Thema: Zeitgeist

Claudia am 18. Oktober 2001 — 1 Kommentar

Der Feind: die eigene Frage

Mit jedem Tag, den die Bombardierung in Afghanistan andauert, schwindet mein inneres „Ja“ zu diesen Kriegshandlungen. Dabei war ich zuerst ziemlich einverstanden: der WTC-Anschlag hat alles übertroffen, was wir je als Terrorakt für möglich hielten und lag auch weit außerhalb üblicher Aktionsfelder innerstaatlicher Polizei und Gerichtsbarkeit. Die Art, wie man medial „auf Linie“ gebracht und gehalten wurde, hat mich zwar zunehmend angekotzt, aber in der Sache hatte ich nichts gegen eine gut vorbereitete militärische Aktion gegen die Täter und Unterstützer. Die Taliban erschienen mir im übrigen schon immer als eine widerliche Bande verrückt gewordener Schafhirten, die vor den Augen der Welt Frauen wie Vieh behandeln und wunderbare Kulturgüter in Schutt und Asche legen dürfen – und niemand mischt sich ein! Ich erinnere mich an die Ketten-Mails, die dazu aufriefen, in Unterschriftenlisten und Protestmails führende Politiker aufzufordern, endlich „etwas zu tun“ – ja WAS denn eigentlich? Gegen Bittbriefe aus aller Welt scheinen die Taliban jedenfalls immun, und nicht nur deshalb, weil viele von ihnen nicht lesen können.

Zwölf Tage sind genug

Gezielte Bombardierungen der militärischen Stellungen, Ausbildungslager, Waffenarsenale – das erschien mir vertretbar, gerade auch im Rahmen einer umfangreichen Kommunikationsoffensive („Allianz gegen den Terror“), die auch zu den islamischen Ländern Kontakt sucht und um Verständnis und Hilfe bittet. Jetzt aber haben wir schon den zwölften Tag der Angriffe, immer mehr zivile Opfer, eine verschärfte Versorgungskrise für die Massen, die von den Hilfsorganisationen nicht erreicht werden – es wird höchste Zeit, dass es ein Ende hat, Himbeermarmelade, die päckchenweise vom Himmel regnet, ist keine Lösung.

Und überhaupt: Warum braucht das solange? Offenbar hab‘ ich eine völlig falsche Vorstellung von der Überlegenheit westlicher Waffensysteme und „Kampfkünste“. Sag‘ mir halt: Laß da zwanzig, hundert, zweihundert Ziele sein, ein paar Mal drüber fliegen und draufhalten müßte doch eigentlich reichen. Was machen die da bloß zwölf Tage lang?

Der innere Mainstream

Über meine eigene, mal mehr mal weniger martialische Neigung zu Agression und Gewalt wundere ich mich kaum noch. Früher ist das immer nur im Dunklen gewesen, überformt durch allerlei Rationalisierungen, auch verleugnet und ins Gegenteil gewendet durch zumindest verbal militantes Eintreten für den Frieden um jeden Preis („Krieg dem Krieg“). Ja, mehr noch: je friedensbewegter ich auftrat, redete, auf Demos ging und im privaten Umfeld Streitgespräche suchte, desto agressiver und implizit gewaltbereiter war mein Fühlen und oft auch mein Denken, nur merkte ich das nicht.

Heute schau‘ ich mir an, was für Gefühle aufsteigen und wieder verschwinden, kommentiere das nicht weiter, lasse es aber auch nicht unbedingt zu Handlung werden, oft nicht mal zu Text (wenn ich grad martialisch drauf bin, ist es besser, wenn meine Stimme fehlt!). Seit ich das so halte, ist eine Selbsteinschätzung meiner jungen Jahre ersatzlos gestorben: Daß ich eine ganz Andere, etwas ganz Besonders wäre, weit besser, intelligenter, friedlicher und edler als die „breite Masse“, allenfalls in interessanten Minderheiten zuhause, weitab vom sogenannten Mainstream. Keine Rede! Ich brauch‘ gar nicht erst fernsehen, muß nur in mich ‚reingucken, da FÜHLE ich den Mainstream….

Manchmal sehe ich da echt seltsame „Blüten“! Als z.B. in den ersten Tagen des Bombardements nach dem Ende der jeweiligen Angriffswelle immer gleich gemeldet wurde: „Usama bin Laden lebt und ist wohlauf“, spürte ich jedes Mal eine gewisse Erleichterung. Schau an, dachte ich mir dazu, du fängst schon an, den Feind zu lieben, aber nicht etwa so, wie Jesus das gemeint hat! Nein, bin Laden ist mittlerweile wer, mit Hilfe der Medien zum „großen Gegner“ stilisiert, zum Hoffnungsträger der Erniedrigten und Beleidigten, auf jeden Fall mit Image und Charisma ummantelt, dem man sich kaum zur Gänze entziehen kann. Und mal angenommen, er wäre weg: der Schrecken hätte kein Gesicht mehr, der Feind wäre tatsächlich überall… das wäre doch weit furchtbarer als dieser Rauschebart mit sanftem Lächeln und dem glasig-verträumten Blick.

Die eigene Frage

Wenn ich mich frage, worum es im Kern dieser schrecklichen Auseinandersetzung eigentlich geht, meine ich nicht die konkrete Motivation der Terroristen oder die je spezifischen Gründe einzelner Islamistengruppen, die gegen den Westen agitieren. Auch die Frage, inwiefern die Arroganz der Macht für den Terrorismus ursächlich ist, mit der die USA weltweit auftreten und entlegenen Ländern ihr Wirtschaftssystem aufzwingen, will ich nicht betrachten. All das kann nicht mein persönliches Diary-Thema sein, denn ich weiß darüber nicht mehr als das, was in den Medien steht. Viel näher sind mir da schon die spontanen Übergriffe gegen Kopftuchträgerinnen hier bei uns, die oft nur knapp unter der Oberfläche gehaltene Feindseligkeit gegen Muslime hierzulande, die Schwierigkeiten der muslimischen Gemeinden, eine Moschee zu bauen, die Auseinanderetzungen um den Islam-Unterricht und vieles mehr. All das hat seit dem Anschlag eine größere Brisanz bekommen und alle Besonnenen bemühen sich aus guten Gründen um Deeskalation und darum, einen „Kampf der Kulturen“ zu verhindern.

Welcher Kampf? Worum gehts? Können nicht alle in einer multikulturellen Gesellschaft friedlich zusammen leben – in Kreuzberg und weltweit? Die links-grüne Sicht der Dinge, die hier Probleme außerhalb rein sozialer Fragen lieber gar nicht wahrnehmen möchte, hat seit dem WTC-Anschlag auf jeden Fall einen gewaltigen Dämpfer erfahren. So langsam tritt ins öffentliche Bewußtsein, daß es sehr wohl etwas zu verhandeln gibt zwischen „uns“ und den Moslems. Aber was?

Von Carl Schmitt stammt der berühmte Satz: „Der Feind ist die eigene Frage als Gestalt“. Welche Frage könnte es sein, die so schmerzt, daß wir uns ihr nicht stellen wollen, also lieber Feindseligkeiten gegen diejenigen hegen, die die Frage aufwerfen?

Was sehen wir, wenn wir Muslimen begegnen, was drängt sich ins Zentrum der Aufmerksamkeit? Das Kopftuch zum Beispiel, um das geradezu pathologisch gestritten wurde, dann die Großfamilien beim Grillen im Park, Männer und Frauen oft in je eigene Gruppen getrennt, schließlich das Beten, wenn es auch erst noch wenige wagen, an öffentlichen Plätzen zu beten, so sehen wir es doch gelegentlich im Fernsehen, wie Gläubige mitten auf der Straße den Teppisch ausrollen und sich gen Mekka verneigen – kopfschüttel.

Was uns auffällt (und vielen mißfällt) sind die Zeichen gelebter Religiosität und Tradition, das gemeinschaftliche Zusammenstehen in Familien und Verwandschaftsclans, die ganze Ausrichtung an verbindlichen Werten, von denen wir uns im Lauf der Geschichte in vielen Kämpfen und Revolutionen weitestgehend befreit haben. Nun haben wir den Markt, mehr oder weniger frei, mehr oder weniger sozial, und die liberale Demokratie – und damit allein sind wir keinesfalls glücklich, wenn auch niemand das Rad gerne zurück drehen würde. Individuelle Freiheit ist uns sakrosankt – auch wenn man das Grausen bekommen kann angesichts dessen, was alles damit angefangen wird (und was nicht). Das reine Funktionieren, Wachstum und Fortschritt (wohin? wozu?), das Diktat der Ökonomie zu Lasten von Mensch und Umwelt, Konsum als einziger Lebensinhalt (Spaßgesellschaft) und ein in den letzten Jahren härter werdender Kampf um einen erträglichen Platz in der Arbeitswelt – soll das alles gewesen sein? Das Sinndefizit in westlichen Demokratien ist gewaltig, Hoffnungen haben wir keine, Utopien sind untergegangen. Gott ist lange tot und der letzte Mensch blinzelt, pflegt sein Lüstchen für den Tag, sein Lüstchen für die Nacht und denkt ansonsten an die Gesundheit.

Und läßt sich ungern von Muslimen daran erinnern, daß es daneben vielleicht noch etwas geben könnte….

Diesem Blog per E-Mail folgen…

Claudia am 27. September 2001 — Kommentare deaktiviert für Einander verstehen

Einander verstehen

In den Wochen seit DEM Ereignis hat es mir doch weitgehend die Sprache verschlagen. Das „große Gespräch“, das aus allen Kanälen sämtlicher Medien dröhnte, hat mich regelrecht umgehauen und verstummen lassen. Und zwar nicht wegen etwas Bestimmtem, das da gesagt worden wäre und mich vielleicht verstört oder wütend gemacht hätte, nein, es war das Kommunikationsgeschehen insgesamt, bis hin zu den Mailinglisten, Webforen, Tagebüchern. Es erschien mir, als werde der Krieg zumindest mit Worten vorweg genommen, nicht nur in den traditionellen Medien mit ihren martialischen Akteuren, sondern auch in so „netzigen“ Communities wie den I-Workern (die Liste wurde sogar eine Woche geschlossen!) oder dem Forum der 13, wo es Austritte hagelte. Je emotionaler, desto feindseliger, könnte man zusammenfassen. Und von einem Ereignis wie diesem Terroranschlag bleibt wohl niemand unberührt, auch diejenigen nicht, die sich jetzt wieder ganz cool geben. Weiter → (Einander verstehen)

Diesem Blog per E-Mail folgen…

Claudia am 22. September 2001 — Kommentare deaktiviert für Zueinander kommen

Zueinander kommen

Ist es in den Zeiten des Terrors und der Kriegsvorbereitungen überhaupt möglich, über Sex zu schreiben? Das hab‘ ich mich schon gefragt, als mir Willie am 14.September einen Kommentar zu einem älteren Diary-Beitrag (Sex als Dienstleistung) ins Forum postete – und dann doch geantwortet. Welches Thema wäre schon „passend“, um den Horror abzulösen, über den nachzudenken, nachzuspüren, zu reden und zu schreiben leicht zur verzweifelten Endlosschleife geraten kann? Weiter → (Zueinander kommen)

Diesem Blog per E-Mail folgen…

Claudia am 08. September 2001 — 2 Kommentare

Böse Welt: Was der Hochleistungsstrohalm mit uns macht

Dass alles immer schlechter wird und die Welt den Bach runter geht, kann man an den kleinen Dingen des täglichen Lebens gut beobachten. An den Strohhalmen zum Beispiel: Habt ihr bemerkt, dass da seit einiger Zeit der „Knick“ verschwunden ist? Von der Cocktailbar über die Eisdiele bis hin zu McDonalds: Der Halm ist nur noch ein simples Stück Plastikrohr, mal schwarz, mal bunt-gestreift, absolut gerade und durchgehend starr: kein Knick nirgends. Weiter → (Böse Welt: Was der Hochleistungsstrohalm mit uns macht)

Diesem Blog per E-Mail folgen…

Claudia am 04. September 2001 — Kommentare deaktiviert für Schlag mich, bitte!

Schlag mich, bitte!

Da gibt es Leute, die surfen durchs Web aus dem einzigen Grund, um irgendwo Stunk anzufangen. Der Gegner ist ziemlich egal, auch auf den Inhalt kommt es prinzipiell nicht an, Hauptsache, es fetzt, Hauptsache, man wird bemerkt und steht – wenn auch als Hirni oder Nerver – im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. „Um Watschen betteln“ könnte man es auch nennen, denn Erfolg bedeutet für solche Gestalten ja nicht wie für Normalsterbliche, geliebt und bewundert, sondern gehaßt und bekämpft zu werden – vermutlich, weil sie sich anderes angesichts der eigenen Person gar nicht mehr vorstellen können. Weiter → (Schlag mich, bitte!)

Diesem Blog per E-Mail folgen…

Claudia am 28. August 2001 — 1 Kommentar

Überfluß und Armut

In Berlin ist gerade Funkausstellung. Mir hat es gereicht, vor ein paar Jahren mal dort gewesen zu sein. Zwischen den unzähligen blinkenden Monitorwänden leicht verstört herumlaufen, die teuerste Stereoanlage der Welt anhören, den grinsenden Moderatoren und aufgehübschten Hostessen in die angestrengten Gesichter sehen – und überall Geräte, Geräte, Geräte, in Szene gesetzt wie soeben ausgegrabene Schätze großer Pharaonen. Dazu die seit Jahren sich mantrahaft wiederholenden Beschwörungen: Konvergenz der Technologien, digitales Fernsehen, multifunktionale, alles mit allem vernetzende Steuermodule – Fernbedienungen wählen nicht nur Programme, sondern öffnen auch die Garagentür, schalten den Herd ein – ja wirklich! Und natürlich die noch kleinere und leichtere VideoCam, Kameras mit noch mehr Millionen Pixel, noch bessere DVD- und MP3-Player, der Fortschritt schreitet unaufhaltsam voran – aber gehen wir noch mit? Weiter → (Überfluß und Armut)

Diesem Blog per E-Mail folgen…

Claudia am 12. August 2001 — 1 Kommentar

Der terminierte Mensch

Himmel nochmal! Ich wohne fünf Auto-Minuten von seinem Arbeitsplatz, Essen gehen und Kaffee trinken wird er ja wohl gelegentlich noch – oder ist es ihm gelungen, diese Bedürfnisse aufgrund der schlechten Wirtschaftslage abzubauen? Glaub ich nicht… oder doch? Jedenfalls mailt er mir auf meine Frage, ob wir uns mal mittags treffen und von alten Zeiten und unserem jeweiligen Heute plaudern könnten: „Tolle Idee! Freut‘ mich, wieder mal von dir zu hören. Grad‘ schieb‘ ich aber zwei Projekte an, die wirklich haarig sind, danach dann gern, ich meld‘ mich in zwei Wochen!“

Er ist nicht der erste, von dem ich eine solche oder ähnliche Antwort bekomme. Seit ich wieder in Berlin bin, ruf‘ ich öfter mal jemanden an, wenn ich Lust auf Menschen habe. Klar doch, schließlich sitze ich hier täglich alleine am PC und ich weiß: da draußen, in den unendlichen Weiten Berlins geht das vielen ganz genau so… Es sind alte Kollegen, die ich dann anrufe, Freunde und Bekannte aus zwanzig Jahren Kreuzberg, Menschen, mit denen ich gearbeitet, gefeiert, Kurse besucht und Politik gemacht habe. Und sogar meine alte Liebe T., mit dem ich Jahre in „gemeinsamem Leben & Arbeiten“ zubrachte, schickt mir erstmal einen Stapel Geschriebenes, um sich dann eine gute Woche später hier einzufinden – zu einem ordentlichen Termin halt.

„In der dritten Septemberwoche vielleicht, da ist dann meine Mutter wieder weg und die stressigsten Schultage sind ‚rum“, meint L., die Frau, mit der ich schon in Mecklenburg telefoniert hatte, wie nett es sein wird, sich wieder mal zu sehen. Der Netz-Bekannte, der zufällig drei Häuser weiter wohnt, hat auch einen „Termin vorgeschlagen“, so in zwei Wochen, da könnte man ja abends mal zusammen um die Häuser ziehen…

Termine, Termine, Termine. Wochenlange Planungen. Wenn ich dann doch mal jemanden treffe, werden wir gestört durch diesen dauernden Handy-Betrieb und ich muss ungewollt mithören, wie er/sie einem Dritten sagt: „Ja, super! In der letzten Augustwoche würde es mir evtl. passen…

Lust & Laune? Gecancelt.

Sind denn alle komplett verrückt geworden? Oder werde ich einfach nur alt und versteh‘ die Welt nicht mehr, bin nicht mehr richtig „kompatibel“ mit dem heutigen Way of Contact? Offensichtlich hat sich da etwas verschärft, dem ich mich immer schon verweigert hatte. Ein Terminkalender ist einfach nicht meine Sache, geschäftliche Dates merke ich mir auch so und private „Termine“ war ich einfach nicht gewohnt: Nicht in meinem Kreuzberger Kiezleben, in dem ich beim Gang in die Markthalle mindestens drei Leute traf, mit denen ich zu einem Schwätzchen stehen bleiben konnte. Und wenn ich mich richtig erinnere, gab es jedenfalls keine zwei, drei Wochen Vorlaufzeit, wenn ich mich mal mit jemandem verabreden wollte, höchstens so zwei bis vier Tage.

Was stört mich eigentlich daran? Ich könnte mir doch einen Terminkalender anschaffen und das einfach so mitmachen, oder? Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, ob ich das will. So wild bin ich nun auch wieder nicht, diese offensichtlich allzu beschäftigten Menschen zu sehen… Naja, ich würde schon gern, aber eben JETZT, oder morgen, oder zumindest diese Woche noch – nicht irgendwann später, ein Später, von dem ich gar nicht weiß, was ich dann tun werde, und ob ich dann Lust haben werde auf diesen oder jenen ganz Bestimmten. Es scheint mir unvorstellbar, morgens in meine Zettel zu gucken: Wen treff ich denn heute?, und dann halt das Programm abzuwickeln, egal, was Lust und Laune gerade dazu meinen. Warum sollte ich ausgerechnet DIE Kontakte, die NICHT von irgendwelchen, meist ökonomischen Zwängen diktiert sind, in ein Korsett pressen, das jede Spontaneität verunmöglicht?

Ausgebucht

Was mag wohl der Grund für dieses Verhalten sein? Warum meinen all diese Leute, dass ein privates Plaudertreffen drei Wochen im voraus geplant werden muß? Liegt es wirklich daran, dass sie heute, morgen, übermorgen und für den Rest der Woche völlig „ausgebucht“ sind??? Warum rufen sie nicht einfach an, wenn da mal eine Lücke ist: Hey, heut mittag hab ich Zeit, wie siehts bei dir aus? Wär‘ es denn so schlimm, wenn ich dann sagte: Sorry, geht grad nicht, aber morgen? Es wäre sogar viel wahrscheinlicher, dass ich zusage, denn ich kann mir die Zeit ja einteilen – wie übrigens die meisten, von denen ich hier spreche.

Wäre ich jetzt 15 Jahre jünger, würde ich das alles auf mich beziehen, wäre ordentlich zerknirscht und würde denken: Sie mögen mich nicht, sie wollen mit mir einfach nichts zu tun haben, weil ich vermutlich so eine Schreckschraube bin, die man lieber meidet! Heute weiß ich es besser, zumal es sich fast durchweg um Menschen handelt, mit denen ich gute, intensive und für beide Seiten erfüllende gemeinsame Zeiten hatte. Nein, es ist etwas anderes, etwas, dem sich alle einfach so unterwerfen, ohne es auch nur richtig zu bemerken: die Seelen sind besetzt, verkauft und also immer völlig ausgebucht. Dass man sich überhaupt noch – so in drei Wochen – für etwas Privates Zeit nimmt, das nicht zum eingespielten Alltag gehört, ist eigentlich auch schon nicht mehr richtig in diese Welt „passend“, ist schon Kompromiß, den man gerade noch eingeht, um sich nicht eingestehen zu müssen, daß im Grunde gar kein Platz mehr ist für Dinge jenseits des „Um-Zu“.

Niemand ist wirklich „ausgebucht“ – aber die Erfordernisse des allgemeinen Rattenrennens sind psychisch derart belastend, dass man nicht noch zusätzliche Inputs haben will, wo doch die Zeiten des „inneren Ausspannens“ lange schon nicht mehr reichen. Ja, dieses innere Abschalten schafft kaum noch jemand, allenfalls werden heftige äußere Reize als Ablenkung gesucht, die das, was in der Seele wühlt, einfach an Lautstärke bei weitem übertreffen. Und noch etwas: Andere Menschen zu treffen wird nicht mehr als mögliche Entspannung gesehen, als spielerisch zweckfreies Miteinander, sondern – auch im privaten Rahmen – immer nur wieder als eine Art „Auftritt“, bei dem man ein gutes Bild abgeben will: anstrengend also, wie fast alles heute. Wenn man dann noch daran denkt, dass es ein ganz übliches Verhalten ist, dem Anderen nicht wirklich zuzuhören, sondern ihn oder sie „voll zu labern“, wundert es nicht mehr, dass niemand mehr richtig Lust hat, mal eben zusammen Kaffee trinken zu gehen…

Sich aufteilen

Was bleibt, ist die Aufsplitterung der Bedürfnisse, die Fragmentierung des Ich. Will ich spontan unter Menschen sein, geh‘ ich in die Sauna und sitze gemeinsam mit unbekannten Nackten bei 90 Grad auf dem Affenfelsen. Die Hitze ist ein so starker Reiz, dass jedes Denken in den Hintergrund tritt und ein enstpanntes Zusammen sein möglich ist – ja, manchmal kann man sogar ein paar Worte wechseln… Will ich dagegen interessante Gespräche führen, tiefer schürfende Aspekte des Daseins teilen, dann kann ich ja mailen! Mitmensch on Demand ist die optimale Form für den gestressten Info-Worker: nur der reine Gedanke tröpfelt durch die Leitung, und den kann ich mir ja dann reinziehen, wenn ich dafür die Muße habe. Nicht zu vergessen das Telefon: Jenseits des bloßen Info-Austauschs ist es das „angesagte“ Mittel für das Empfinden von Nähe: Dann aber muß ich völlig im Augenblick sein, ohne jedes inhaltliche Interesse ganz auf die Schwingung des Anderen einsteigen. Nicht schlecht, aber eben auch wieder ein hübsch abgespaltener Teil des Ganzen.

Und wenn mir das alles nicht reicht, gibts ja noch die Workshop-Szene: Unter Anleitung und Aufsicht treffen sich da wochenends „ganze“ Menschen für teures Geld: tanzen, reden, atmen, Töne summen, sich in die Augen sehen, einander zuhören, sich „einfach so“ umarmen – und in Tränen ausbrechen vor Rührung! Sollte ich mir mal wieder leisten…

Diesem Blog per E-Mail folgen…

Claudia am 08. Juni 2001 — Kommentare deaktiviert für Verwahrlost verenden?

Verwahrlost verenden?

Unter dem Titel „Verwahrlost und verendet“ beschreibt Michael de Ridder im aktuellen SPIEGEL (S.208), wie heutzutage alte hilflose Menschen in Pflegeheimen oder zuhause dahinvegetieren und elend sterben, wie sie manchmal bei lebendigem Leib regelrecht verfaulen. Wie sich „Armut, Isolation, Partnerverlust, Depressionen, Mangelernährung, Kräfteverfall und nachlassende Hygiene mit physischen Leiden verschränken – zu stummer, nicht mehr erreichbarer Verzweiflung, die irgendwann nur noch erschöpft danach verlangt, ein Ende zu finden“. Weiter → (Verwahrlost verenden?)

Diesem Blog per E-Mail folgen…

Neuere Einträge — Ältere Einträge