der Blickrichtung

Eine positive Kraft trägt mich durch alle Tiefen. Niemand kann mich „im Kern“ wirklich beschädigen. Woher kommt das? Wem danke ich das? Ich will jetzt nicht darauf hinaus, dass es diesen „Kern“ gar nicht gibt, dass da „nichts“ ist, wenn man die Zwiebel des „Ich“ immer weiter schält und immer neu erkennt: auch diese Schale bin nicht ICH. Diese Erkenntnis selbst ist ja, psychologisch gesehen, auch erstmal eine „Tiefe“. Das verkraften zu können, muss jemand angelegt haben – wie komme ich dazu? Warum fühle ich „innen“ keine Angst?

Was die Welt da „draußen“ angeht, hat mein Vater mich geformt, im Schlechten wie im Guten – ob ich nun seine Lehren ablehnte oder annahm. Und je besser ich mich in der Welt (trotzdem, gegen ihn, anders!) zu Recht fand, desto friedlicher wurde unser Verhältnis – bis ich sehen konnte, was ihm in seinem Leben durch sein So-und-nicht-anders-Sein alles entgangen war. Geld regiert die Welt? Er war lebenslänglich unglücklich, nicht genug zu haben, raffte sich andrerseits aber auch niemals auf, seinen ÖÖffentlichen-Dienst-Job an den Nagel zu hängen, um welches zu verdienen. BAT 4b, der Karrieregipfel. Man darf niemandem vertrauen? Er hatte keine wirklichen Freunde. Ebenso verhielt es sich mit seinen anderen Weisheiten: er zementierte damit sein eigenes Unglück, seine Mangelsituationen, seine Unzufriedenheit. Auf einmal spürte ich Mitgefühl, freute mich, dass es ihm in seinen letzten Jahren nicht schlecht ging, als er mit dem Wohnmobil und seiner zweiten und dann dritten Frau durch Europa kurvte. Ja, auf einmal konnte ich auch sehen, was ich alles von ihm gelernt hatte – weder waren es nur Worte, noch war alles nur Schrott. Das „Lass dir nichts gefallen, beschwer dich an der richtigen Stelle! Um sein Recht muss man kämpfen!“ hab ich auf meine Weise schon gebrauchen können – und manches mehr.

All das ist jedoch nur „außen“. Um mit dem Außen konstruktiv umzugehen, muss etwas von innen dazu kommen. Etwas, das bleibt, wenn die ganze Welt in 1000 Stücke zerspringt. Es ist mir unmöglich, dafür Worte zu finden, ich glaube, es ist nicht „sagbar“, man kann es nur fühlen.

Um es fühlen zu können, braucht es aber einen Hinweis. Jemanden, der die Aufmerksamkeit in die richtige Richtung lenkt: nach innen. Und das möglichst nicht erst mit 40 in der Selbsterfahrungsgruppe oder beim Meditationskurs, sondern früher. Sehr viel früher.

Spät, aber nicht zu spät

Erst jetzt kann die Vatertochter, die ich immer gewesen bin, sehen, dass DAS von meiner Mutter kommt. Sie, die Machtlose, hat nicht viel gesagt. Sie war liebevolle Zuflucht, konnte aber „da draußen“ nicht helfen. Und doch: ETWAS hat sie gesagt, immer, wenn es mir dreckig ging, wenn ich Angst vor den Anderen hatte und wenn ich nicht wusste, was tun: „Kümmer‘ dich nicht um die Anderen, mach, was du für richtig hältst!“. Egal, um was es ging, niemals hat sie versucht, mir etwas vorzugeben, sondern mich immer darauf hingewiesen, ich solle „nach mir selber gehen“. Für sie war es kein Problem, dass ich das Jura-Studium abbrach – vielleicht machte sie sich Sorgen, sicher. Aber nie hätte sie mir gesagt, es sei falsch! Ich war ja „nach mir selber“ gegangen.

So komme ich erst spät dazu, meiner Mutter zu danken. Sie hat darauf verzichtet, mir konkrete Vorstellungen über das richtige Leben einzupflanzen und statt dessen dem „ich selbst“ eine Chance gegeben. Hat so einen Samen in meine Kinderseele gesät für die Zeit, wenn „die Welt“ und die Kämpfe da draußen nicht mehr das spannendste Thema sind. Und mir doch auch Vertrauen vermittelt, in diesen Kämpfen nicht zu verzweifeln.

Das ist keine Leistung, mag man vielleicht denken. SO hat sie vermutlich nicht groß darüber nachgedacht, es war kein wohl kalkuliertes „Erziehungshandeln“. Sie war einfach selber so, sie kannte es nicht anders.

So ist das Vater-Denken: Nur bewusste Leistung zählt, für das bloße Dasein und So-Sein darf man keine Liebe erwarten. Dieses Denken treibt die Liebe aus der Welt aus und ersetzt sie durch Bonuspunkte.

Ich bin froh, dass ich es heute besser weiß. Dass ich auch anders fühlen kann. Eben dank meiner Mutter, der ich diesen Beitrag aus ganzem Herzen widme.

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Claudia am 03. April 2003 — Kommentare deaktiviert für Allein Sein

Allein Sein

Zwei Monate sind es jetzt schon seit dem Umzug an den Rudolfplatz. Zwei Monate alleine wohnen, zum ersten Mal seit vielen vielen Jahren. Ich wusste länger schon, dass es Zeit ist, aufzubrechen, doch als es im Sommer und Herbst 2002 angesichts völlig unterschiedlicher Wohn- und Lebenswünsche dann konkret wurde, hatte ich schon ein bisschen Bammel: Würde ich mich nicht einsam fühlen, wenn diese beiläufige Zweisamkeit Zimmer an Zimmer, das gemütliche Kochen und Essen, das Kaffee-Trinken, Fernsehen, Plaudern nicht mehr die Grundstruktur meines Real Life ausmachen würde? Würde ich vielleicht verwahrlosen, wenn „der Andere“ nicht mehr durch sein bloßes Dasein eine disziplinierende Wirkung ausübte?

Kein Tag in dieser Wohnung hat diese Ängste bestätigt. Es war richtig, mich endlich einmal in einen eigenen Raum zu begeben, wo es nur ganz allein mir selber überlassen ist, was ich darin anfange. Die Zweisamkeit, die hinter mir liegt, war voller gegenseitiger Achtung, Wertschätzung und liebevoller Rücksichtnahme. Nichts, wovor man mit Grauen wegrennt, im Gegenteil! Das Allein-Sein jetzt ist etwas gänzlich anderes, ermöglicht eine völlig neue Lebensweise: Keine Routinen, keine vermuteten Erwartungen, niemand ist da, der aufgrund langjähriger Erfahrung ganz genau weiß, WER ich bin. Also kann ich die Tatsache wieder zur Kenntnis nehmen, dass ICH das NICHT weiß. Und das ist wunderbar! In jedem Moment bemerke ich – wenn ich will – die offene Weite: Was tu ich jetzt? Welchem Impuls folge ich? Welches Dasein wähle ich als Nächstes, welche Rollen und Masken setze ich dazu auf?

Freiheit. Ich spüre große Freiheit. Ganz anders, als etwa Mitte zwanzig, als ich auch schon mal alleine wohnte, doch eigentlich nie allein sein konnte. Meine Wohnung war mir damals nur Absteige, Stauraum, Postadresse – und manchmal liebevoll geschmückte Empfangshalle für einen netten Gast. Mit mir alleine konnte ich nichts anfangen, ja, ich fühlte mich unruhig und getrieben. Es trieb mich zu Gleichaltrigen, man hing gemeinsam in Wohnungen und Kneipen herum, redete viel, hatte zu allem eine Meinung, diskutierte, bis die Köpfe rauchten – dazwischen fanden und zerstritten sich Paare, inszenierten Beziehungsstress, also noch mehr Gesprächsstoff – und dazu Drogen in 1000 Gestalten.

Wir wussten nichts mit uns anzufangen und taten alles, um das nicht zu spüren. Sich ständig unter Leuten aufzuhalten gab uns den Anschein von Halt, Sicherheit, „Jemand-Sein“. „Spontane“ Aktionen wie das nächtlich beschlossene „Komm, wir fahren jetzt nach Paris“ vermittelte den Anschein von Freiheit. Doch das Gefühl der Getriebenheit und Unruhe blieb, auch, wenn man dann in Paris angekommen war.

Heute stelle ich entzückt fest: Nur das Ankommen bei sich selbst ist ein wirkliches Ankommen. Kein naher oder ferner Ort, kein noch so liebevoller anderer Mensch, kein tolles Gedankengebäude und keine „Leistung in der Welt“ kann das Loch stopfen, die Leere füllen, die Getriebenheit beenden, die Suche stoppen. Nur eine Umwendung der Blickrichtung ist nötig: nach „innen“, statt nach „außen“ – die Anführungszeichen geben einen Hinweis darauf, was für eine riesige Abenteuerlandschaft des Unerforschlichen sich hier auftut.

Und wie im Märchen wandert man ganz alleine, trifft Zauberer, Feen, freundliche und feindliche Geister und Gottheiten. Lernt – wie im Märchen – die Macht kennen, die darin liegt, dem Unbekannten Namen zu geben. Oder – und das ist fast noch spannender in meinem Alter – die bekannten Namen von allem und jedem wieder weg zu nehmen. Die Zwiebel des „Life as we know it“ zu schälen, in der Ahnung, dass dieses Beginnen in ein grundstürzendes „Nichts“ führt, vor dem man unsäglich erschrecken würde, wenn es so weit ist. Das Nichts, aus dem die Fülle kommt, die Fülle all der Möglichkeiten, die wir durch unser Denken und Sagen, Tun und Nicht-Tun Wirklichkeit werden lassen.

In diesem Metier gibt es zwei Arten von Gurus, zwischen denen ich lange hin- und hergerissen war: Die einen weisen auf das Nichts hin und geben Tipps, die Zwiebel zu schälen, die anderen auf die Fülle der Möglichkeiten, die unsere Freiheit ausmachen – die Möglichkeit, etwas anderes zu wählen als das gemütliche Elend, in dem man so gerne klagend verharrt.

Damit bin ich durch. Es gibt da keine wahrere Wahrheit, kein richtigeres Verhalten, keine wirklichere Wirklichkeit. Es liegt an meiner Tagesform und Laune, meinen Impulsen im Augenblick, was mich gerade mehr fasziniert: das „schälen“ oder das „kreieren“.

Nichts und niemand auf der Welt hindert mich daran, das eine zu tun und das Andere nicht zu lassen.

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Claudia am 13. März 2003 — Kommentare deaktiviert für Vom Leiden frei?

Vom Leiden frei?

Es ist der dreizehnte März, 7.33 Uhr, und die Morgensonne scheint von rechts (Osten) auf meinen Balkon. Dies ist eine Nordseite-Wohnung, von der die Vormieterin erzählte, dass sich die Morgensonne immerhin im Juni zwischen sechs und acht Uhr früh kurz zeige – und nun kommt sie schon jetzt, wie schön.

Meine Welt und mein ganzes Leben verändert sich drastisch. Nicht unbedingt von heute auf morgen, aber seit ein paar Monaten zerlegt sich alles, was lange Bestand hatte. Kein Stein bleibt auf dem anderen, keine Gewohnheit oder Errungenschaft bleibt, wie sie war. Wohnen, Arbeit, Beziehungen und Freundschaften verwandeln sich, ja sogar das Essen und Trinken bis hin zum Körpergefühl ist anders: Sieben Kilo weniger machen einen Unterschied, der in jeder Bewegung zu spüren ist.

Und alles geht wie von selbst. Nicht, dass ich etwas geplant oder konkret gewünscht hätte: der Entschluss vom letzten Herbst, in Zukunft alleine zu wohnen, der von außen so selbstbestimmt wirkt, war nur das Ja zu einer länger schon offenkundigen Not-Wendigkeit. Nicht ICH wende die Not, ich folge nur.

Wem? Da ist niemand mehr. Kein Mensch und auch keine „Lehre“, an der ich mich ausrichte und festhalte. Nicht, dass ich irgendwie dagegen wäre, das zu tun, es funktioniert einfach nicht mehr.

Wie fühl‘ ich mich dabei? Gelegentlich ist es geradezu euphorisch: Ich wandere in der Wohnung herum und empfinde Glück, frag mich verwundert, woher es kommt: Müsste da nicht etwas oder jemand sein, eine Ursache? Aber es findet sich nichts, nichts, was ich benennen könnte. Doch weil ich es gewohnt war, für alles Ursachen zu sehen, kann ich nur staunen.

Natürlich gibt es auch Tiefs, Verunsicherung, Einsamkeitsgefühle – sie kommen und gehen und auch von ihnen kann ich nicht sagen, WARUM sie sich zeigen. Und vor allem nicht, warum sie wieder gehen. Ich bemerke sie, forsche nach möglichen Ursachen, hänge mich vielleicht mental für kurze Zeit an das, was mir dazu gerade einfällt, hege „Meinungen“, drücke sie aus – aber schon wenig später zerrinnt wieder alles. Die Sonne kommt hinter den Wolken hervor, einfach so.

Was folgt daraus? Müsste das nicht bedeuten, dass mich alles cool und gleichgültig lässt, unberührt über den Wassern schwebend, wohl wissend: die Zeit nimmt alles Übel mit sich weg, genau wie alles Gute, Wahre, Schöne? Sollte ich – zumindest in meiner Kommunikation – immer von diesem erlebten Wissen ausgehen und die konkreten Höhen und Tiefen nicht mehr Ernst nehmen? Sie nicht mehr ausdrücken vor allem, damit sich niemand betroffen fühlt und womöglich meint, ich sei NUR so – und daraus falsche Schlüsse zieht?

Geht nicht. Es gibt keinen Weg zurück ins berechnende Denken. Wenn sich in mir etwas aufstaut, muss ich es ausdrücken, um es gehen lassen zu können. Mag es den Gipfel der Unvernunft bedeuten, mag es falsch und unberechtigt sein, mag es mich als Idiotin erscheinen lassen (was ja ganz besonders schmerzt!) – was raus muss, muss raus. Eindruck und Ausdruck müssen im Fluss bleiben – und auch „Denken“ hat keine höhere Qualität, sondern ist etwas, was mir ganz genauso zustößt wie eine Empfindung oder ein Gefühl, ist also Teil des Eindrucks, der im jeweiligen Augenblick oder nach einer kleinen Zeit der Einwirkung zum Ausdruck drängt.

Sich diesem Fluss verweigern, ihn kanalisieren wollen, bedeutet Elend und Leiden. Das Gute und Schöne existiert dann nur noch in der Zukunft, also in der Vorstellung. Die Gegenwart ist zubetoniert durch berechnendes Handeln, von Wünschen und Ängsten gesteuert. Immer im Versuch, durch Wohlverhalten nirgends anzuecken oder positive Reaktionen anderer zu erleben, verfehle ich dann genau das, was ich eigentlich wünsche: die Freiheit vom Leiden.

Diese Freiheit verwirklicht sich nicht dadurch, dass ein Rezept, ein Verhaltenskanon gefunden wird, wodurch das Leiden ein für allemal in Schach gehalten werden kann, sondern allein durch das Akzeptieren dessen, was ist. Eben auch, wenn es leidvoll ist. So schnell, wie es sich wieder verändert, wenn ich nicht dran klebe, kann ich manchmal kaum gucken!

Ist das jetzt ein Rezept? Denken und Reden entlang dieses Themas endet immer im Paradox. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es unmöglich ist, so etwas einfach zu lesen und zu übernehmen. Ganze Bibliotheken weißer Worte begleiteten schließlich meinen Weg ins Elend, konnten mir nicht aus der Verstrickung ins rechnende Denken und berechnende Handeln heraus helfen. Es ist erst dann genug, wenn es eben genug ist. Jeder Versuch, etwas grundlegend zu ändern, ist ja genau wieder das beschriebene „Berechnen“, das nur immer tiefer in den Sumpf führt.

Die größte Behinderung bei alledem – nachdem Wünsche und Ängste ihre Macht bereits verloren haben! – ist jedenfalls das Bemühen, doch immer noch „ein gutes Bild abzugeben“. Ich möchte aus dem Augenblick leben, ja sicher, aber andererseits sollen doch alle sehen, dass ich nicht so eine unbewusste Idiotin bin, die vom „richtigen Leben“ nichts weiß.

Und DAS funktioniert nicht. Nie.

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Claudia am 12. März 2003 — Kommentare deaktiviert für Die Wahrheit: ein Flop

Die Wahrheit: ein Flop

Es ist gelegentlich spannend, sich über Weltanschauungen auszutauschen – aber im Grunde sind das, zumindest bei mir, Momentaufnahmen. Auch die Philosophie folgt dem aktuellen Bedarf, will rechtfertigen und in einen größeren Zusammenhang einbetten, was ist, und öfter noch, was man sich wünscht. Von daher ist es interessant, auch mal zu fragen: Warum hat einer diese oder jene Philosophie? Welche Not lindert er damit?

Man glaubt, Weltanschauung sei Wahrheit, zumindest aus der Suche nach ihr geboren, wenn auch immer unvollkommen. Was aber ist Wahrheit?

Wahrheit, so die traditionelle Anschauung, ist die Übereinstimmung des Denkens mit den Sachen. Wenn aber auch das Denken eine „Sache“ ist, oder die Sache eine Anschauung – was dann?

Dies ist vielleicht DIE Erkenntnis des dritten Jahrtausends. Und das gesamtgesellschaftliche Initiationserlebnis ins Abdanken der Wahrheit war die New Economy, der Börsenhype. Nun verharren alle in der Depression und Stagnation, weil erkannt wurde, dass der Glaube die Werte erschafft – und ebenso schnell wieder vernichtet. Einen Weg zurück gibt es aber nicht, kein Zurück zu den „fundamentalen Werten“. Und Sparen allein ergibt keine florierende Wirtschaft.

Das Problem: dass man den Glauben nicht beliebig erschaffen kann. Ich weiß, manche denken anders, aber mir gelingt es nicht. Nicht „einfach so“, indem ich etwa beschließe, nun etwas anderes zu glauben als das, was mir bisher als wahr erschien.

Der Glaube muss aus den Herzen kommen. Und das bedeutet, dass verobjektiviertes, instrumentalisiertes, einzig der Rendite verpflichtetes Handeln keinen Glauben produzieren kann, der Werte schafft.

Das müsste eigentlich das Ende des Kapitalismus bedeuten, wie wir ihn kennen. Aber naja, das Jahrtausend hat ja erst angefangen.

Wie entsteht Glaube? Ich meine nicht den religiösen Glauben, sondern den, der uns z.B. ein neues Projekt starten lässt – mitten in der Depression. Den, der uns frei macht, heute Geld auszugeben, im Vertrauen darauf, dass morgen wieder etwas herein kommt.

Ich weiß es nicht. Aber ich weiß zunehmend besser, was hindert. Die „Wissensflut“ steht ganz vorne in der Reihe: diese Unmengen Konzepte, Ideengebäude, Vorschriften, Ge- und Verbote, Traditionen und Moden, Warnungen, Analysen, Szenarien, Handlungsanleitungen – alles, was ich mir von außerhalb zusammen klaube, weil ich grad nicht weiß, wo es lang geht. Oft bedeutet das die reine Zeitverschwendung, schlimmer noch: Verwirrung. Denn ich schaue auf unzählige „Infos“ und Ratschläge, aber nicht mehr auf das, was mich zur jeweiligen Ratsuche motiviert. Ein flüchtiges Unwohl-Sein, ein kleiner Frust, eine gewisse Unsicherheit – und schon wenden wir uns ab und beginnen, uns zu in-formieren: von fremden Inhalten innerlich ausrichten zu lassen.

Ein Konzept, ein Gedankengebäude ist eine Verallgemeinerung einer Lösung, die einmal oder auch öfter in einer bestimmten Situation richtig war. Davon auszugehen, dass dies nun immer stimmt, ja, dass dieses Rezept nun schon vorab in die Strukturierung des Lebens einfließen müsse, ist verrückt. Vor allem ist man dann nur noch am Konzepte abgleichen: oh, das war wohl doch das falsche, es hatte vielleicht einen Fehler, nehmen wir halt Version 1.2. Und auch das wird wieder Fehler haben, genau wie das nächste.

Reden oder Schweigen?

Was im Einzelfall jeweils „richtig“ ist, lässt sich nicht aus dem Denken allein entnehmen. Ein Beispiel aus dem Beziehungsleben: Was tun im Fall eines Konflikts? Die Harmonie ist zum Teufel, man hat ein „Problem“, die schöne Welt der Zweisamkeit droht zu zerschellen – wie verhalte ich mich? Jahrzehntelang war ich der festen Meinung, es sei auf jeden Fall angesagt, darüber zu reden: Sich auseinander setzen, die Dinge KLÄREN. Standpunkte austauschen, Verständnis für den Anderen gewinnen, verhandeln, Abstriche von Ansprüchen machen, möglichst gerechte Kompromisse schließen, auch mal streiten und sich wieder versöhnen – wir redeten und redeten, Tage und Nächte lang: Die „Beziehungsdiskussion“ war schon bald der weit größere Horror als das, was sie jeweils ausgelöst hatte.

Irgendwann, im Rahmen einer mehrere Wochen dauernden Kräfte zehrenden Auseinandersetzung, hatte ich meine „Erleuchtung“. Ein Frühlingstag, ich stand mit meinem Gefährten auf dem Chamissoplatz, wir hatten den Arbeitsplatz verlassen, um die Kollegen mit unserem schon Tage andauernden Streit zu verschonen. Ein Moment der Ruhe, die Sonne kam heraus. Jeder erwartete vom anderen den nächsten verbalen Angriff, eine Art Showdown – ich hatte jedoch ein totales Energie-Tief und fragte ihn erst mal nach einer Zigarette. Wir rauchten. Schwiegen. Schauten uns an. Er sagte: „Du meinst, es gäbe Besseres? Zum Beispiel, mit der Liebsten einen Spaziergang in der Sonne machen?“ Er reichte mir den Arm, ich hakte mich unter – wir lächelten uns an. Es war vorbei.

Für mich eine grundstürzende Erfahrung: Ohne Worte, ohne eine mühsam ausdiskutierte „Problembearbeitung“ war der Konflikt auf einmal verschwunden. Es war sogar schwierig, sich zu erinnern, was eigentlich los gewesen war: Nichtigkeiten!

Die Realität hatte mich belehrt, ich dachte also um. Machte die Erfahrung zu einem neuen Konzept: Nicht drüber reden, einfach leben. Ärger, Wut, Frustrationsgefühle, Leiden aller Art: nichts unternehmen, es verschwindet von selber, wenn ich keine Energie rein stecke. Und der nächste Mann, dem ich nahe kam, sagte es noch deutlicher: wenn erst geredet werden muss, ist eh schon alles zu spät.

Hatte ich jetzt die Wahrheit gefunden? Das RICHTIGE Leben? Immerhin lebte ich lange ohne Diskussion und ohne Streit. Es erschien mir weit angenehmer als in den Zeiten des Beziehungs-Clinchs. Kein Kämpfen mehr, wie schön! Unmerklich aber schlich sich das Elend wieder ein: auf einmal steckte ich in einem Miteinander, das fast nur noch ein stummes Nebeneinander war. Jeder nahm sich zurück, unterdrückte und ignorierte eigene Wünsche und Impulse, sah über alles hinweg, was die so hoch geschätzte Friedlichkeit und Freundlichkeit hätte gefährden können – bloß keine Auseinandersetzungen! Und irgendwo in einem Winkel der Seele baute sich ein Druck auf, der letztlich die Veränderung unausweichlich machte. Das neue Konzept war ebenso falsch wie das alte.

Böses weißes Mehl

In den kleinen Dingen praktiziere ich gerade versuchsweise die schrankenlose Konzeptlosigkeit. Es ist wunderbar! In Sachen Ernährung hat es mich bisher sogar vor dem angeblich unausweichlichen Jojo-Effekt nach dem Fasten gerettet. Tag um Tag hab‘ ich Lust auf diese ungesunden Bäcker-Stückchen: böses weißes Mehl mit viel Zucker und nicht wenig Fett. Und Tag um Tag kauf ich mir eins oder auch zwei, verzehre sie mit Genuss, putze allenfalls die armen Zähne hinterher und mach mir ansonsten keinen Kopf. Und siehe da: ich nehme nicht zu, hab sogar noch ein bisschen abgenommen. :-)))) Nun lässt der Zuckerstück-Hype auch langsam nach, was gewiss nicht der Fall wäre, würde ich mir die Teile versagen!

Wir sind umstellt von Vorschriften, die in ihrer Widersprüchlichkeit geradezu lächerlich sind – und alles WIRKT, gelegentlich, und ebenso oft auch nicht! Da kann ich doch gleich bei dem bleiben, was als Impuls aus mir kommt, das ist wenigstens Realität. Wenn ich sie nicht zum Rezept mache, zum Konzept abstrahiere, kommt alsbald wieder etwas anderes, was zumindest schlimme Schäden vermeidet. Wogegen so mancher Makrobiot oder Urköstler tatsächlich abwartet, bis ihm Haare und Zähne ausfallen, bevor er seine Ernährungsweise nicht mehr an der reinen Lehre ausrichtet.

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Claudia am 08. März 2003 — Kommentare deaktiviert für Die Guten gibt es nicht

Die Guten gibt es nicht

Je älter ich werde, desto mehr werden mir bestimmte Denkgewohnheiten bewusst, die meinem Leben eine Form geben. Es sind keine Wahrheiten, sondern geistige Filter, die aus „allem, was ist“ nur das in meine Wahrnehmung einlassen, was ich mir wünsche.

Zuvorderst – das fängt gleich bei der Geburt an – wünsche ich mir freundliche, liebevolle Mitmenschen, friedliche Lichtgestalten, die mich lieben und achten, die sich um mich kümmern, wenn es mir nicht gut geht und die mir ein Pflaster auf die Wunden kleben, die das Leben schlägt.

Sobald dann das Denken einsetzt, und die eigene Bedürftigkeit nicht mehr nur als Gefühl und Empfindung, sondern in Gedankengestalt zu Bewusstsein kommt, ist es mit dem Wünschen alleine nicht mehr getan. Wenn ich von anderen erwarte, edel, hilfreich und gut zu sein, muss ich davon ausgehen, dass ich auch selber so bin – wie könnte ich es sonst einfordern?

Ich bin ok

Damit entsteht der Filter gegenüber dem eigenen So-Sein: ich glaube fest an meine eigenes „Gut sein“ und bewerte nun Gedanken, Gefühle und Taten im Rahmen dieser Vorgabe. Meist gelingt es, insbesondere in jungen Jahren, sich selber völlig in Ordnung zu finden – aber ach, die böse Welt pfuscht ständig in dieses friedlich und freundlich gemeinte Dasein, so dass man sich doch gelegentlich verteidigen muss. An der durchweg positiven Selbsteinschätzung kann das lange nicht rütteln – bei mir hat es bis Mitte dreißig gedauert, bis ich realisieren konnte, was ich für eine Schreckschraube geworden war: immer nur den eigenen Vorstellungen vom richtigen Leben hinterher rennend, mit gegen Null tendierender Aufmerksamkeit für Andere. Dabei kaum in der Lage, jemandem richtig zuzuhören, geschweige denn, die Bedürfnisse anderer, ihre Standpunkte und Sichtweisen ernst zu nehmen.

Das Aufschlagen auf dem Boden der Wirklichkeit war hart aber hilfreich. Es war, als wiche ein inneres Terror-Regime von mir, das meine sämtlichen Lebensäußerungen bestimmt hatte. Meine ununterbrochenen Anstrengungen, selber über alle Zweifel erhaben zu sein, alles richtig zu machen, die besten Absichten zu pflegen und immer perfekt und unangreifbar zu wirken, hatten genau ins Gegenteil geführt und mich noch dazu blind dafür gemacht, es zu bemerken.

Als es schließlich vorbei war, begann eine paradiesische Phase. Endlich mal einfach nur leben, neugierig hinsehen, was ist, anstatt zwingen zu wollen, was sein soll – der ganze Verlauf hatte nichts mystisches und doch fühlte ich mich wahrhaftig erleuchtet! Das Licht hatte meine dunkle Seite ins Bewusstsein gehoben und in meinem Leben gab es tatsächlich niemanden mehr, dem gegenüber ich sie glaubte, verleugnen zu müssen. Was für eine Entspannung!

Paradoxerweise machte mich dieses neue Bewusstsein der eigenen Fehlerhaftigkeit friedlicher und freundlicher. Ich lief ja nicht mehr in einer Rüstung herum, immer zum Kampf bereit, nach Feinden Ausschau haltend, die meinem Gut-Sein im Wege stehen könnten. Endlich interessierte ich mich wirklich für andere Menschen, jenseits des bloßen Nutzens, den sie für mich haben mochten.

Auf einmal war ich ein Nichts und hatte nichts dagegen. Ich konnte jetzt die anderen kämpfen sehen, konnte die Filter und Scheuklappen wahrnehmen, die sie – in der mir so gut bekannten Weise! – von der Wirklichkeit abtrennten. Zum ersten Mal hatte ich Mitgefühl, wissend um meine Ohnmacht, durch diese Mauern zu dringen. Denn niemand kann jemand anderen, der fest entschlossen ist, sein aktuelles Selbstbild aufrecht zu erhalten, irgendwie „aufwecken“. Das geschieht nur von innen her, wenn genug gelitten wurde. Bei manchen nie.

Ich lernte also eine neue Einsamkeit kennen – doch mit ihr kam zum ersten Mal die Fähigkeit, alleine zu sein, ohne das irgendwie falsch zu finden. Ohne daran zu leiden. Es gibt ja nicht nur die Menschen in ihren jeweiligen Verstrickungen, die Welt selber ist ein riesiges Wunder. Ein Vogel, eine Wolkenformation, Licht und Schatten, der Frühling, der Atem – ich nahm auf einmal das Leben war, in einer viel umfassenderen Weise als je zuvor.

In den Sand geschrieben

Es war die Zeit, als mir plötzlich auffiel, dass ich die verstreichende Zeit nicht mehr „seit“ rechnete (seit dem Abitur, seit dem Umzug nach Berlin, seit dem Studienabschluss…), sondern da auf einmal ein „bis..?“ vor mir stand. Das war neu! Ohne dass ich bewusst „umgedacht“ hätte, war mir das Gefühl der eigenen Endlichkeit zugewachsen. Ohne dass das irgend eine Art Stress ausgelöst hätte, im Gegenteil. Es war eine weitere Form noch tieferer Entspannung!

Denn früher hatte ich bei allem, was ich tat, immer mit der Ewigkeit gerechnet – unbewusst. Ich strebte in jeder Hinsicht nach „Endlösungen“ – sei es bei der Renovierung der eigenen Wohnung, beim Verhandeln über einen Vertrag, bei der Ausgestaltung einer Arbeitssituation – und natürlich auch in der Politik, soweit ich daran teil nahm: das Bemühen war auf das Absolute gerichtet: hier und jetzt etwas Perfektes schaffen, etwas, das allen Zweifeln und Unwägbarkeiten stand halten würde, egal, was kommt. Was für sinnlose Kraftakte, alles in allem!

Jetzt wusste ich: mein Leben schreibt sich in den Sand. Wie schön, mich dabei nicht mehr aufführen zu müssen, als würde immer alles in Marmor gemeißelt!

Es wundert nicht, dass seitdem alles viel leichter geht. Ohne den Automatismus von Kampf und Krampf, ohne feste Vorstellungen, wie die Dinge zu sein haben, ist es leicht, in den Fluss zu kommen: mitzuschwimmen mit eigenen und fremden Impulsen, sehen, was geschieht, nicht immer alles zwingen wollen. Dann ERGIBT sich auf einmal unglaublich viel – einfach so!

Die wirklich schlimmen Leiden sind nie mehr wieder gekommen: die Angst, zu versagen, zum Beispiel. Die heftigen Alpträume. Die Angst vor Einsamkeit und Verlassenheit. Das nächtliche Zähneknirschen und der Traum von der Prüfung, bei der man auf einmal alles vergessen hat. Auch der extreme Ehrgeiz, wie ich ihn von früher kenne, ist ohne Abstriche in die Reihe der schlimmen Leiden zu stellen – auch er ist weg. Mit ihm verging auch die Verachtung einfacher Menschen und körperlicher Arbeit, die ich mir im nachhinein als echte Sünde ankreide, bzw. als große Dummheit.

Und was ist jetzt? Welche alten oder neuen Leiden suchen mich heute heim?

Nun, auch ohne Illusionen über mich selbst zu hegen, wünsche ich mir unverdrossen freundliche, liebevolle Mitmenschen, friedliche Lichtgestalten, die mich lieben und achten, die sich um mich kümmern, wenn es mir nicht gut geht und die mir ein Pflaster auf die Wunden kleben, die das Leben schlägt.

Und bin dann enttäuscht, wenn mal das Licht auf ihre dunkle Seite fällt.

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Claudia am 17. Januar 2003 — Kommentare deaktiviert für Und wieder: Wegwerfen, wegspenden, loslassen

Und wieder: Wegwerfen, wegspenden, loslassen

Neben mir stehen jetzt sechs gepackte Umzugskisten, vier kleine, 40 mal 60 Zentimeter und zwei große, 80 lang. Daneben ein Rucksack und noch zwei Taschen, voll mit kleinen Dinge – meine Buddhastatuensammlung, zum Beispiel. Naja, Sammlung, es sind jetzt sieben. Daneben die Fotoausrüstung meines Vaters, eine bestimmt 30 oder gar 40 Jahre alte Rico-Spiegelreflex mit allerlei Zubehör, in Geld betrachtet fast wertlos – nie werde ich sie benutzen, doch ich will sie auch nicht entsorgen, noch nicht. Er hat mir auf vier Seiten eine Gebrauchsanweisung dazu geschrieben, es ist der einzige Brief, den ich noch von ihm habe. Er beschreibt nicht nur die Kamera, nein, es ist eine Anleitung zum Fotografieren überhaupt, auf vier Seiten, zügig durch alle Aspekte bis hin zum Umgang mit dem Verkäufer, wenn man die Papierabzüge reklamiert. Rechtschreibung und Grammatik war dabei weniger wichtig, die Tochter ist schließlich nicht die Behörde. Tja, so war er. Und ich hab‘ viel von ihm!

Unterm Bett liegt das 400-Mark-Keyboard, kaum benutzt und wieder originalverpackt. Hab mir überlegt, es zu spenden, wie den guten Meter Bücher, der nicht mehr ins Regal gepasst hat, mich dann aber doch dagegen entschieden. Könnt ja sein, dass ich nochmal Lust auf die 128 Midisounds habe, vielleicht schließe ich das Board in der neuen Wohnung wieder an. Zweimal zwei PC-Lautsprecher mit integriertem Verstärker stehen auch noch hier herum. Mindestens ein Paar muss ich behalten. Derzeit lebe ich ohne Sound, völlig still im Hier und Jetzt, nur gelegentlich das Quaken des Handys, wenn es Strom tanken will.

Am Dienstag bekomm‘ ich den Schlüssel zur neuen Wohnung, dann kann ich mit dem Umziehen anfangen. Samstag kommt * Erkan-Transport (sehr empfehlensert!) und holt die großen Sachen, das andere mach‘ ich selbst. Es sind ja nur etwa 500 Meter, einmal rüber über die S-Bahn-Geleise, dort, wo man so wunderbar weit bis zum Funkturm sehen kann, dann noch ein paar Schritte bis zum Rudolfplatz, direkt im * Stralauer Kiez, praktisch eine Insellage.

Jedes Mal ein bisschen weniger ?

Seit ich Webtagebuch schreibe, ist dies mein dritter Umzug. Ich kann also nachlesen, wie es mir 2001 erging, als ich voller Freude in die Metropole zurück kehrte, die ich 1999 so völlig überdrüssig verlassen hatte. Da finde ich zum Beispiel den Eintrag Mal wieder: Materie, der davon handelt, wie man das Sammeln, Horten und Anhäufen vermeiden bzw. sich abgewöhnen kann – und wie ich mich im einzelnen mühe, immer weniger zurück zu behalten. Ein Endlos-Thema, denn auch schon beim Umzug aufs Land, im Juni 1999, wollte ich jede Menge Ballast abwerfen (wer nachliest merkt: hier geht’s auch zurück ins historisch gewachsene Diary).

Ist da in Sachen Besitz nun ein Fortschritt festzustellen? Hat das „weniger werden“ geklappt ??? Ich hab mich ja nicht selber vergewaltigt und sozusagen „programmatisch“ alles mögliche weggeworfen. Nein, Dinge wie etwa Papas Kamera schleppe ich ohne Ärger mit, was weh tun könnte, wird nicht entsorgt, mag das auch noch so irrational sein. (Ich BIN schließlich nur in einem winzigen Bereich rational, warum also sollte ich mich da bezähmen.)

Wenn ich mal kurz drüber lese, stelle ich fest: 1999 hab ich sogar noch mehrere Jahrgänge Internet World und andere Magazine nach Mecklenburg umgezogen – in großen Schubern, was für ein irres Gewicht! Die hab ich diesmal dem Obdachlosenbuchladen um die Ecke vorbei gebracht, zusammen mit den bestimmt sechs Tüten bzw. Rucksäcken voll Bücher. Die Andenken, Fotos und Geschenke aus der persönlichen Vergangenheit, die ich bisher nie los werden konnte, hab ich durchsortiert und auf ein Zwanzigstel geschrumpft! Alte Familienalben, alle Negativfilme aus der eigenen Fotografierzeit – alles weg. Auch besitze ich keinen einzigen Brief mehr, nur eine Art „Rollo am Holzstab“, das ein Mann, in den ich vor etlichen Jahren verliebt war, aus unseren Frühlingsbriefen zusammenkopiert und gebastelt hat. Ich hatte das Teil schon in der Hand, die über dem Müll schwebte -. kurz zögerte – dann hab ich mal kurz reingelesen. Das hätt ich nicht tun sollen, jetzt hab‘ ich das romantische Papp-Memorial einer Frühlingsliebe noch ein paar Jahre!

Fortschritt auch bei den am meisten Ego-besetzten Artefakten: alle „früheren Werke“ sind jetzt den Gang alles Irdischen gegangen, die einst herausgegebenen Zeitungen, die Broschüren und Prospekte, auch sämtliche Texte aus unterschiedlichen Schreibgruppen und Workshops. Diesen ganzen Schmodder leichten Herzens endlich los zu lassen, tut ganz besonders gut.

Was bleibt? Die sechs Kisten werden noch etwa acht werden – zum leichteren Tragen durcheinander gepackt mit Büchern, Akten, Kleider und Geschirr – dazu die sieben Buddhastatuen. Geschirr und Klamotten konnte ich in den letzten Tagen auf genau das reduzieren, was ich auch tatsächlich trage und benutze, der Rest ging in die Kleidersammlung.

Möbel ? Nicht viel: Ein Bett mit höllisch schwerer Latexmatratze, zwei Billy-Regale, der Schreibtisch mit Stuhl und Aktenschrank, ein Sideboard und ein Kleiderständer (statt Kleiderschrank, dem ich mich immer schon verweigere), zwei leichte Stoffsessel mit rundem Tischchen, ein kleines Sofa, der Küchentisch mit zwei Stühlen, – sodann die Waschmaschine und der Kühlschrank, ein kleines Stand- und ein Hängeregal für die Küche. Drei Zimmerpflanzen, drei Balkonkästen – war es das? Ach ja, zwei Balkonstühle, auch für Gäste benutzbar, und ein paar kleine Teppiche. Himmel, es bleibt doch immer noch eine ganze Menge übrig, was mensch so durchs Leben schleppen muss in der technischen Zivilisation. Und um in dieser zu navigieren, ist natürlich der PC und das zugehörige Equipment nicht zu vergessen – ja, er ist die „Haupt-Sache“, denn der ganze Umzug ist um „Abbauen des Arbeitsplatzes, Aufbauen drüben“ herum organisiert, das wichtigste DER ANSCHLUSS, möglichst nahtlos und ohne zwischenzeitliche Unterbrechung.

Was die materiellen Gegenstände angeht, hab ich es mit diesem Umzug also nun wirklich dahin gebracht, praktisch jedes Ding zu kennen, das ich besitze – von den Küchenmessern über den Räucherstäbchenhalter bis zum Aktenlocher. Ich könnte also damit beginnen, mir „die letzen Dinge“ zuzulegen: alle diese bisher nur zufällig und ohne besondere Liebe erworbenen oder behaltenen Gegenstände nach und nach durch bewußt gewählte, schöne Dinge ersetzen, zu jedem eine eigene Beziehung aufbauen, Gegenstände mit Gesicht und Geschichte! Anderen ist das in die Wiege gelegt – sollte es mir JETZT noch gelingen, die Liebe zur materiellen Ebene zu entwickeln? Spät ist besser als nie, sag ich mir.

Schön, sinnlich, farbig?

Morgen in einer Woche werde ich also am Rudolfplatz aufgebaut haben, werde angeschlossen sein (toi toi toi!) und aus dem Fenster in die Weite sehen: über den Platz mit Kirche, Schule und Kinderspielplatz, über den Grüngürtel bis hinüber zu den S-Bahn-Geleisen. Seit vorgestern hab‘ ich den Mietvertrag, ich kann’s noch kaum glauben! Es sind 72 Quadratmeter, zwei große, ineinander übergehende Altbauzimmer, eins mit Balkon, das andere mit großem Erker. Renovieren muss ich nicht, alles ist ok, Rauhfaser weiß, abgezogene Dielen, nichts irgendwie schmuddlig, aber auch nicht so gesichtslos „topmodernisiert“ wie in der Wohnung, die ich verlasse.

Wird das jetzt der letzte Umzug oder geht’s in zwei Jahren wieder weiter??? Die Miete immerhin ist bis ins Jahr 2013 im Mietvertrag festgelegt. Und die Wohnung ist recht genau meine Wunschwohnung: ähnlich viel Platz wie jetzt, sogar mehr, denn ich hab wieder zwei Zimmer. Weitblick nach allen Seiten, Balkon, im dritten Stock und also auch richtig hell. Drei Minuten zur U- und S-Bahn, 15 Minuten ins Fitness-Center, nicht viel länger zum anderen Ufer der Spree in den Treptower Park – und direkt daneben ein interessantes Geschäftsviertel, die * Oberbaum-City.

Wünsche? Ich möchte die Wohnung gemütlich haben, es soll schön sein, sinnlich, farbig. Das ist ein neues Bedürfnis, eine neueAufgabe: bisher waren meine Umgebungen immer sachlich-funktional (im besten Fall!), ja kühl.. Ich bin gespannt, ob sich da etwas verändert, bzw. verändert hat. Keinesfalls will ich auf die Schnelle irgend etwas kaufen oder gestalten, nur damit es nicht leer ist! Eigentlich gefallen mir ziemlich leere Wohnungen sogar am besten.

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Claudia am 04. Dezember 2002 — Kommentare deaktiviert für Weihnachtszeit

Weihnachtszeit

Es schmerzt mich fast körperlich, dass mein Schreiben so begrenzt ist. Ich sage „mein“ Schreiben, um nicht den Gedanken aufkommen zu lassen, ich wolle mich hinter einer Allgemeinheit oder hinter einer Art Naturgesetz verstecken. Und doch ist es vielleicht so ein Gesetz: zumindest als Prosa läßt sich immer nur Negatives ausdrücken, mehr noch, man liest auch nur gern, wenn der kalte Hauch des Schreckens, des Leidens, der Endlichkeit oder der Gefahr zumindest andeutungsweise duch die Sätze weht. Ein bißchen Tod und Sterben muß schon sein, zumindest ein paar „ordentliche Probleme“, der Autor möge doch bitte durch die Höllen gehen und erzählen, wie es war und wie er wieder heraus gekommen ist. Die Landschaften aus Langeweile und ÖÖdnis hätten wir gern kurzweilig beschrieben und zur Mittagspause serviert, damit wir wissen, wie schlimm es sein kann und wie gut wir es doch haben – vergleichsweise.

Nahezu zwanghaft gerate ich schreibend immer wieder in dieses Fahrwassser des Negativen, selbst bei den sachlichsten Gegenständen darf die Würze nicht fehlen, die das Ganze interessant und für Andere konsumierbar macht: ein bißchen Häme hier, ein wenig Spott da – selbst im Geist großzügigster Gelassenheit läßt sich immer noch sagen, dass das, was Andere zu diesem Gegenstand gedacht, gesagt, geschrieben haben, doch ein ziemlicher Schrott ist! Wenn nicht im eigenen Elend gerührt wird (was auch den Leser anrührt), muß halt der Andere dran glauben, dann ist eben ein bißchen Krieg angesagt!

Gibt es eine Alternative? Wenn ich mich wehre, wenn ich dem verrückten Impuls, dem Schönen durch Ausmalen des Häßlichen zu dienen, widerstehe, werde ich langweilig oder verstumme gleich ganz. Auch selber lesend bin ich kaum in der Lage, über die ersten Sätze eines „positiven“ Textes hinaus zu kommen: Gott, wie naiv! Es scheint unvermeidlich zu sein, einem Schreibenden die Sicht aufs Ganze als Pflicht aufzuerlegen – und wenn er sich dann heraus nimmt, der Welt zu applaudieren, und sei es nur bezüglich eines kleinen Insekts, das immerhin einige Millionen Jahre erfolgreich hinter sich gebracht hat, dann kann man ihn schon nicht mehr ganz ernst nehmen.

Bis hierhin ist gerade mal an der Oberfläche gekratzt. Aber will ich denn überhaupt tiefer? Ich wüßte nicht, wie ich das tun könnte, ohne in die beschriebenen Fahrwasser zu geraten. Gedichte schreiben, ja, das wäre eine Möglichkeit, oder malen, singen – alles Abschiede von der mir so vertrauten Form der Kommunikation, in der ich immer noch ausharre, die ich weiter betreibe, selbst wenn ihre Grenzen lange erreicht sind. Ich tue so, als wollte ich mit Anderen reden – aber in Wahrheit ist das schon lange nicht mehr der Fall. Was gäbe es denn auch zu sagen? Immer klarer steht mir vor Augen, dass es exakt drei Sätze sind, die wir endlos variieren können, mit mehr oder weniger Vergnügen:

1. Die Welt ist schlecht, das Leben furchtbar.
2. Die Welt ist wunderbar, das Leben ist schön.
3. Es ist, wie es ist.

Über alles, was damit gemeint ist, spannt sich natürlich noch ein ganzer Kosmos aus Psychismen, aus übergflüssigen Problemen erregungssüchtiger Egos, (klar, ich spreche von mir!) die beim Blick in die aufgehende Sonne nicht zur Sonne werden können, sondern sagen müssen: guck mal, was für ein toller Sonnenaufgang! Für dieses Leiden an der Großhirnrinde gibt es kein Heilmittel außer der Ausbildung der Fähigkeit, sie auf Standby zu schalten und nur im Bedarfsfall zu aktivieren – genau das übe ich aber nicht ein, indem ich darüber schreibe.

Immerhin muß ich mir nicht mehr vormachen, ich würde schreibend etwas „klären“, um hinterher daraus Nutzen zu ziehen. Es gibt da kein Um-Zu mehr, insofern bin ich mir schreibend selber voraus. Vielleicht ist das mit ein Grund, dass die Buchstaben immer wieder ihren Weg finden.

Jetzt geh ich mal ein paar Schritte um die Häuser. Zur Zeit kann ich nicht lange vor dem PC sitzen, der Körper sendet deutliche Signale. Sowieso warte ich darauf, dass mich die Muse küßt: die letzte Website, die in diesem Jahr für eine Kundin zu gestalten ist, muß das Licht der Welt erblicken. Und wie immer, kann ich es nicht auf die Stunde genau zwingen, spazierengehen ist dann besser, als auf eine weiße Fläche schauen.

Mir gefällt die Weihnachtszeit, endlich! Früher konnte ich das gar nicht wahrnehmen, so sehr war ich im Sumpf der Konsumkritik gefangen, in diesem nichts übrig lassenden „Das.ist-doch-nur“, das sich für den Gipfel der Erkenntnis hält, aber mit dem Leben dafür bezahlt. Jetzt freu ich mich an den Lichterketten, die in den Zeiten der Krise in Berlin offenbar besonders hell strahlen, hab mir beim ÖÖko-Stand einen „besonderen“ Adventskranz gekauft (irgendwo muss das „besonders“ ja hin…) und jetzt geh ich in den Supermarkt und kauf ein paar Lebkuchen. Manchmal sind sogar die Menschen in der Adventszeit fröhlich und freundlich – da mach‘ ich ein bißchen mit.

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Claudia am 07. November 2002 — Kommentare deaktiviert für Vom Kleben am Problem

Vom Kleben am Problem

Da sagt Einer dem Anderen, wie es funktionieren kann. Was richtig und was wichtig ist, wie die wahre Wirklichkeit aussieht und wie man sich selbst, das Sein, das wahre Wesen findet. Dass das Suchen nichts bringt. Dass man im Grunde immer schon dort ist, dass es also keinen Weg gibt. Dass alle, die von Wegen sprechen, lügen und klammheimlich eigene Interessen verfolgen. Dass immer schon kein Mensch dem andern helfen kann, weil doch – eigentlich – gar kein Problem existiert. Weil das „Ich“ eine Illusion ist, dass da glaubt, ein Problem zu haben. Dass der Verstand das Problem selber erzeugt, um eine Haut zu retten, die keinen Besitzer hat. Dass das absurd ist, total verrückt, und dass alle, die einen Weg aus der Verrücktheit weisen, irgendwie lügen und eigene Interessen verfolgen.

Wenn ich jetzt mehr dazu sage, bin ich auch wieder „dort“. Reihe mich ein unter die Ratgeber und Problemlöser oder unter diejenigen, die die Ratgeber und Problemlöser kritisieren: weil es kein Problem gibt, und kein Rat möglich ist. Weil ja alles, was einer sagen kann, nur von denen verstanden wird, die es schon wissen.

Nun springt der logische Verstand an, mischt sich sogleich ein in das, was eher als ein Stück Literatur, als wortreiche Illustration eines Gefühls und nicht etwa als Analyse oder Kritik gemeint war. Und Seine Majestät merkt an:

„Selbst wenn alles Ratschlagen obsolet ist, weil immer nur derjenige versteht, der es schon begriffen hat, so liegt doch hier eine Ebenenverwechslung vor. Im Relativen haben Aktionen ihren beschränkten Sinn – auch Analyse, Suche, Weg und Rat. Dass wir in der Lage sind, denkend absolute Blickwinkel einzunehmen, sollte nicht dazu führen, die Welt des Relativen als nichtig abzutun – schließlich leben wir darinnen, Tag für Tag, es gibt kein Anderland, auch wenn man sich vorkommen mag wie vom andern Stern.“

Schöner Einwand, doch wie entsetzlich langweilig! Diese Abstrahierungen! Um sie allgemein verständlich zu machen, könnte man sich unter tätiger Hilfe anderer auf hunderten von Webseiten und Diskussionsforen damit beschäftigen, „Erkenntnisse“ auf Erlebnisse und Ereignisse anzuwenden, bzw. diese aus ihnen heraus zu lesen. Im konkreten Einzelnen würde man die Thesen untermauern, beweisen, rechtfertigen, als Wahrheit verteidigen oder als falsche Vorstellung entlarven. Jede Menge schreiben, diskutieren, argumentieren, sich dabei Freunde und Feinde machen, vielleicht ein Gefolge um sich scharen, dem man – Ökonomie ist immerhin Leben! – mit Glück demnächst etwas verkaufen könnte (zu Weihnachten wollte ich endlich mal eine „Digital-Diary-CD“ produzieren, fällt mir da wieder ein…).

Kein Draht zum Dasein

Warum macht man das alles? Warum verbringen unzählige Menschen freiwillig große Teile ihrer freien Zeit damit, ÜBER DAS LEBEN nachzudenken und diesem Nachdenken Gestalt zu geben, es zu verbreiten und sich mit anderen darüber auseinander zu setzen, anstatt einfach zu leben? (Mr.Logos mischt sich quengelnd ein: „Denken ist aber doch TEIL des Lebens…“ Shut Up!)
Nicht aus Sorge um sich selbst oder um die Welt. Nicht einmal aus einem konkreten Leiden heraus (obwohl praktisch jeder von sich glaubt, er wäre dabei, Missstände zu bedenken, zu besprechen und damit an ihrer Beseitigung zu arbeiten). Sondern weil gar nichts anderes möglich scheint als das „Leben im Modus des Denkens“, das Leben in Distanz zum Dasein. üblicherweise KENNEN wir nichts anderes und KÖNNEN es also auch nicht. Das ist das kleine schmutzige Geheimnis der „drüber stehenden und schreibenden Klasse“, heute die überwältigende Mehrheit. Eine art Impotenz.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich vor ein paar Jahren zu einem Freund, der viele Dinge gern allein macht, sagte:

„Es gibt mir nichts, einen schönen Sonnenuntergang alleine zu erleben. auch ein schönes Bild in einem Museum, ein Spaziergang durch den Wald: wenn ich dabei alleine bin, sehe ich zwar, dass es schön ist, aber es ist ein schmerzliches Gefühl damit verbunden, weil ich es mit niemandem teilen kann“.

Auf dieses hier offen aber ohne Gewahrsein ausgesprochene Unvermögen, etwas Schönes zu genießen, war ich sogar noch stolz! Dass ich den Anderen brauchte, um über den Umweg SEINER Freude und SEINER Lust wenigstens mittelbar etwas vom Leben mitzubekommen, sah ich nicht, sondern hielt mich für einen besseren, weil gemeinschafts-orientierten Menschen. Was für eine Ignoranz! Das „schmerzliche Gefühl“ war die Empfindung eines Mangels – als würde man Schokolade in den Mund stecken und überhaupt nichts schmecken.

Wer meint, ich übertreibe, möge doch mal sein eigenes Leben betrachten: WO ist der Platz und die Zeit für reine Lebensfreude, für das Erleben und Genießen, für das Fühlen, das Staunen, das spielerische Experimentieren ohne in die Zukunft weisende Zwecke? (Wenn dir jetzt ganz viel einfällt, wunder ich mich, dass du diesen Artikel bis hierhin mitgelesen hast!).
Klar, praktisch jeder kennt die drastischen Genüsse und vielversprechenden Glücksbringer: Essen & Trinken, Sex, mancherlei Drogen, die aus der Welt des Denkens kurz heraus führen. Doch all das ist entweder sozial problematisch oder hat seinen Preis. Der Kampf gegen das Übergewicht ist allgegenwärtig, von einer freien, liebevollen und unbelasteten Sexualität kann keine Rede sein (dieser Artikel wird wegen der bloßen Erwähnung des Wortes „Sex“ jetzt mancherorts schon ausgefiltert!). Legale und illegale Drogen bringen nur kurze Zeit Freude und Abenteuer, schon bald machen sie krank, irre oder süchtig.

Da wendet sich der Geistesmensch mit Grausen und wird Analytiker, wird Grübler, Denker und Kritiker. Steht künftig darüber und daneben, beurteilt, beschreibt und diskutiert, zeigt gar als Philosophin oder Lehrer Wege auf, auf denen die anderen fortschreiten mögen, nur selber bleibt man allzu gerne sitzen. Und wenn das dann nicht für alle Tage reicht, gibt’s ja noch das Reisen: Sich räumlich verändern, so oft wie möglich in Bewegung von hier nach dort versetzen und mit immer neuen EINDRÜCKEN versorgen. Das lässt vergessen, dass diese Eindrücke eben nur kurz, nur im Modus der Neuheit funktionieren – ansonsten ist es wieder nichts mit dem Genießen, selbst der Berg Kailasch wird langweilig, wenn man wieder und wieder um ihn herum laufen müsste.

Eindrücke, die nachhaltig wirken sollen, brauchen ein passendes Medium, in das sie sich einschreiben können: ein offenes, weiches, empfindliches Medium, dessen Oberfläche RUHIG und aufnahmebereit ist. Unstetig-nervöse Aufmerksamkeit, die ständig von diesem zu jenem zappt, ist kontraproduktiv. Es braucht Stille, braucht Leere, damit Form quer durch alle Wirklichkeitsbereiche zur Entfaltung kommen kann.

Doch kaum etwas in unsrer Welt unterstützt uns darin, leer zu werden. Wir sollen (wollen?) ja auch nicht genießen, sondern arbeiten – oder zumindest engagiert nach Arbeit suchen. arbeiten, um Geld zu verdienen und/oder um beim andern etwas zu gelten. Wir wollen immer etwas WERDEN, anstatt einfach so miteinander Spaß zu haben, wie wir gerade sind.
Für jetzt lasse ich es mal dabei bewenden, ich halte das Sitzen einfach nicht mehr aus. Draußen ist ein wunderbar blauer Himmel, die Sonne scheint, ich werde zum billigen Inder gehen und etwas zu Mittag essen. auf einen runden Schluss, einen Clou oder gar einen ordentlichen „Weg“ muss die Welt heut verzichten (und wird wenig von mir und meiner Schreibe halten…) – dafür genieße ich jetzt den Tag! :-)

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