Thema: Lebenskunst, Philosophisches

Reflexionen über Wesentliches

Claudia am 31. Oktober 2002 — Kommentare deaktiviert für Oktober-Nachrichten aus Klingers Welt: Wohnen, Yoga, Wahrnehmung

Oktober-Nachrichten aus Klingers Welt: Wohnen, Yoga, Wahrnehmung

Zum Beispiel das Wohnen: Die Wohnung in der Gärtnerstraße ist jetzt gekündigt, spätestens Ende Januar werde ich also anderswo wohnen, und zwar allein. Wieder allein nach zehn Jahren Zweisamkeit, das ist schon ein Abenteuer! Allerdings bin ich guten Mutes, dass ich mittlerweile über genug Routinen und zu meinem Leben passende Gewohnheiten verfüge, um nicht völlig aus der Form zu geraten, wenn ich es nicht selber will.

Da sich bei mir – mal abgesehen von der Auflösung der Wohngemeinschaft mit meinem liebsten Freund – kein bleibender Wunsch nach Ortsveränderung eingestellt hat und ich den Aufwand des Umzuges fürchte, neige ich dazu, eine leere Wohnung im selben Haus zu mieten: etwas kleiner und mit einem Zimmer nach hinten hinaus, und damit wesentlich ruhiger. Mal sehen, ob das klappt, morgen hab ich einen Besichtigungstermin.

Yoga: Ruhiger muss das Zimmer sein, weil ich mich entschlossen habe, nach 12 Jahren Praxis endlich selber Yoga zu lehren: diesen wunderbar diesseitigen ZEN-Yoga meines Lehrers Hans-Peter Hempel, der mir mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen ist. In der letzten Woche hab‘ ich ihn um die Erlaubnis gebeten, Anfänger anzuleiten, und er hat zugesagt, mich zu unterstützen. Das zweite Zimmer wird also ein Yoga-Zimmer, genau wie bei ihm! Genau wie er werde ich niemals anstreben, ausschließlich vom Yoga zu leben, und also in der Lage sein, mit ganz kleinen Gruppen von vier bis fünf Leuten zu arbeiten.

Gestern früh war ich dann zum ersten Mal in der TU, wo Hans-Peter in einer Sporthalle einen Anfängerkurs für die Studenten gibt. Es ist dort zwar eine recht große Gruppe, doch um zu lernen, wie die Stunden mit Anfängern ablaufen, ist es optimal. Lang war ich nicht mehr in einem solchen öffentlichen Gebäude und die fast militante Hässlichkeit der Umgebung, die absolute Lieblosigkeit, mit der die Räume ausgestattet bzw. mit dem Notwendigsten voll geknallt sind, hat mich schon erschüttert! Aber egal, als die 14 jungen Frauen und Männer vor uns auf ihren Matten lagen und Hans-Peter damit begann, übend, zeigend, redend und berührend die Grundlagen zu vermitteln, war es eine Yoga-Stunde wie jede andere: ruhig, konzentriert, lehrreich – das Buddha-Feld breitet sich überall aus, wo man es lässt.

Der physische Raum, das fällt mir immer mehr auf, ist in unserer Welt ein Problem-Bezirk. Das geht über öffentliche Straßen und Plätze mit ihren Verwahrlosungserscheinungen, betrifft sämtliche unter öffentlicher Verwaltung stehenden Einrichtungen (Behörden, Unis, Krankenhäuser…), betrifft aber auch viele ganz gewöhnliche, durchaus gepflegte Veranstaltungsräume: man sitzt unbequem, zu viele Menschen drängen sich auf zu engem Raum, es ist zu kalt, zu heiß, zu zugig, zu ungelüftet, zu verraucht, Kochgerüche durchwabern Orte, wo man sich eigentlich auf geistige Themen konzentrieren will – überall ist der Grund derselbe: die Menschen SPÜREN NICHTS mehr, sind völlig DICHT und in ihr Grübeln, Wollen, Fürchten, Meinen, Planen versponnen. Und die Räume sind nur die äußersten Hüllen, es geht weiter mit den Klamotten: wenn ich mir das ganze Programm der Billigklamotten in den Massen-Läden so angucke, vor allem ANFüHLE, dann ist das meiste aus Vollsynthetik oder Mischgewebe, unbequem kratzend, Allergien unterstützend, Schweiß treibend, Hautatmung verhindernd – aber weil es modisch aussieht und billig ist, ziehen die Leute freiwillig solche Folterklamottten an und gewöhnen sich schon früh daran, den virtuellen Schein („wie mich die anderen finden, wie ich wirke…“) über das Sinnlich-physische Sein zu stellen und Letzeres nach und nach ganz zu vergessen.

Dass dann auch der Körper selber langsam aus der Wahrnehmung gleitet und jeder Bezug zur eigenen Befindlichkeit abhanden kommt, bemerken viele erst dann, wenn es brennt, wenn eine richtige Krankheit daran erinnert: Hey, es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als dein medialer Input dich täglich träumen läßt!

Aber darüber könnte man endlos Bücher schreiben, die dann ja auch wieder nur in voller Ignoranz des Körpers gelesen werden. Das ist nun mal nicht die Welt des Denkens, es bedarf einer Praxis, die alle Aspekte des Menschen – Gedanke, Gefühl, Körper – wieder ins natürliche Zusammenspiel bringt. Für mich ist das ZEN-Yoga, für dich kann es etwas anderes sein, Hauptsache, es gelingt, dran zu bleiben, damit die Wirkungen sich auch entfalten können.

Claudia Klinger, 30.10.2002

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Claudia am 20. Oktober 2002 — Kommentare deaktiviert für Herzgeist

Herzgeist

Zum letzten Eintrag „Über Sex und Selbst“ schreibt mir ein Leser:

„Kindsein – und entspannte Sexualität – heißt immer auch verantwortungslose Spontaneität, heißt Unbeständigkeit und Bestechlichkeit“.

Er gibt damit einer verbreiteten Furcht Ausdruck, die oft auch so formuliert wird: Wenn jeder machen würde, was er/sie will, würde doch das Chaos ausbrechen!

Ist das so? Beschreiben diese Befürchtungen eine (allen gemeinsame) Realität? Oder sagen sie allein etwas über denjenigen aus, der sie vorbringt? Das innere „Kind“, das hier gemeint ist, stand in meinem Artikel für das Gefühlswesen, das wir sind, für unsere Verletzlichkeit, Bedürftigkeit und Schwachheit, die wir im äußeren Leben so gerne hinter Masken verbergen – Masken, die sich bei manchen zu so festen Gefängnismauern verdichten, dass sie überhaupt nichts mehr spüren.

Die Verteidigungsanlagen, die wir gegen Angriffe von „außen“ errichten, machen uns fortlaufend einsamer, denn sie trennen uns von den anderen und vom Fluss des Lebens: wenn ich den Schwerpunkt meiner Bemühungen, meiner Energie und Aufmerksamkeit darauf verlege, völlig „cool“ und unangreifbar zu wirken, dann ist genau DAS die Barriere, die mich von menschlicher Gemeinschaft abspaltet.

Das ist allgemein verbreitet und doch völlig absurd: Jede und jeder kann bei sich selber ja leicht feststellen, dass es NICHT die coolen Typen, die unnahbaren Champions und Sieger-Figuren sind, die wir wirklich mögen. Wir bewundern und beneiden sie vielleicht, wollen ihnen nacheifern, sie evtl. besiegen und unterwerfen, wenn wir uns stark genug fühlen – aber fassen wir etwa Vertrauen? Können wir mit ihnen lachen, innerlich locker und fröhlich sein?

Die eigenen Gefühle zulassen – einschließlich Angst, Trauer, Einsamkeit, Verzweiflung – und nicht mehr unter den Vorbehalt zu erreichender Zwecke zu stellen, bedeutet, der reinen Zweckratonalität zu sterben. Ich werde mich nicht mehr „zusammenreissen“ und endlos selber vergewaltigen zugunsten einer Beförderung, wegen eines tollen Auftrags, oder um beim anderen Geschlecht besser anzukommen. Und das nicht etwa aus einer irgendwoher übernommenen Moral heraus, nicht wegen der weisen Worte eines Gurus, sondern weil ich im Lauf des Lebens feststellen konnte, dass NICHTS, aber auch gar nichts, was ich auf diese Weise erreichen und erringen kann, den Einsatz wert ist!

Freude empfinden, Liebe fühlen, Verbundenheit spüren – das sind „Vermögen“, die nicht durch ein Jagen, Raffen, Zupacken und Halten errungen werden, sondern durch ein los- und zulassen dessen, was ist. Wobei ich mit „dem, was ist“ nicht nur „die Welt da draußen“ meine, sondern ALLES, was ich spüre und wahrnehme: Die Traurigkeit genauso wie den Regen, die Wut genauso wie den Bäume-fällenden Orkan, die Schmerzen im Kopf, die Löcher in der Straßendecke, das Verlangen, berührt zu werden, den Milbenfraß auf den weiß blühenden Kastanien, Verspannungen in den Schultern, ausgetrocknete Blätter auf durstigen Bäumen – angst, Melancholie, abendrot, Sonnenschein.

Was mich trennt und wirklich einsam fühlen lässt, ist der „Erfolg“ des rechnenden Denkens. Wir sind von klein auf konditioniert, den Verstand einzusetzen, um uns vor dem Leben und seinen Veränderungen zu schützen, geradezu zu verbarrikadieren. Wir suchen Glück und Ekstase, weigern uns aber, den Schmerz zu spüren – doch es gibt immer nur die ganze Packung.

Es gibt und gibt und gibt, aber wir wollen nichts annehmen. Wir prüfen und sortieren aus, schalten allerlei Siebe dazwischen, bis fast nichts mehr durch die Filter kommt. Nach Sicherheit und Berechenbarkeit verlangend, bauen wir vermeintlich sichere Türme, hohe Zäune, feste Mauern, entwickeln für alles und jedes Vorschriften und DIN-Normen – bis wir die Welt zur Benutzeroberfläche, zur Negativ-Form des eigenen Zugriffs geformt haben, bar jeglichen Inhalts. Und dann erschrecken wir und verzweifeln an der Leere, am selbst gemachten Nichts.

Wieder durchlässig werden, das Zusammenspiel von Körper, Gefühl und Geist wahrnehmen, indem wir es einfach geschehen lassen. Den Atem nicht anhalten, sich dem hingeben, was ist – das bedeutet keinesfalls verantwortungslose „Spontanität“, wie manche es missverstehen. Krasser Egoismus ist geradezu das Gegenteil einer solchen Haltung bzw. Gelassenheit. Wenn ich nämlich nichts tue, um mich gegen schmerzhafte Gefühle abzuschotten, dann ist da keine Trennung zwischen „meinem“ Leid und dem Leiden des anderen. Gefühle sind wie Wogen von Energie, sie fluten durch uns hindurch ohne sich an Körpergrenzen aufzuhalten, wenn wir es zulassen: die angst des Kollegen vor der Kündigung lässt mich nicht unberührt, wenn er mir am Schreibtisch gegenüber sitzt. Die Enttäuschung und Einsamkeit der alten Frau, wenn ich zum versprochenen Besuch nicht erscheine, ist meine eigene Einsamkeit. Die Mutter, die auf der Straße ihr Kind schlägt – macht das nicht jeden wütend, der zusehen muss? Wobei WUT schon ein sekundäres Gefühl ist, eines, das ins Bewusstsein tritt, weil der ursprünglich mitgefühlte Schmerz abgeblockt wurde.

So geht eins ins andere über, nichts ist getrennt, nichts ist unabhängig. Allein unser (be-) rechnendes Denken substantiviert, errichtet eine Welt aus Gegenständen, die uns entgegen stehen, die wir dann lernen, als Bestand zu betrachten, als auszubeutende Ressource, als Mittel zum Zweck.

„Der Weg (das DaO) ist einfach, nur ohne Wahl“, heißt es in der „Meißelschrift vom Glauben an den Geist“, einer meiner Lieblings-ZEN-Texte. Wenn ich mich an der Tür stoße oder mir jemand einen Schlag versetzt, entsteht ein blauer Fleck, der sich dann gelb und grün färbt, bevor er wieder verschwindet. Das bedeutet „ohne Wahl“: mein arm, meine Muskeln, Zellen und Blutgefäße haben nicht die Wahl, diesem Verlauf etwas entgegen zu setzen. Wir aber glauben, wir könnten uns selbst und die Welt vollständig in den Griff bekommen, könnten das Leiden abschaffen und die Freuden behalten. Ein Irrtum, der uns in ein gestresstes freudloses Dasein stürzt – man schaue sich nur um, wie miesepetrig die meisten Leute vor sich hingucken!

Wenn du mir weh tust, weine ich. Wenn du nicht da bist, sehne ich mich nach dir. Wenn du lachst, lache ich mit und wenn du für immer gehst, werde ich lange trauern. So folge ich dem Herzgeist – nicht immer, aber immer öfter. ;-)

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Claudia am 15. Oktober 2002 — Kommentare deaktiviert für Über Sex und Selbst

Über Sex und Selbst

So langsam wird es besser mit dem „Maus-Arm“ – dabei hab‘ ich nur ein wenig die Stellung des Monitors verändert und sitze auch nicht weniger vor dem Bildschirm als bisher. Evtl. haben mir die homöopathischen Kügelchen geholfen, vielleicht ist es auch eine innere Haltungsänderung, die sich nach und nach in mein Leben schleicht und immer spürbarer wird. Warum nicht einfach sein, was ich bin, und tun, was ich möchte? Soll ich denn zehntausend Jahre Bücher lesen, in denen das empfohlen wird, und ansonsten vor allem darauf achten, niemandem auf die Füße zu treten und einen guten Eindruck zu machen? Immer stromlinienförmig, lieb und nett, gelassen und vernünftig: sei berechenbar, tu wenigstens so, als wäre das möglich!

Wer lebt eigentlich nicht „verhalten“, wer spürt um sich her keine „du sollst!“ und „du sollst nicht!“ ? Nicht nur, dass man meist in vorgezeichneten Bahnen lebt & arbeitet, man soll auch auf bestimmte Weise feiern, trauern, lieben, streiten, reisen und sogar meditieren. allein die Lehre vom richtigen Essen und Trinken ist derart komplex und in ständigem Wandel begriffen, dass deren Studium und Beachtung schon ganz allein alle freie Zeit fordern würde. Wir leben in der Info-Gesellschaft, und das bedeutet die Heraufkunft des Wissens, dass es unmöglich ist, sich vollständig von außen nach innen zu in-formieren, sich in Form zu bringen, so dass man passt – dass man in die Vorstellungen der anderen passt, denn diese sind eben auch nur Wunschwelten und angstwelten und keine gelebte Wirklichkeit.

Lothar hat einen rauswunderbaren Artikel über das Selbst-Sein geschrieben, verpackt in eine Geschichte von einem Theaterbesuch mit anschließender Diskussion. Es geht um das Coming Out eines Schwulen – aber eigentlich geht es damit um die Besonderheit, um das Außenseitertum und das Nicht-in-die-Welt-passen eines jeden. Um den Schmerz und die Verletzlichkeit, um das schwach und bedürftig-sein, um die große Diskrepanz zwischen dem üblichen Auftreten des großen welt-kompatiblen ICH verglichen mit dem „Kind“, das hinter den Masken und Schutzschilden lebt.

Dieses Kind zu verbergen ist in der Welt offensichtlich ein Muss – so scheint es zumindest. Nicht, weil wir uns etwa laufend motiviert fühlten, als dieses Kind etwas Besonderes anzustellen oder irgendwie gemeingefährlich oder „sozialschädlich“ zu werden: ich fühl mich schon ganz komisch, wenn ich mal einer Frau ein Kompliment über eine Klamotte mache, die ihr wunderbar steht und in mir die Begeisterung als Welle der Freude hochkommt! Ohne deshalb lesbisch zu sein, möchte ich sie umarmen, den Stoff anfassen, um sie herum gehen und sie ausschweifend bewundern – das ist doch nicht normal, oder?

Nächste Woche bin ich mit einer richtig alten (!) Frau aus dem Grunewald verabredet, wir gehen in ein Internet-Café am Ku’damm und ich zeig ihr die „unendlichen Weiten“, ich freu mich drauf! über den Verein der Freunde alter Menschen kam ich mit ihr in Kontakt. Vorher hab‘ ich jahrelang die Alten eher im Augenwinkel wahr genommen: unerreichbare, aus der Gesellschaft ausgegrenzte Gestalten, keine Ahnung, wie ich mich benehmen sollte, um mich ihnen zu nähern – ja, schon der Wunsch, gelegentlich mit Alten Menschen zusammen zu sein, scheint ein bisschen pervers, oder?

Und die Männer? Was ist mit der Sexualität? Ja, weiß denn noch irgend jemand, was im Kontakt zwischen den Geschlechtern „angesagt“ bzw. gut und wahr und richtig ist? Gerade las ich im „christlichen Blättchen“, das gelegentlich der ZEIT beiliegt, ein Gespräch zwischen Oswald Kolle (74) und Katja Kullmann (32) zum Thema „Ist die sexuelle Revolution überholt?“ (Für die Jüngeren: Kolle ist der große Aufklärer der Nation, der in den 60gern und 70gern den Sex unter der Decke hervor geholt und ins Licht des öffentlichen Bewußtseins gestellt hat).
Katja Kullman hat eines dieser immer gut laufenden Generationen-Bücher geschrieben: „Generation Ally“ zeigt die Überforderung der Um-30-Jährigen, die unter ihren eigenen Ansprüchen schier zusammen brechen. Rundum gefordert, sich überall erfolgreich selbst zu vermarkten und durchzusetzen, sind sie verständlicherweise kaum in der Lage, in der Sexualität Entspannung zu finden, hingebungsvoll zu sein, es einfach locker anzugehen. Und – so meint wenigstens Katja Kullmann – viele lassen es dann lieber ganz! Oder, und das ist nicht weniger irre, sie verfallen dem Romantizismus, sehnen sich nach der Sexualität als Mysterium: wenn schon alles so anstrengend ist, dann soll es wenigstens im Zwischengeschlechtlichen „einfach schnackeln“.

Nun ja, ich wünsch ihr viel Glück beim schnackeln, aber so einfach ist es nicht. Für mich zeigt sich mehr und mehr: Sexualität läßt sich nicht abtrennen vom Leben und in ganz bestimmte Container packen: der Beziehungscontainer, der One-Night-Stand, die kommerzielle Variante, die „Szenen“ – mit Grausen spricht Kullmann von den Swingerclubs als dem Gipfel der Spießigkeit („einen pinkfarbenen Stringtanga anziehen und in die Kneipe Swingerparadies 308 gehen“) und hat vermutlich ganz recht. Der Pornomarkt, der uns auch online als SPaM ständig mit seinen klebrig-langweiligen Inhalten überspült, ist eigentlich auch eher anlaß, die Lust auf Sex verblassen zu lassen – ich frag mich manchmal schon, wie es kommt, dass die Kundschaft mit so wenig zufrieden ist, mit derart „entschärfter Schärfe“! Hab‘ mir selber alles angesehen und muß sagen: ohne einen echten Menschen gegenüber ist das doch schnell öd! allenfalls erotische Geschichten les‘ ich ganz gern, aber die wirklich lesbaren sind tatsächlich dünn gesät: man muß nämlich auch bei Texten über „das eine“ vor allem eines können: schreiben!

Ich schweife ab, aber das Thema ist ja auch eher weitläufig und lädt auf Nebenschauplätze ein. Kurzum: ich sehe es heute eigentlich so, wie man es in den 70gern verkündet, aber nicht wirklich ernst gemeint hat: Sex ist wie essen & trinken, wie atmen und bewegen, – ja, aus entspanntem atmen entsteht ganz von selber eine Welle sexueller Empfindungen, gänzlich unabhängig von Personen, von sozialen Benefits oder sonstigen Verwertungs- und Verbannungsschubladen, in die wir Sex so gerne stecken.

In den Siebzigern hat es ziemlich radikale Gruppen gegeben, die versucht haben, der Erkennntnis „Sex ist etwas ganz normales“ eine soziale Gestalt zu geben: insbesondere Otto Mühls aa0 ist mir in denkwürdiger Erinnerung: eine Kommune mit täglichem Selbstdarstellungsritual und mit einem „Fickplan“. Da man wußte: „Jeder gesunde Mann kann mit jeder gesunden Frau und umgekehrt“, hatten sie einfach einen Terminplan, der festlegte, wer mit wem und wann. Dabei war jedes abgleiten ins Romantische und jedes Sich- Verlieben total verpönt: den Kleinfamilienvirus wollte man als Urgrund allen übels ja gerade austreiben!

Klar, dass das kein Modell für die Zukunft war, wie immer, wenn man aus neuen an- und Einsichten knallharte Rezepte schmiedet, ja Pflichten schafft. Im Grunde war es absurd: man wollte sich BEFREIEN und schuf doch nur neue, geradezu totalitäre Formen der Selbstvergewaltigung. Die sexuelle Bedürftigkeit wurde durch den Bumsstress abgelöst, man könnte lachen, wenn es nicht so traurig wäre!

Nun ja, die aa0 gibt’s lange nicht mehr, aber was sie sagten, stimmt immer noch: Sexualität ist überall und jederzeit existent, schwingt immer mit, mal mehr, mal weniger. Und bis heute ist es unser aller Versäumnis und Versagen, dafür noch immer keine Kultur entwickelt zu haben, die Sex aus den vielfältigen Schmuddelecken und Schubladen heraus holt. Ein Miteinander, das den Pornomarkt auf den Müllhaufen der Geschichte verabschiedet, weil Frauen und Männer sich selber genug sind – ach, was heißt „genug“, ich meine mehr, viel mehr.
 
Genug für jetzt, die arbeit ruft mich immer lauter, ich muß mich dem Reich der Notwendigkeit zuwenden. Sowieso ist das Reich der Freiheit eher keine kollektive angelegenheit, keine Sache, die man an „die Gesellschaft“ delegieren kann. Zunächst und zumeist geht es darum, das Kind sein zu lassen, dass ich immer auch bin und nicht immer alles kontrollieren zu wollen. Wir haben uns selbst und die Welt, die anderen und das Dasein als Ganzes nicht im Griff – wenn wir das endlich einsehen und danach leben könnten, wäre es so viel leichter, einander zu berühren.

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Claudia am 02. September 2002 — Kommentare deaktiviert für Routine und Gewohnheit – Mangel und Fülle

Routine und Gewohnheit – Mangel und Fülle

„Zwei Wochen weg von allem, das kann ich mir gar nicht mehr vorstellen!“ Ich sage es so dahin, als sie mir von ihrem Urlaub auf Gomera erzählt, höre mich diesen so selbstverständlich klingenden Satz sagen und wundere mich. Was ist dieses „alles“, von dem ich nicht weg will, das mich hält, fasziniert, mir das Gefühl gibt, „am Ball“ zu sein? Zwei ganze Wochen nur Sonne, Meer, Wind, Natur – wär‘ das denn nicht wunderbar? Im Geiste bin ich dort, sehe mich barfuß am Strand, sehe mich über Felsen klettern, den herben Duft südlicher Gewächse atmen, den weiten Blick genießen, der ein Gefühl von Zeitlosigkeit vermittelt: vor einer Million Jahre sah es auch schon nicht anders aus, ewig brechen sich die Wellen, wirbeln Gischt auf, verlaufen und versickern auf dem Sand – was ist Zeit?

„Ich würde in ein Internet-Café gehen“, sag ich zu ihr, bin im Geiste am Ende meiner Wanderung angekommen, hab‘ im Hotel geduscht, das Salz von der Haut gewaschen, mir frische Sachen angezogen und fühle Tatendrang. „Da war ich,“ sagt sie, „zehn Minuten kosten drei Euro. Es ist unglaublich teuer!“.

Der Flug, so hat sie mir erzählt, kostet fast nichts. Ich fliege nicht, also bekomme ich die allgemeine Entwicklung der Flugpreise hin zum Taxi-Tarif nur am Rande mit. Was ich nicht benutze, bedeutet mir nichts, selbst wenn es kostenlos ist. Aber wieder wundere ich mich: Die physische Bewegung durch weite Räume wird immer billiger, und doch zieht es mich überhaupt nicht weg! Das Gefühl, anderswo sein zu wollen, kenne ich kaum noch, erinnere mich nur dunkel, dass es früher immer wieder mal aufkam – doch eigentlich nicht als Verlangen nach Erholung, es war pure Unzufriedenheit mit dem, was gerade ist. Langeweile, Sehnsucht nach Abwechslung, nach neuen, ganz anderen Erfahrungen, nach einem Bruch der Routinen und Gewohnheiten, in denen mein Alltag kreiste.

Lob der Routine

Auch jetzt kenne ich Routinen, doch anders als früher schätze und pflege ich sie. Jeden Sonntag besuche ich M., meinen Ex-Lebensgefährten. Wir gehen spazieren, er kocht, wir essen und plaudern, setzen uns dann vor die Glotze: Lindenstraße, Weltspiegel, Tagesschau, Tatort, Sabine Christiansen – jeden Sonntag dasselbe, ich kann mich richtig aufregen, wenn irgend ein blödes Sportereignis die Gewohnheit durchbricht. Andere Routinen sind nicht so leicht zu haben, ich muss regelrecht um sie kämpfen: zum Beispiel die Mittagspause. Immer noch ist die mal um zwölf, mal erst um zwei. Manchmal koch‘ ich mir was, meistens tun es ein paar Brote, beim Essen lese ich die Tageszeitung, genieße das provinzielle Wir-Gefühl, das aus dem Lokalteil der Berliner Zeitung dräut, genieße auch, dass mir nicht mehr das geringste schlechte Gewissen den Appetit verdirbt, verstoße ich doch regelmäßig gegen das spirituell korrekte „Wenn ich esse, dann esse ich“. Ha! Wenn ich esse, esse ich nicht nur, sondern lese auch Berliner Zeitung! So what?

Routinen und Gewohnheiten lassen sich erst dann in ihrer wohltuenden Wirkung richtig schätzen, wenn es die eigenen sind. Solange ich noch danach strebte, in all meinem Tun und Denken irgendwelchen Idealen nahe zu kommen, höchsten Werten zu genügen, wunderbaren Utopien am eigenen Leib zum Durchbruch zu verhelfen – solange war mir im Grunde alles mühsam, sperrig, widersprüchlich bis hin zum Stress. So entstandene Routinen sind dann nur einzwängende Schubladen, in die man sich selber gesteckt hat, um die Weltrettung oder die ganz persönliche Gesundung voran zu treiben. Alles andere als nachhaltig, immer prekär, immer in Gefahr, plötzlich in irgend einen Exzess zu explodieren, in dem sich das Verdrängte, nicht gelebte zum Ausdruck bringt, dabei alle Gewohnheit und Routine, aber auch Wachheit und Wohlbefinden in den Abgrund reißend.

Vorbei. Keine Lust auf Urlaub, keine Neigung zu Exzessen, keine Sehnsucht nach dem ganz Anderen – was sollte das auch sein? Ich wüsste nicht, von was ich mich noch befreien sollte, und es gibt auch nichts, was ich unbedingt HABEN muss. Manchmal, in psychophysisch bedingt schlechten Momenten, deren Entstehen ich meist sehr gut herleiten kann, ist da ein Erschrecken vor der Leere: Und jetzt? Was soll ich denn nun machen? Wenn mir nichts fehlt, wonach soll ich streben? Wo bitte ist der Kick? In solchen Augenblicken sind Routinen wunderbar, bieten sie doch die Möglichkeit, sich von derart nutzlosen Gedanken einfach abzuwenden. Nicht abzulenken, sondern bewusst abzuwenden. Tomaten klein schneiden, Salz, Pfeffer, Olivenöl, beiläufig die Krümel auf dem Kühlschrank und die Reste der übergelaufenen Milch auf dem Herd wegputzen – locker lässt sich so ein philosophisch daher kommendes, mentales Tief umschiffen, das vielleicht vom zu späten Essen am Vorabend rührt, oder einfach im allgemeinen Beharrungsvermögen der Psyche gründet, die ihrerseits gern alte Gewohnheiten festhält.

Speziell die Gewohnheit, aus einem vermeintlichen Mangel heraus zu denken, zu fühlen und zu handeln, ist nicht ganz einfach abzulegen. Selbst dann nicht, wenn klar ist, dass das „Konzept des Mangels“ ein Konstrukt ist, keine Wirklichkeit. Die spezifische Verengung des Bewusstseins, die auftritt, wenn etwas Erwartetes nicht „wie erwartet“ geschieht, lässt regelmäßig vergessen, dass erst die Erwartung das Mangelgefühl erzeugt, an dem dann gelitten wird. Wünsche, die einfach „ein-fallen“, sind so ungesund wie leerer Zucker und Weißmehl, denn sie vernebeln den Geist, der nicht mehr wirklich hinsieht, was geschieht. Ihnen aufzusitzen heißt, nach einer selbst erdachten Konkretisierung zu streben, Scheuklappen aufzusetzen und das ganz Bestimmte zu suchen, das scheinbar einzig und allein jetzt den Mangel zu beheben vermag – eine leidbringende Illusion!

Aber…

Himmel noch mal, wenn ich mich jetzt so lese, fällt mir auf, dass ich ungefähr dieselben Gedanken schon vor zwanzig, dreißig Jahren in allerlei erbaulichen Büchern fand. Sie stapelten sich bei mir, ich las immer gleich mehrere auf einmal, schwankend zwischen einem heftigen, aber nicht konkretisierbaren Verlangen nach etwas „ganz Anderem“, und dem Trotz und Ärger, den solche Reden in mir hervor riefen. Wollten die mir meine Wünsche ausreden? Meine unzähligen Wünsche nach Nähe und Zärtlichkeit, nach Anerkennung, Bewegungsfreiheit, Resonanz, nach nützlichem Tun, nach Frieden, Freude und Sinn? SO zumindest formuliere ich HEUTE diese Wünsche – damals waren sie sehr viel konkreter: DIESER Mann, und sonst keiner, Urlaub nur dort, wo Pinien stehen, Wohnen in Gemeinschaft, aber nur mit diesem und jener, sinnvolle Arbeit, aber bitte ohne Anstrengung und „Druck-Termin“, Jeans, aber nur von Levis – und Geld, nicht viel, aber so eine Art Grundeinkommen, zu überweisen vom Staat, den ich ansonsten abschaffen wollte.

Es lag nicht in meiner Macht, zu wählen, wie ich auf die Hinweise in den Büchern reagieren wollte. Zeitweise bemühte ich mich allen Ernstes, von eigenen Wünschen Abstand zu nehmen – zum Glück immer nur kurz, denn dies ist ein Irrweg, der nur Zeit verschwendet. In der Regel folgte ich meinem Verlangen und versuchte, all das zu bekommen, worauf es sich gerade richtete. Letztlich ließ ich mir dabei von niemandem reinreden, nicht wirklich, allenfalls formulierte ich die Begründungen für meine Bedürftigkeiten ein bisschen passender, passend zum Gedankengebäude, dem ich gerade huldigte. Kein Buch, keine Autorität und nicht mal ein geliebter Mann konnten mich jemals davon abbringen nach dem zu streben, was mir aktuell als „das Glück“ erschien, gaukelnd am fernen Horizont wie eine verheißungsvolle Fata Morgana.

Und immer wieder hatte ich Erfolg, bekam, was ich mir wünschte, erreichte meine Ziele, verwirklichte meine Vorstellungen von einem „besseren Leben“. Lebte in Gemeinschaft mit Freunden, bekam die Männer, die ich wollte, hatte meine Überweisung vom Staat, arbeitete selbstbestimmt an der Verbesserung der Welt im Kreuzberg der 80ger-Jahre, bekam jede Menge Anerkennung – und es ging immer so weiter, in neuen Varianten, auf anderen Ebenen, immer dieses Streben nach etwas…, ja WAS eigentlich? Jedes Mal, wenn ich ein Ziel erreichte, wenn ein Wunsch sich erfüllte, fühlte ich die Leere. Das, was mich in Bewegung versetzt hatte, dieses innere Brennen, wurde durch den Erfolg, das Erringen, die Ziel-Erreichung in keiner Weise beantwortet. Ja, ich sehnte mich schon gleich zurück nach einem neuen Streben, das sich auch schnell einstellte: der Verstand findet jederzeit unzählige Mängel, die es noch abzustellen gilt.

Aber steter Tropfen höhlt den Stein. Irgendwann begreift auch die hartnäckigste Psyche, dass sie in einem Laufrad strampelt, und immer nur im Kreis. Es kommt nicht wie eine Erkenntnis, als ein „Aha-Erlebnis“, sondern schleicht sich langsam, fast unmerklich ins Leben wie das „Fading Out“ der Farben bunter Kleider, die durch vieles Waschen langsam ausbleichen.

Nun sitz ich auf der Erde neben dem still stehenden Laufrad. Alles ist gut, alles ist da. Ich sehe die Fülle, die mich umgibt und die neuerdings sogar dazu neigt, mich mit allerlei schönen Dingen zu überschütten, für die ich nicht erst strampeln muss. Gewöhnungsbedürftig ist es, zu bemerken, dass auf einmal andere Menschen ihre Sehnsucht nach dem „ganz Anderen“ auf mich richten – aber verdammt noch mal, ich bin es nicht!!!! Bin allenfalls wie ein Kapitel in dem Buch, das nur der versteht, der es eigentlich nicht mehr lesen braucht. Aber ich lass mich nicht zuhause stapeln.
Zeit zum Schreiben

Es ist fast Mittag. Wenn ich einen Diary-Beitrag schreibe, meist ohne vorher zu wissen, über was, lasse ich alles Andere warten, rufe keine Mail ab, hoffe, das Telefon möge nicht läuten und mich aus dem Schreibfluss reißen. Wenn der Fluss an sein Ende kommt, egal ob das Thema „abgehandelt“ ist oder nicht, stelle ich das Geschriebene ins Netz, korrigiere noch mal Fehler, füge Zwischenüberschriften ein und wende mich dann den 10.000 Dingen zu, die auf mich warten. Es ist spannend, E-Mail nicht gleich morgens um acht abzurufen, sondern erst um elf! Da können dann so richtige Hämmer dabei sein, die „immediately Action“ verlangen, womöglich gleich mehrere auf einmal. Die arbeite ich dann in ausgesprochen guter Stimmung ab, fühl mich nicht gehetzt, empfinde weder Stress noch ein schlechtes Gewissen – und letztlich geht alles viel schneller und effektiver ab, als wenn ich schon in der Frühe angefangen hätte. So ist mir das Schreiben fast wie ein Gang ins Fitness-Center, nur auf einer anderen Ebene: Zeit wird nicht verloren, sondern gewonnen. Und noch manches mehr.

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Claudia am 29. August 2002 — Kommentare deaktiviert für Von der Last, kreativ zu sein – eine Umwertung

Von der Last, kreativ zu sein – eine Umwertung

„Was denkt Ihr über Kreativitat?“ Eigentlich eine harmlose Frage, die da über die Mailingliste kommt. Vermutlich werden jetzt gleich ohne weitere Vorwarnung alle von ihren kreativsten Leistungen berichten, vom Brainstorming und von Kreativtechniken, vom anlegen eines Gartens, von hunderfünfzig tollen Webseiten und vom Töpferkurs im letzten Jahr – ohhhhhh, bitte bitte nicht!

Hier hat es 29 Grad, aber das ist nicht neu. Seit Wochen schon bringt mich der Jahrhundertaugust ins Schwitzen, daran kann es nicht liegen, dass mir die Galle hochkommt! Kreativitat? Au, ich bekomme Fluchttendenzen, Beißreflexe, Pickel im Gesicht und die Zehennagel kräuseln sich vor Schreck nach oben.

Für mich ist Kreativitat namlich lange schon und immer mehr eine Last, nicht etwa Lust – und zwar die eigene genauso wie die Kreativitat anderer. Die Wertschatzung dieses Begriffs hat insgesamt den Zenit weit überschritten, oh ja, ich beteilige mich gern daran, den Popanz „Kreativität“ zu entzaubern und auf die hinteren Platze zu verweisen. Aus den augen aus dem Sinn, lasst Buchhalter um mich sein!

In einer lang vergangenen unkreativen Zeit bzw. Gesellschaft, in der es üblich war, von festen Traditionen und Rollen bestimmt zu leben, immer alles „nach Vorschrift“ zu tun und insgesamt
wenig Möglichkeiten zur Wahl und zur Selbstbestimmung zur Verfügung standen, da bekam Kreativitat nach und nach und zu Recht einen geradezu märchenhaften Glanz. Man denke nur an die Wertschätzung des AUTORS, des Schriftstellers, des Künstlers, ganz allgemein des „Genialen“ – aber heute? Ich kenne ja kaum noch jemanden, der noch KEIN Buch geschrieben hat!

In unseren Tagen der extremen Individualisierung, wo alles erlaubt und weitgehend egal ist, wo ein jeder gefordert ist, zu machen, was er will, ist Kreativitat, gelinde gesagt, nichts Besonderes. Mitten im Zwang, sich dauernd neu zu erfinden und in veranderten Bedingungen zu Recht zu finden, womöglich als ICH-AG zu bestehen und stets INNOVATIV und FLEXIBEL zu sein, entsteht die Sehnsucht nach dem, was bleibt, was sich nicht Ändert, nach Dingen, Orten und Strukturen, die nicht von ungebremsten Kreativen seit der letzten Sichtung schon wieder GANZ ANDERS gemacht wurden.

Ich bin kreativ – und das ist nicht gut so!

Wie furchtbar, wenn man die Dinge, wie sie gerade sind, nicht einfach mal so lassen kann! Am besten OHNE inneren oder äußeren Kommentar, ohne irgendwelche Verbesserungsvorschläge oder gar Initiativen!

Statt dessen geht das Andersdenken, Anderswollen, Verbessern los. Sei es die Einrichtung eines fremden Klos oder das Eingabeformular auf einer x-beliebigen Website: immer seh‘ ich Fehler und Unvollkommenheiten, immer gibt’s Potential zu großen Verbesserungen, Verschönerungen und Veränderungen. Jeder Text kann selbstverständlich weit besser formuliert werden, jeder
Vorgang und jede eingeschliffene Verhaltensweise ist kritisierbar – man könnte doch statt dessen…. Man könnte SO VIEL. Will das etwa jemand anpacken? Bitte bitte nicht!

In mir entstehen ständig Geschaftsideen und „mögliche Projekte“ – durchaus gute Sachen, aber weder hab‘ ich immer Lust auf sie, noch ist das alles im Rahmen meiner Möglichkeiten, rein aus Zeitgründen schon nicht. Viele dieser Projektideen sehe ich wenig spater „auf dem Markt“, liege also nicht unbedingt voll daneben. Und jeses Mal schmerzt es, gute Vorhaben NICHT anzugehen, einfach NICHTS zu tun, die vielfaltigen Potentiale, die an jeder Ecke schlummern (lauern, drohen, ihre gierigen Zähne fletschen…), NICHT zu nutzen – die Welt einfach zu LaSSEN, wie sie ist.

Ich war mal mit einem Mann zusammen, dem erging es wie mir. Wir saßen zusammen in der Badewanne und schon beim Anblick eines Nagels in der Wand kam er oder ich mit einer neuen Idee… furchtbar! Nach dem Orgasmus keine romantischen Momente, sondern ein Verbesserungsvorschlag…. nicht mal in Bezug auf den eben erlebten Sex, sondern einfach so, aus dem weiten Feld unserer gemeinsamen Aktivitäten.

Ahhhhh und dann der Kern des Kreativen: das Malen, Bilder machen, Gestalten, die Web-Kunst, Fotoshop-Art und all das!!! Ich habe ja noch das große Glück, dass ich meine Kreativitat am PC ausleben kann (klick und weg ist der Kram!), wogegen Andere wirklich arm dran sind: Müssen namlich die reale Welt mit den unzähligen Ergebnissen ihrer Kreativität belasten. Am Anfang ist das noch unproblematisch, gern zeigt man den Freunden, was man im letzten Volkshochschulkurs Entzückendes produziert hat, hartnackig das innere Auge vor der Erkenntnis verschließend, dass sie das genauso öde finden wie Diashows aus dem Urlaub oder Geschichten vom letzten Arztbesuch.

Doch Achtung! Über die Jahre kann sich einiges anhäufen und eh‘ man sich’s versieht, lebt man in extrem vollgestellten Häusern und Wohnungen: alles wird gesammelt und gestaut, die Fotos von annodunnemal, die selbst gekneteten Tassen aus der Toskana, der dann doch nie getragene Schmuck aus dem Goldschmiedeworkshop, all die vielen Texte, Briefe, Bilder, Malereien, Basteleien, Schnitzereien, Strickwerke und Wandbehange – und alles verstaubt, wird nie wieder angesehen – manch einer findet sich als „Messi“ wieder (= die Krankheit, nichts wegwerfen zu können und zu vermüllen).

DU bist kreativ? Verschone mich!

Mein Advancebankkonto kündige ich in diesen Tagen – zum dritten Mal haben sie schon das Homebanking-Portal geändert. Es umfasst jetzt auch Internet-Brokerage mit all den Infos aus der Aktienwelt und vieles mehr (schauder!). Das brauch‘ ich alles nicht, ich will Überweisung, Kontostand, Dauerauftrag, Ende. Sie sind mir zu kreativ dort, genau wie viele Andere, die ständig an der Welt herumbosseln, Synergien nutzen, Produktlinien einstampfen und neue erzeugen und mich damit zum erneuten Studium irgendwelcher Anleitungen, Handbücher und Hilfedateien zwingen. Seit Jahren weigere ich mich erfolgreich, neue Features und Programme einzusetzen, solange ich nicht genau das brauche, was sie an MEHR zu bieten haben; Und was den PC angeht, lebe ich gut und störungsfrei nach dem berühmten Motto: Never touch a running system!

Nicht, dass all das über die Möglichkeiten meiner kleinen grauen Zellen ginge, keineswegs (hab schließlich auch mal ’ne Weiterbildung zur EDV-Fachkraft hinter mich gebracht). Ich denke nur nicht im Traum daran, Zeit und Energie im Umgang mit Hilfsmitteln und Werkzeugen zu verschwenden, wenn es nicht sein muss. INTELLIGENT ist für mich heute, was Lernen minimiert, Informationen schon gleich im Vorfeld vermeidet und das Gehirn von Texten, Daten und reinen HowTo-Inhalten weitestgehend verschont. Da bleibt nicht viel zu tun für Kreative, sorry!

Und die Gegenstände? Die Welt der 10.000 Dinge? In den Kaufhäusern sieht jedes einzelne Objekt nach einem Designer-Wunderwerk aus – daneben bin ich haßlich! Die Dinge sind es, die glitzernd auf dem Thron sitzen, und wir stehen alle in der Schmuddelecke und genügen nicht. Also versuchen wir, selbst zum Ding zu werden und dieses Ding dann zu verschönern. Deshalb die derzeitige Tatoo- und Piercing-Welle, all das vielfaltige Body-Styling bis hin zu pathologischen Auswüchsen wie das „Ritzen“. Für die unauffälligere Mehrheit gibt’s die Schönheitsoperationen und die Nervengift-Spritzen für ein glattes (weil gelahmtens) Gesicht.

Jaaaaa, wir MACHEN WAS aus uns und wer da nicht kreativ ist, hat schlechte Karten. Jeder will und soll und muss „etwas Besonderes“ sein – wie anstrengend, wie trennend auch. (Mögen wir denn die Leute, die so toll aussehen, wie wir gern sein wollen?) alles soll schöner sein, als es jetzt ist – und immer so weiter! Jeder ist kreativ und tut alles dazu, noch etwas zu finden, wo
der persönliche Verschönerungsdrang gnadenlos ausgelebt werden kann – zu Lasten einer Welt die so müde von alledem ist, deren Müllberge schon so hoch und deren Seelen verwirrt sind von all dem
allzu Vielfaltigen und immer wieder Neuen und anderen.

Ach, wie muss das gemütlich gewesen sein, damals, als sich niemals etwas änderte außer den Jahreszeiten! Als niemand „sich in-formieren“ und nachdenken musste, weil sowieso immer schon klar war, was man jetzt WIE tun musste. Als das Kreative dem GENIE überlassen blieb, einer Art Märchengestalt, die gottlob im richtigen Leben nur sehr, sehr selten vorkam.

Falsch? Ja, ja, ich weiß, es war natürlich auch eine furchtbare Welt, statisch und dogmatisch, voller Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Man hatte allen Grund, zu rebellieren, umzugestalten, in die Fremde zu ziehen, Neues anzufangen, die Welt auf den Kopf zu stellen – aber nun steht sie da und rotiert. So etwas wie EIN MITTLERER WEG ist uns offenbar nicht gegeben. Wir oszillieren zwischen den Extremen und gucken zur Entspannung Filme an, in denen alles in die Luft fliegt.

Kreativitat? Nein danke. Nicht im Jahr 2002.

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Claudia am 05. Juli 2002 — Kommentare deaktiviert für Nähe und Verbindlichkeit

Nähe und Verbindlichkeit

Mal frische Luft schnappen. Ich stehe auf und will die Balkontür öffnen, da sehe ich den Spatz. Am Rande des Betonbodens, auf dem noch die große Pfütze vom letzten Regen steht, hüpft er zögernd vorwärts, schaut suchend um sich, guckt nach rechts, nach links – jetzt hat er mich bemerkt! Ein kurzes Erschrecken und weg ist er.

Mich packt prompt das schlechtes Gewissen, denn ich weiß, was der Spatz gesucht und nicht gefunden hat. Gestern noch, vorgestern und auch schon vor einer Woche hatte ich nämlich auf Fenstersims und Balkonbrüstung Brotreste ausgelegt. Der Wind hatte die Brosamen verweht und über den Boden verteilt, wo sie fein säuberlich von den Spatzen aufgepickt worden waren. Ja ja, ich weiß, weder ist es Winter, noch sind Spatzen „schützenswert“, im Gegenteil, sie gelten als die Allergewöhnlichsten unter den Vögeln. Aber egal, lieber seh‘ ich Spatzen auf dem Balkon als gar keine Vögel – so dachte ich zumindest gestern, vorgestern und vor einer Woche.

Heute aber hab‘ ich es vergessen. Ach was, das wäre schon zuviel gesagt, ich war einfach auf einem anderen Stern, beschäftigt in einer der vielen Welten, die mein Leben ausmachen und doch nicht allzu viel miteinander zu tun haben. Und nur ganz ganz wenig mit Vögeln.

Zum Beispiel gibt es keine Spatzen dort, wo ich gerade versuche, per E-Mail die Verwendung eines FTP-Programms Schritt für Schritt verständlich zu erklären. Auch nicht in den virtuellen Gemeinschaften und Informationsquellen, wo ich gerade für einen Interessenten erforsche, wann eine private Homepage ein Impressum braucht. Himmel, jene Welt ist dafür voll von lauernden Monstern, sogenannten „abmahnanwälten“ die einen Unwissenden hinterrücks überfallen und fünfzigtausend Euro fordern können, wenn man etwas falsch macht. Weit fürchterlicher also als ein realer Dschungel mit echten Würgeschlangen. Ich schaudere und mach‘ mich davon, sende die gesammelten Erkenntnisse noch als Warnung an liebe Freunde und rufe schließlich – Erholung suchend – meine Privatmail ab.

„Ich will dich“, „Get White Teeth Fast“, „Nachrichten von deinem Single-Finder-Team“ – ich schlage mich durch das übliche Gestrüpp aus unverlangter Werbemail und finde tatsächlich eine RICHTIGE Botschaft. Ein Bekannter spinnt einen Gesprächsfaden weiter, der schon vor Wochen abgerissen war, einfach unterbrochen, obwohl wir uns sogar offline getroffen und von angesicht zu angesicht geplaudert hatten. Verbindlichkeit ist eines seiner Themen – Himmel noch mal, ich geh‘ jetzt SOFORT in die Küche, schneide das alte Sesam-Vollkornbrot auf und füttere erst mal die Spatzen!

Verbindlichkeit? Was ist das eigentlich und existiert es noch in den Zeiten der Netze? Wenn ich „potenziell“ immer sofort alles haben, abrufen, ordern, auswählen, in mich hineinfressen, kaufen, genießen und verbrauchen kann, ja sogar soll – was bedeutet dann noch „Verbindlichkeit“?

Das Wort scheint ein Überbleibsel aus Zeiten des Mangels zu sein, wo man sich darauf verlassen können musste, dass unter ganz bestimmten, aber immerhin bekannten Bedingungen jemand da sein wird, für MICH da sein. Ich werde verlässlich bekommen, was ich brauche, seien es materielle Dinge, sei es Schutz, Zuwendung, Fürsorge, Zuspruch – oder einfach eine Gelegenheit, mich fallen zu lassen.

Achtung, hier gerate ich gefährlich nah‘ ans Therapie-Idiom: komm, lass dich gaaaaanz fallen, lass einfach los… Wünschen wir uns etwa Verbindlichkeit, um wenigstens zu bestimmten Terminen wieder Kind sein zu können? Will ich berechenbare Verhältnisse, damit ich psychisch und geistig einschlafen kann? Zumindest ist es bemerkenswert, dass der Hang zur Verbindlichkeit erst mit zunehmendem alter so richtig ins Bewusstsein tritt. In jungen Jahren dominiert die Sehnsucht nach Freiheit, nach Veränderung, nach dem Bruch mit dem allzu Bekannten und Verlässlichen. Spontaneität und Echtheit sind hohe Werte. Keinesfalls will man sich anpassen, womöglich verbiegen, nur um sich in vermeintlich sicheren Bahnen bewegen zu dürfen. Schlimmer noch: Dem Onkel Willy nach dem Munde reden, weil der zu Weihnachten immer das Scheckbuch zückt? Niemals! Zwar ist so eine Liebedienerei nicht dasselbe wie Verbindlichkeit, aber fängt es mit dem fraglosen Einhalten all dieser unausgesprochenen Verabredungen und Erwartungen nicht schon an?

Haben nicht alle Beziehungen etwas Korrumpierendes? Keine Frage, ich brauche Verbindlichkeit, ich sehne mich nach „Nähe“ und möchte gerne MEHR Menschen kennen, denen ich vertrauen, auf die ich mich verlassen kann. Dass ich dieses Bedürfnis spüre, das Gefühl gut kenne, heißt allerdings nicht, dass es damit schon „gut so“ ist. Die Rückseite der Medaille steht mir ebenso im Bewusstsein, die Unfreiheit, die Gebundenheit, ein Gefühl des Ausgeliefertseins und der Machtlosigkeit, das bis zum Ekel gehen kann. Als Kind wurde mir gelegentlich flau im Magen, wenn ich an der Hand meiner Mutter treppauf zur Wohnung unseres Drei-Generationen-Haushalts steigen musste. Ich war erst vier Jahre alt und fühlte mich zum kotzen, wusste aber nicht warum. Es hätte auch keinen erkennbaren Grund gegeben, den ein Beobachter hätte nennen können. Meine Kotzgefühle waren einfach eine Reaktion auf die vielfältigen, meist unter der Decke gehaltenen Konflikte und Spannungen zwischen Vater und Mutter, Eltern und Großeltern – aber es war immerhin „die Großfamilie“, der heut‘ von vielen nachträglich so gern gerühmte Hort der Sicherheit und Wärme.

Befreit vom Druck der Verhältnisse: zu kalt?

In den wunderbaren Atbauwohnungen mit den hohen Decken wohnen wir gerne, aber die Verhältnisse der Menschen, die früher darin lebten, haben wir mit Freude abgeschafft, haben uns weitgehend befreit, zu tun und zu lassen, was wir mögen. Jeder darf seinen eigenen Entwurf leben und diesen so oft wechseln, wie er es vermag; darf denken, sagen, schreiben, was immer ihm beliebt (im Rahmen der Gesetze, versteht sich, die aber vergleichsweise große Freiräume zulassen). Die Welt wird immer komplexer, es gelingt kaum mehr, für oder gegen etwas zu sein, wenn man nicht bei den Banalitäten der Oberfläche stehen bleiben will. Meinungen taugen also immer weniger dazu, Verbindlichkeit zu transportieren, sie wechseln einfach zu schnell oder existieren gar nebeneinander in einem allumfassenden Sowohl-als-auch. Was aber dann? Woher sollen die „Konstanten in menschlichen Beziehungen“, die man so gerne hätte, eigentlich kommen?

Der Partner, die Familie, der Clan, das Dorf oder die Nachbarschaft – all diese Beziehungen und Bezüge, die früher das ganze Leben bestimmten, haben ihre einstige Macht, ihre Bindungskraft aufgrund konkreter ökonomischer Bedingungen verloren. Diese art Verbindlichkeit haben wir gekündigt, uns von konkreten Mitmenschen emanzipiert und statt dessen abstrakte Systeme geschaffen. Das soziale Netz gibt Sicherheit, das Rechtssystem erzwingt Berechenbarkeit – war das nicht eine super Idee? Frei von Zwängen und Notwendigkeiten müsste sich so das Zwischenmenschliche doch eigentlich optimal entfalten können – warum nur stimmt sie auf einmal nicht mehr, diese sozialdemokratische Utopie? Hat es äußere Gründe, weil unser Export-abhängiger Wohlstand durch weltweite Konkurrenz angegriffen wird? Oder ist es einfach die Kälte des „Lebens mit den Systemen“, die immer unerträglicher erscheint?

Der Rollback ist jedenfalls im Gange, nicht erst seit gestern. Das Unbehagen an den erkämpften Freiheiten, das Leiden an der Unverbindlichkeit und „Beliebigkeit“ wird immer stärker. Die Errungenschaften der 68er und Post-68er verschränken sich lange schon mit den Bedürfnissen des alles durchdringenden Marktgeschehens und der damit einher gehenden Rationalisierung. Flexibilität, Mobilität, alles verändert und beschleunigt sich – wir kennen den Sound der Zeit und halten uns immer öfter die Ohren zu. Wo meine Großmutter noch darauf zählen konnte, dass zumindest die Farbe und Form ihrer acht verschiedenen Tabletten von Tag zu Tag gleich blieb, schwindet momentan selbst diese kleine Konstante des alltags im Zuge der Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen dahin. Nurmehr „Wirkstoffe“ darf der arzt verschreiben, und der Apotheker sucht dazu die preisgünstigsten Tabletten heraus. Völlig vernünftig, ja sicher – aber wohin mit dem Unbehagen, das mit all diesen Vernünftigkeiten über uns kommt? Vor manchen psychiatrischen Einrichtungen stehen die Menschen schon Schlange (wollen „sich fallen lassen“..), wie mir dort arbeitende glaubwürdig versichern. Und wie viele Individuen mag es geben, die sich in die Haltung eines amok-Läufers so richtig gut einfühlen können?

Hallo, hier bin ich! Und du?

Die Spatzen da draußen lassen es sich gerade richtig gut gehen. Wenn ich ans Fenster trete, bemerken sie mich zwar, flüchten aber nicht mehr gleich. Bloß jetzt nicht hektisch bewegen! Ha, sie sehen mich, behalten mich im augenwinkel, fressen aber trotzdem weiter. So schnell entsteht Nähe aus Zuwendung und Verlässlichkeit, zumindest bei Spatzen. Ist es bei uns denn wesentlich anders?

Und was heißt überhaupt noch „Nähe“? Wir sind doch überall-zu-jeder-Zeit erreichbar – per Handy, per E-Mail, per SMS rufen wir uns gegenseitig zu: „Hallo, hier bin ich, bist du auch da?“ Dieses Hereinbrechen der Stimmfühlungslaute, mit denen wir uns ständig neu aneinander ausrichten wie es Gänseschwarme tun, ist die grundstürzendste Veränderung in Sachen Nähe seit Erfindung der Sprache. Die Tugend, Verabredungen richtig ernst zu nehmen und pünktlich zu erscheinen, verliert so einfach den Boden, auf dem sie entstand. Es ist ja jederzeit möglich, Termine den geänderten Bedingungen entsprechend zu verlegen – und das wird auch zunehmend gemacht. Natürlich müssen dann alle von einer Verlegung Betroffenen in der Folge auch IHRE Termine verlegen – und so weiter und so fort, bis der ganze Gänseschwarm einen Schwenk nach links gemacht hat.

Der Vogelflug am Himmel hat etwas wunderbar Elegantes. Im Herbst schaue ich den Gänsen nach, bewundere die Pfeilformationen und bin tief berührt. Warum nur empfinde ich die technisch implementierte „Stimmfühlungs-Ära“ nicht als ebenso angenehm? Im Gegenteil, es kommen gelegentlich Gefühle auf, wie ich sie als Vierjährige empfand, als ich an der elterlichen Hand das Treppenhaus hochsteigen musste. Ohne zu wissen, was dagegen einzuwenden gewesen wäre, wollte ich einfach nicht!

Es sieht so aus, als bekäme ich auf meine alten Tage noch mal Lust, Sand im Getriebe zu sein. Einfach so, ganz unideologisch, aus rein ästhetischen Gründen. Da ich immer weniger im Außen nach dem suche, was mir gerade fehlt, bin ich auch kaum mehr korrumpierbar und kann es mir besser leisten als in meinen „wilden Jahren“.

Nähe? Je näher ich mir selber komme, desto näher bin ich dem anderen. Und sobald ich mich verbindlich verhalte, bekomme ich Verlässlichkeit zurück.

Es gibt kein Problem. Nur die Freude am aufschreiben.

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Claudia am 03. Juli 2002 — Kommentare deaktiviert für Die Bewegungsmeisterin

Die Bewegungsmeisterin

Eigentlich ein ganz normales Treffen. Gemütlich sitze ich mit zwei lieben, langjährig bekannten Kollegen auf der Veranda einer frisch angemieteten Idylle am Rande Berlins. Ich bestaune den freundlichen Garten, die waldreiche Umgebung: mitten im Grün zu wohnen ist doch wirklich wunderbar! Noch dazu sind es kaum fünfzehn Autominuten bis zum Kudamm, wenn man es versteht, die richtige Autobahnauffahrt zu finden. Auf dem Herweg ist mir das leider nicht gelungen.

Immerhin bin ich angekommen. Mein Orientierungsvermögen im realen Raum ist nämlich mehr als beschränkt, allenfalls für kleine Fußwege auf bekanntem Terrain ausreichend. Wenn ich wirklich einmal weitere Strecken fahre (also nicht nur bis zum Fitnesscenter, sondern auf die andere Seite der Stadt), quäle ich mich mit dem Stadtplan von Ampel zu Ampel, schaffe es niemals wirklich, mich in der kurzen Haltephase ausreichend zu orientieren, verärgere regelmäßig Autofahrer hinter mir, die mich hupend daran erinnern, dass jetzt grün ist. Mit dem quadratmetergroßen Plan über dem Lenkrad kämpfend, behindere ich andere Menschen in ihrem Recht auf ein schnelles Fortkommen, weil ich selber da einfach einen Knacks in der Birne habe! Selbst nach über 20 Jahren Berlin ist keine Besserung in Sicht – ätzend!

Was ich eigentlich erzählen wollte: Wir sitzen also auf der Veranda und plaudern gemütlich über unsere aktuellen und künftigen Projekte, während im Wohnzimmer, das sich zur Veranda hin öffnet, die 12jährige Tochter meines Kollegen auf eine kleine Trommel einschlägt. Erst haut sie eine Zeit lang auf den hölzernen Rand, dann auf das Trommelfell, dann auf ihre eigenen Oberschenkel und zur Abwechslung auf die Sitzfläche der Couch. Schließlich greift sie sich ein kleines Holzschränkchen und trommelt darauf weiter, ja, jetzt wird es richtig laut! Wir schauen ihr zu, ohne Ärger, wissen wir doch, dass sie nicht hören kann: Nicht den Ton, den sie der Trommel oder anderen Gegenständen entlockt, nicht unsere Stimmen, nicht das Radio, nicht das Rauschen der nahen Autobahn und auch nicht das Zwitschern der Vögel im Garten. Vera weiß nicht einmal, dass ich gekommen bin, dass eine Fremde mit ihrem Vater auf der Veranda sitzt, seit Stunden schon. Vera sieht nicht und hört nicht, Vera ist taubblind.

Was für ein Leben muss das sein, so ohne Licht, ohne Farben, ohne Töne? Oft hab‘ ich mich das gefragt und automatisch angenommen, es müsse leidvoll sein. Das wird mir jetzt erst richtig bewusst, wo ich Vera zusehe: ein Mädchen, das kein bisschen leidend wirkt, sondern fröhlich vor und zurück schaukelt, trommelt, alle erreichbaren Gegenstände betastet, auf den Boden schlägt – immer bleibt sie irgendwie in Bewegung, ruckelt hin und her, wippt auf und ab. Flexibel wie ein Schlangenmensch schlägt sie die Beine übereinander, knickt spielerisch in der Hüfte ab, wiegt nun liegend die verknoteten Beine auf- und nieder. Yoga-Übende kennen eine ähnliche Haltung: der mit dem Lotus-Sitz kombinierte „Fisch“. Nur dass es den meisten Yoga Übenden ziemliche Mühe macht, die Beine derart zu verschränken.

Anders als ich gedacht hatte, spielt das taubblinde Mädchen ganz für sich. Lange Zeit vergeht, ohne dass sie etwas oder jemanden braucht. Wir unterhalten uns und sie spielt und schaukelt dahinten, es ist kein Problem. Als wir später um den Kaffeetisch sitzen, verdrückt sie in Windeseile kleine, für sie zurecht geschnittene Käsebrote – dann sitzt sie rittlings auf Vaters Schoß, schaukelt wieder weiter, schlägt ihm mit beiden Händen auf den Rücken, kuschelt sich in seine Arme, stößt ihn mal eben heftig mit dem Kopf, weint sie jetzt etwa? Ich begegne ihr heute zum ersten Mal und kann nicht gleich alle Regungen und Bewegungen deuten. Immer seltsamer erscheint mir auch die Tatsache, dass sie nicht weiß, dass ich da bin. Andrerseits: Sie einfach so berühren geht nicht, das wäre vermutlich äußerst erschreckend. Also sehe ich den beiden nur zu, diesem ständigen Fluss der Bewegungen: schlagen, tätscheln, streicheln, massieren, schaukeln, umarmen, drehen, wiegen, klopfen – Kommunikation durch Berührung. Erst wirkt es ein wenig wunderlich, doch je länger man zusieht, desto selbstverständlicher wird es. Unser Gespräch über eine Datenbank für verschlüsselte Mailadressen wird dadurch jedenfalls nicht gestört.

Es ist schon Nachmittag, bald werde ich die Heimreise nach Friedrichshain antreten. Seit einiger Zeit schon bin ich aufgestanden, gehe plaudernd und gestikulierend vor dem Tisch auf und ab, Himmel, es ist wirklich öde, so lange reglos auf einem Stuhl zu sitzen! Ich verlagere das Gewicht vom rechten auf den linken Fuß, massiere ein bisschen den Oberarm, trete vor und zurück, stelle mich auf die Zehen und wippe auf und ab. Ich genieße den Kontakt der Fußsohlen mit dem Parkettboden – Zehen, Ballen, Ferse, und dann wieder umgekehrt. Mit den Fingern möchte ich eigentlich gern mal auf diesen schönen Holztisch trommeln – was ist nur los, hab‘ ich zuviel Kaffee getrunken?

Nein, ich merke erstaunt: es ist nicht der Kaffe, es ist Vera. Das Mädchen ist hochgradig ansteckend! Ihr Sich-Bewegen-wie-es-gerade-kommt macht Lust, es ihr nach zu tun. Für den Verstand wirkt dieses „Herumwuseln“ erst einmal völlig verrückt, der Körper aber weiß Bescheid und wird neidisch, möchte auch in diese Freiheit eintreten, sehnt sich geradezu danach, das ihm eigentlich zugehörige Universum des Spürens ebenso lebendig zu erforschen und zu beleben. Da ist nicht Verrücktheit, nicht Störung, nicht einmal Behinderung. Sondern einfach Bewegung, unbehinderte Bewegung, das, was da ist, wenn man mal vom Hören & Sehen absieht. Nicht nur bei Vera, sondern bei jedem, bei allen, auch bei mir: es ist der Rhythmus, wo ich mit muss!

„Stell mich doch mal vor!“, sag‘ ich zum Vater und strecke meine Hand aus, Handfläche nach oben. Ganz spontan kommt mir diese Bewegung richtig vor, eine Einladung zur Berührung. Aber leider – ich dachte es mir schon – ist es für heute zu spät für eine Kontaktaufnahme. Es wäre ja nicht nur ein kurzes Handschütteln, wie es uns Sehenden und Hörenden genügt, ja, wie wir es – zumindest im Westen – auch schon weitgehend abgeschafft haben.

Schade. Es hätte mir jetzt bestimmt großen Spaß gemacht, mich einfach in diese Spontaneität fallen zu lassen. Einfach tun, was der Körper tun will, nicht mehr ruhig und still und aufrecht und „konzentriert“ auf dem Stuhl sitzen, sondern „im Fluss sein“, das Gegenüber und die ganze Welt berührend erkunden – es ist wie Lust auf Tanzen.

Bestimmt werde ich einmal wiederkommen. Ich verabschiede mich, setze mich ins Auto, finde diesmal dank genauen Anleitungen unproblematisch den Weg in die City. Während ich durch Kreuzberg fahre, gehen mir vielerlei Gedanken durch den Kopf. Über „Behinderung“, bzw. das, was wir so nennen. Wie wir aus all diesen Abweichungen von der Norm so ein Riesenproblem machen: nicht nur ein organisatorisches, pflegerisches Problem, sondern vor allem ein Problem im Kopf und im Herzen. Wir sehen immer nur das Defizit, das, was den „Behinderten“ (im Moment find‘ ich das Wort irgendwie komisch) fehlt, aber niemals das, was sie uns – deshalb! – voraus haben. Und schon gar nicht das Potenzial, das sich aus diesen Andersartigkeiten, die auch Fähigkeiten sind, ergeben könnte.

In einer anderen, weniger verrückten Welt wäre Vera nicht Problemfall, sondern Therapeutin. Zu für Körperarbeit oder Massagen üblichen Stundensätzen von 30 bis 80 Euro würde sie Menschen empfangen und behandeln, indem sie einfach auf IHRE Weise mit ihnen kommuniziert. Ich denke an verspannte, neurotische Menschen, an alle, die steif wie ein Stock nur aus dem Kopf leben, an die auf vielfältige Weise von Ängsten geplagten, an alle, die man einfach mal heftig schütteln müsste, damit sie von ihrer persönlichen Macke herunter kommen. Aber eben auf eine Art, die nicht noch mehr angst macht.

Nicht zu vergessen die vielen, die – gesund aber unheilbar unzufrieden – gern allerlei Workshops, Übungssysteme und „Behandlungen“ ausprobieren und gut bezahlen. Vieles davon, wie etwa Yoga, Feldenkreis, Alexandertechnik, Shiatsu, etc., bedeutet das Ein- oder ausüben sehr kontrollierter Bewegungen. Es gibt aber auch Methoden, die das Gegenteil lehren bzw. ermöglichen sollen: Tanzen, intuitiv massieren, „dynamische“ Meditation, Körperbemalungen, vielerlei Übungsweisen, die das „Ki“ in spontanen Bewegungen erlebbar machen sollen – oh, man kann da jede Menge Geld los werden!

Andrerseits gibt es Taubblinde, die nichts anderes KENNEN, als die Welt der Bewegung und Berührung, sie sind immer SO, immer Da, immer im Hier & Jetzt! Spontaneität in psychophysischer Hinsicht müssen sie sich nicht erst mühevoll erarbeiten. Diese Menschen sehen wir aber als Sozialfälle an, als von vornherein für die Gesellschaft nutzlosen Ballast, den man aus humanitären Gründen und christlicher Nächstenliebe (falls noch Restbestände vorhanden) bestmöglich versorgt. Nun ja, was heißt schon bestmöglich: Wer selber Menschen mit behinderten Kindern kennt, weiß, dass es jede Menge Schwierigkeiten bedeutet und einen ständigen Kampf um Unterstützung, um Geld, um Anerkennung, um vieles, was man sich als unbetroffener Ignorant einfach nicht träumen lassen würde. (Weil wir ja auch eher selten hingucken…).

So, es ist jetzt fast geschafft, die Oberbaumbrücke, einzige Verbindung zwischen Kreuzberg und Friedrichshain, liegt schon hinter mir. Kein Stau hat mich aufgehalten, jetzt noch ein bisschen Parkplatzsuche und die Heimat hat mich wieder. Es war ein guter Tag – einerseits wegen den Freunden und den interessanten Gesprächen. Aber auch wegen Vera, der Bewegungsmeisterin: Sie hat mir gezeigt, dass ich noch ein lebendiger Mensch bin und nicht nur eine vernünftige Stuhlbesitzerin. Im Moment fühl‘ ich mich so richtig nach tanzen & springen! Der Platz vor dem Monitor kann mich heut‘ abend jedenfalls nicht mehr locken!

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Claudia am 19. Juni 2002 — 1 Kommentar

Wahrheit und Tod.

Sterben, wie man lebt: Vaters letzte Tage

Ich stell‘ mir öfter mal vor, ich läge im Sterben und das zöge sich einige Wochen und Monate dahin. Würde ich deswegen eigentlich meine „virtuelle Existenz“ aufgeben wollen? Nicht mehr ins Diary schreiben, was ich über die Welt denke? Keinen Newsletter mehr aussenden und nicht mehr mit Stammgästen und Gelegenheitsbesuchern im Forum plaudern? Bewahre! Es kommt natürlich drauf an, in welchem Zustand ich mich befinde und was für Fähigkeiten mir bleiben: Kann ich noch am Bildschirm lesen? Kann der Mausfinger noch klicken und finde ich noch immer die richtigen Tasten? Wenn ja, sehe ich momentan keinen Grund dafür, etwas zu verändern, mit irgend etwas aufzuhören, das Teil meines Lebens ist, „nur“ weil ich bald sterbe.

Da wir nie wissen, WANN das sein wird, sind wir im Übrigen sowieso immer in derselben Situation. Als mein Vater starb, hab‘ ich zum ersten Mal überdeutlich mitbekommen: Man stirbt ganz genau so, wie man lebt: In dem Maß an Wahrheit und Bewusstheit, zu dem man eben in der Lage ist. Das wird nicht auf einmal mehr oder weniger!

Ich war gerufen worden, weil es mit ihm zu Ende ging. Die Ärzte hatten einen aggressiven, schnell fort schreitenden Krebs diagnostiziert, gegen den sich im Grunde nichts mehr machen ließ, da er bereits „überall“ war. Allerdings durfte ihm das nicht gesagt werden, seine dritte Frau erwartete, dass ich ihm eine Ausrede bezüglich meiner Anreise aus Berlin erzählen würde, irgend etwas mit Computer-Workshops, vielleicht ein Arbeitstreffen. Ja, ich sollte tatsächlich sagen, ich sei wegen Maschinen und Programmen gekommen, nicht etwa wegen ihm.

Meine Güte! Ich war völlig entnervt wegen dieser Zumutung, schließlich bin ich schon das ganze Leben lang der festen Überzeugung, die Wahrheit über den eigenen Zustand dürfe man niemandem verheimlichen. Sollte jetzt also ICH diejenige sein, die das entgegen dem lügnerischen Bemäntelungsverhalten seiner Frau, nach deren Weisungen sich auch alle anderen richteten, durchsetzen sollte? Lag es an mir, zu sagen: Papa, du stirbst?

An Mut hätte es mir nicht gefehlt. Diese ganz persönliche Rücksichtslosigkeit im Namen der Wahrheit war mir dereinst ja sehr nahe. Glücklicherweise hatte ich im Lauf‘ des Lebens schon dazu gelernt, so dass ich auch wahrnahm, dass so ein Verhalten auch immer etwas Eigennütziges hat. Man kann damit rechnen, sich irgendwie GROSSARTIG zu fühlen, wenn man dem Anderen eine existenziell wichtige Wahrheit um die Ohren haut, die er vielleicht lieber nicht hören will – das ist MACHT, vermeintlich im Sinne hoher Werte ausgeübt. Eine gute Gelegenheit auch, sich für Verletzungen aus der Vergangenheit zu revanchieren . Und wer hätte mich je mehr verletzt als mein Vater – damals, als ich noch ein Kind war?

Ich saß ihm Zug nach Wiesbaden und grübelte: Sollte ich brav den Mund halten, wie seine Frau verlangte? Oder sagen, was anliegt – vor ihr? Oder erst, wenn ich mit ihm alleine wäre? Vielleicht gar ganz offen die Kooperation der Lüge verweigern und ihr das bereits vorher „ansagen“? Ich kam zu keinem Ergebnis, für alles gab es ein Für und Wider, die Gedanken überschlugen sich und mir wurde nur immer enger zu Mute, als trüge ich eine zu kleine Rüstung um die Brust. Ich dachte an meinen Vater, stellte ihn mir im Krankenbett vor, erinnerte mich an vergangene Krankenhausaufenthalte, an seine unnachahmliche Manier, mit einem kleinen Stapel medizinischer Fachbücher und Lexika die Ärzte zu beeindrucken. An seinem Bett stehen und über ihn reden, als sei er nicht da, das konnte man mit ihm nicht machen!

Jetzt aber gab es gar nichts mehr zu tun. Seine Macht, seine ganze Kompetenz, andere nach seiner Pfeife tanzen zu lassen, war obsolet geworden. Wie würde er das verkraften? Niemand sprach ja mit ihm darüber. Alle verbargen das Offensichtliche und taten, als wäre nichts, als werde er bald genesen – wie schrecklich!

Auf einmal musste ich weinen. Ich fühlte die Verzweiflung, die er fühlen musste, angesichts dieser seiner letztlichen Machtlosigkeit – und er tat mir so leid! Schließlich hatte er sich nie im Leben mit diesem Aspekt des Daseins auseinander gesetzt, sondern immer nur darum gekümmert, seine persönliche Macht, seinen Einfluss auf die Dinge zu erhalten, bzw. zu stärken. Er wusste immer, wo es lang zu gehen hatte und was das Richtige sei. „Umgeben von Idioten“ zweifelte er niemals an sich selbst, zeigte es zumindest nicht – es musste furchtbar für ihn sein, am Ende des Machens anzukommen!

Das Weinen rettete mich. Der Schmerz des unerwarteten Mitgefühls befreite mich vom Denken. Ich merkte, dass es nichts zu entscheiden gab, dass ich einfach aus dem Augenblick heraus handeln würde, oder eben nicht. Zur Not würde ich einfach in Tränen ausbrechen, die Ebene des „Vernünftigen“ hinter mir lassen, wo Entscheidungen gefordert sind – meine Güte, was für eine Freiheit!!!! Und nicht nur für diese Situation, sondern ÜBERHAUPT!

Als ich dann an seinem Krankenbett saß, war auch der Arzt da. Schon draußen im Flur hatte er mich über den unveränderten Stand der Dinge in Kenntnis gesetzt: Keine Therapie würde mehr etwas bringen, ja, man könne ihm deren „Nebenwirkungen“ eigentlich auch nicht mehr zumuten. Auch G., seine dritte Frau saß am Bett und schaute voller Angst auf den Arzt, was der wohl jetzt sagen werde.

„Sie sind ein Mann wie ein Baum, aber der Baum ist von innen morsch“, fing er an. Ich schaute auf meinen Vater, der, obwohl völlig wach, die Botschaft nicht zu verstehen schien. Jedenfalls lächelte er, als habe er ein Kompliment bekommen. Klar, er hatte nur die erste Hälfte des Satzes an sich heran gelassen! Ich hörte weiter zu, verfolgte mit äußerster Konzentration dieses denkwürdige Gespräch zwischen dem Arzt und meinem Vater – war das wirklich ein Gespräch? Aus meiner Sicht hatte der Arzt alles in gebotener Deutlichkeit gesagt und nichts verschwiegen – es aber andrerseits meinem Vater überlassen, sich die Botschaften heraus zu suchen, die er vernehmen wollte. Und der wollte auf keinen Fall zur Kenntnis nehmen, dass es mit ihm zu Ende ging, dass auch die medizinische Kunst hier am Ende war. Ich staunte, ja, ich war völlig perplex. Sowas hatte ich bis dahin nicht für möglich gehalten: Man konnte die Wahrheit hören, sich aber vollständig vor ihr verschließen!

Er brachte es sogar fertig, sich eine (völlig nutzlose) Chemotherapie mit „halber Dosis“ zu verordnen – der Arzt hat es ihm nicht verweigert und ich musste zugeben: Ja, das ist jetzt das einzig richtige, das mitmenschliche, nämlich dasjenige Verhalten, das die Selbstbestimmung des Patienten an die erste Stelle setzt. Wenn der es nun mal vorzieht, die Wirklichkeit zu ignorieren und sich bis in die letzten Momente mit fürchterlichen Medikamenten voll zu dröhnen, dann ist das so zu akzeptieren!

Noch ein paar Tage war ich dort, saß täglich am Krankenbett und hörte meinem Vater zu. Der sprach meist ohne Punkt und Komma von Belanglosigkeiten, und wenn ihm mal der Faden ausging, machte seine Frau weiter. Bloß keine Lücke entstehen lassen, in die der Gedanke an die Realität eintreten könnte!

Und doch drang sie manchmal durch die Ritzen seines Bewusstseins. Er war ja selber der Körper, der hier starb, wie konnte ihm das verborgen bleiben? Ich sah, wie er gelegentlich etwas unkonzentrierter wurde, sein aktuelles Thema schien dann zu verblassen, die Aufmerksamkeit sich nach innen zu verlagern, als würde er dort etwas hören…. und sofort umnachtete sich sein Geist. Manchmal kamen noch ein paar Tränen, doch immer gleich auch hilfreiche Halluzinationen, die ihn ablenkten von dem, was er weder hören noch spüren wollte: das Zimmer drehte sich wie ein Karusell, an den Wänden erschienen Bilder in schnellem Wechsel – aufgeregt berichtete er von dem, was er sah, schimpfte auf das Krankenhaus, das nicht einmal die Stabilität der Möbel im Griff habe, verlor sich weiter und weiter in Belanglosigkeiten…

So ist er dann auch gestorben, etwa zwei Wochen später. Zurück in Berlin hatte ich noch mal mit ihm telefoniert: immer noch redete er von der hoffentlich bald eintretenden Besserung, von der Chemotherapie, deren Dosis man vielleicht erhöhen müsse….

Ich habe viel von ihm gelernt. Durch dieses Sterben vermutlich genauso viel und Wichtigeres, als während seines ganzen Lebens. (Danke, Papa!)

In meinem Herzen lebt er, solange es mich gibt.

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