18:06:99 Ballast abwerfen...
Am Sonntag werden wir wieder hinfahren und zum ersten Mal unsere neue Wohnung leer sehen, sie alleine betreten, nachsehen, wo der ISDN-Anschluß liegt - das ANGESCHLOSSENSEIN ist nun mal das wichtigste! - und uns dann vorstellen, wo wir unsere wenigen Möbel hinstellen.
Ich bin schon dabei, alles, so weit es geht, auszumisten. eine Beschäftigung, die mir große Freude macht, ich spüre die Erleichterung geradezu körperlich, wenn ich mich wieder einmal von einem großen Stapel Papier trenne. Magazine, alte Artikel aus dem Netz, Unterlagen und Materialien für lange abgeschlossene Webprojekte, Zeitungsausschnitte, Werbung für dies&das - unglaublich, was sich doch alles immer wieder ansammelt, obwohl ich mittlerweile eine engagierte Gegnerin jeglichen Ansammelns bin.
Zum Beispiel besitze ich immer nur ca. 150 bis 200 Bücher. Natürlich kommen neue hinzu, doch wenn die vorgesehenen Regalbretter voll sind, dann verschenke ich die, die ich mit Sicherheit kein zweites Mal lesen werde. Ehrlich gesagt erfüllen diese Bedingung die meisten Bücher, also ist es nicht schwer.
Geradezu Ekel überkommt mich beim Anblick von gestapelten Magazinen: InternetPro, InternetWorld, ComputerFoto, Page - alles schöne oder zumindest nützliche Hefte, doch erfahrungsgemäß schau ich auch da kein zweites Mal rein. Und nehme sie trotzdem mit, könnt ja sein, daß ich sie für meine Webkurse brauche. Ach, "könnt ja sein, daß..." ist der Standardspruch, mit dem der Kopf alles mögliche behalten will, aber glücklicherweise spüre ich mittlerweile den Ballast aller dieser verstaubenden, letztlich nutzlosen Anhäufungen derart, daß der Bedenkenträger in mir kaum eine Chance hat.
Andere Gefühle erzeugen eigene Texte, Briefe, allerlei kleine Andenken und Nippes, Fotos meiner Familie oder von alten Freunden und Bekannten. Auch da bin' ich bei vergangenen Umzügen schon sehr viel losgeworden, doch noch immer sind zwei große Schachteln und ein paar Ordner und Schuber voll mit solchen Dingen. DAS wegzuwerfen ist das Schwerste - obwohl ich wirklich NIE reinsehe, NIE von Nostalgie gepackt werde und in Vergangenheit bade. Und doch... einfach in den Müll?
Einerseits ist da das Gefühl eines Vergehens gegen die Leute auf den Fotos, die Schreiber der Briefe und die Schenker der Gegenstände, wenn ich die Dinge nicht mehr mit mir herumschleppe. Aber das ist nicht das Wesentliche. Stärker noch ist das Gefühl: Wenn ich DAS alles los bin, gibt es nicht einmal mehr die MÖGLICHKEIT, mich "Stoff-gestützt" zu erinnern. Dann ist die Vergangenheit nicht mehr erreichbar, wirklich unwiederruflich weg (was ja den Tatsachen entspricht!) Und vielleicht hab' ich ja mal irgendwann Lust, zu erinnern?
Doch ich weiß: es wäre nicht gut, es wäre ein Zeichen von Problemen mit dem Hier & Jetzt - und helfen würde es dann auch nicht, sich mittels überlebter Relikte vergangener Zeiten in Träume zu versenken, wie es einmal war... du lieber Himmel, wenn ich nur dran denke, daß ich mal so werden könnte!
Also weg damit, aber NICHT hier und jetzt, nicht in den Müll. Ich werde, sobald in Gottesgabe ein wenig Ruhe ist, im hinteren Schloßgarten ein rituelles Verbrennen veranstalten. Ich vermute, das geht leichter, als intime Dinge und Texte dem Müllgeschäft der Großstadt anzuvertrauen.
17:06:99 Fragen und Antworten (FAQ)
16:06:99 Miteinander sprechen
Glückwunsch! Was aber, lieber Leserbriefschreiber, hat deine "Argumentationskette" denn dann eigentlich mit deinem Leben zu tun? Offenbar wenig. Ich nehme mir heraus, in diesem Diary "bauchig" zu sein - im Web darf jede, wie sie will! Ich ARGUMENTIERE auch nicht, sondern erzähle, was ich erlebe. Nichts wäre langweiliger, als auf die Ebene der Argumente zu gehen. Wozu dann noch schreiben? Es ist doch alles - und immer auch das Gegenteil - 1000fach gesagt und aufs Beste in tollen Werken bibliothekssicher niedergelegt (siehe "Unbehagen..." und vieles mehr). Wenn ich ein Schuldgefühl verspüre, sobald ich einen Stundensatz von z.B. 130,- für meine Arbeit ansetze, dann ist das ein Fakt und kein Argument. Ich muß nun einmal automatisch daran denken, daß mir meine Arbeit nicht nur dieses Geld bringt, sondern auch noch Freude macht, wogegen allzuviele Menschen langweilige, dreckige oder schwere Arbeiten für weit weniger als ein Zehntel dieses Stundensatzes verrichten müssen - ohne eine Perspektive auf Veränderung. Und bei dieser Wahrnehmung bleibe ich heute einfach stehen, bzw. schau mir noch andere Aspekte eines "Schuldgefühls" an. Es bringt mir nichts mehr, mich vor lebendigen Gefühlen in politische Bekenntnisse oder auch gewisse spirituelle Lehren zu flüchten, einfache Lehren, die auf abstrakter Ebene vordergründig etwas erklären, jedoch nirgendwohin führen. Mit "dem Fetischcharakter des Geldes" oder "der Vernichtung sozioökonomischer Strukturen" kann ich in diesem realen Leben einfach garnichts anfangen. Sorry!
15:06:99 Die Geldmacke
Bei mir machte sich das Problem lange Zeit dadurch bemerkbar, daß ich mich nur bei einer Bezahlung nahe am Sozialhilfesatz wohl fühlte: am besten eine politisch korrekte Gemeinwesenarbeit, die mit minimaler staatlicher Förderung auskommen mußte oder - noch besser! - von Spenden finanziert wurde. Jahr um Jahr arbeitete ich in den 80gern in solchen "prekären" Jobs, in einem Mieterladen, einem Jugendzentrum, bei einer Stadtteilzeitung, sogar mein einjähriger Ausflug ins professionelle parteipolitische Leben der frühen Berliner Alternativen Liste war nicht besser bezahlt.
Wir fanden das normal, ja, angesagt! Schließlich war mit diesen Arbeiten das Gefühl verbunden, die Menschheit zu retten oder zumindest einen großen Schritt weiter zu bringen. Affenklar, daß "die Herrschenden" dafür kein Geld ausgeben wollten! Es war Teil unserer Identität, finanziell marginalisiert zu werden - und das, obwohl sich die Jobs mehr und mehr als veritable Managertätigkeiten mit 80-Stunden-Woche darstellten.
Der Ruf nach mehr "Staatsknete" zur Förderung unserer vielfältigen Kultur- und Kiez-Arbeit erschien den meisten schon als großer Sündenfall - doch ganz individuell gesehen war die Karriere beim Staat noch das am wenigsten Anrüchige, ein sicheres Beamtengehalt oder eine Bezahlung "analog BAT" gerade noch psychisch zu verkraften - und letztlich auch ganz gemütlich!
Privatwirtschaft? Unternehmertum? Selbständig arbeiten und seinen Preis am Markt durchsetzen? Igittigitt! Sowas lag für uns in weiter Ferne, das "Reich der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen" war ja gerade das Übel, gegen das die etwas früher geborenen, unsere bewunderten "richtig politischen" älteren Brüder, Schwestern und Freunde so vehement angetreten waren! Wir fühlten uns als die besseren Menschen, wenn wir wenig oder garnichts verdienten und sahen auf diejenigen herab, denen Konto, Konsum, Sicherheiten und materieller Wohlstand wichtig waren.
Seit 1997 arbeite ich nun selbständig, natürlich im Netz, wo der "Geist des Kostenlosen" noch eine gewisse anheimelnde Wirkung entfaltet. Wer bereit ist, erstmal viel zu lernen und zu leisten, ohne darauf zu sehen, ob "sich das auch rechnet", hat durchaus Vorteile. Existenzgründerkredite? Förderanträge? Bank-Verhandlungen? Um Himmels willen, nur um den eigenen Arbeitseinsatz vom ersten Tag an als "bezahlt" zu erleben, würden wir uns doch nicht in solche Abhängigkeiten begeben! Und wärend andere noch Berge von Formularen ausfüllen, an ihren Business-Plänen feilen und ihre Berater reich machen, blicken wir schon auf eine Reihe erfolgreicher Projekte und Aufträge zurück - und verdienen sogar richtig Geld!
Damit mußte ich erstmal zurecht kommen. Ein Angebot abzugeben und die eigene Leistung mit NORMALEN Preisen zu versehen, ist noch heute für mich kein Spaziergang. Glücklicherweise ist das sündhafte Gefühl mit einiger Übung zurückgegangen, doch noch immer halte ich mich in meinen Angeboten unterhalb dessen auf, was für meine mittlerweile angesammelte Erfahrung, Praxis und Kreativität korrekt wäre. So, wie ich mich auf meine Aufträge einlasse, die nie nur "Brotarbeit" sind, sollte ich das Honorar eher am oberen Ende der Preisskala ansetzen - sag ich mir immer wieder, wenn wieder mal ein Angebot dran ist, ein Angebot, das ich heute von einer Basis aus mache, die den jeweiligen Auftrag nicht mehr unbedingt zum Leben braucht. Und trotzdem, ich bin immer noch zu preiswert! Ich bekomme Mitgefühl mit dem Auftraggeber, den ich garnicht kenne, mir aber immer als einen vorstelle, dem jede ausgegebene Mark weh tut. Ob sich das je ändern wird? Vielleicht sollte ich einen Agenten nehmen, der für mich verhandelt..:-)
Um so schöner ist es, ab und zu jemanden zu treffen, der mitbekommt, was Sache ist und meine tendenzielle Selbstausbeutung von sich aus korrigiert. So hat mir gerade jemand nach Durchsicht meines Angebots eine PRÄMIE ausgesetzt, wenn das Projekt termingerecht fertig wird. Und vor kurzem bekam ich zusätzlich zum Honorar eine Einladung zu einem Seminar, das mehr kostet, als das ganze Webprojekt, um das es ging. Alles Leute aus meiner Generation, versteht sich. So gefällt es mir! Sogar besser, als wenn von vornherein "bis an die Schmerzgrenze" verhandelt würde - das werd' ich wohl in diesem Leben kaum mehr lernen. Und vielleicht ist das ja gut so.
06:06:99
Ich lief durch die Straßen und genoß die Ruhe und Frische, die Abwesenheit alles Sozialen. Wie schön, wenn MENSCH mal fehlt! Normalerweise sucht man im Raum nach Ruhe, reist in entlegene ruhige Ecken für ein paar Tage der Erholung - hier hatte ich auf einmal die Ruhe in der Zeit gefunden. Trotz aller Individualisierung, trotz der Aufhebung so vieler Regeln und Traditionen gibt es noch diese Rythmen: Nacht, Tag, schlechtes Wetter, Sonntag... Und sie gestatten es, den leeren Raum am selben Ort zu finden, an dem Nachmittags der Bär tobt!
Sucht - meine unendliche Geschichte....
Als ich dann bei Kaffee und erster Zigarette die Mail abrief, mußte ich feststellen, daß mein über ein Jahr altes "Nichtrauchertagebuch" bei GMX als Toplink erwähnt ist. Nun schreiben mich wieder viele nette Menschen an und verwickeln mich in ihre aktuelle Rauchproblematik. Normalerweise antworte ich auf solche Mails nicht. Ich hatte mich damals entschieden, das Nichtrauchertagebuch im Netz zu lassen, obwohl ich einige Monate nach Abschluß wieder mit der alten Sucht begonnen hatte, dumm und unbelehrbar, wie ich nunmal bin. Ich ließ es stehen, weil es offenbar einigen Leuten nützte bei ihrem eigenen Versuch, das Rauchen zu lassen. Es hatte, sozusagen als netzliterarisches Werk, eine Eigendynamik entwickelt, die ich nicht gewaltsam beenden wollte. Meine Freunde und Online-Bekannten wissen natürlich, daß ich wieder "unter der Nikotinbestie" lebe. Doch auf die Mails, die mich aufgrund des Nichtrauchertagebuchs erreichten, antwortete ich nur selten, es wäre ja auch blöd, einer textlichen Motivation ein ebenso textliche Demotivation folgen zu lassen. Manche Leute schrieben auch wörtlich: bitte sage mir nicht, daß Du wieder rauchst! - nun gut, ich ließ es bleiben.
Aber jetzt, wo die Mails ein bißchen viel werden, setze ich doch einen Link zu diesem Tagebuch-Eintrag. Ich eigne mich nicht als Vorbild und Heilige der Suchtbekämpfung, im Gegenteil. Allenfalls kann ich über meine jeweilige Verfassung, meine Versuche, Erfolge und Mißerfolge schreiben - und vielleicht, je nachdem, was die aktuellen Leser von 'Power of Now' nun für richtig finden, werde ich das Nichtrauchertagebuch löschen.
Als ich einige Zeit nach Beendigung des Nichtrauchertagebuchs wieder zu rauchen anfing, war das die übliche Dummheit der Süchtigen: Da war doch mal ein Lusterlebnis, probier doch mal, ob es noch eines ist.... Hinzu kam, daß ich gewaltig zugenommen hatte, ganz ohne spürbar mehr zu essen. Ich fühlte mich zunehmend unwohl in meinem Körper. Zwar war die Lunge echt erholt, aber die zusätzlichen Kilos machten mir wirklich zu schaffen. Und das untergrub so langsam meine Anti-Rauch-Motivation. Ich erkannte, daß mein Leben, wie es ist, das im wesentlichen sitzende Leben vor dem Monitor, nicht so einfach durch Weglassen einer Droge zu gesunden ist. Die Sucht geht lediglich auf andere Stoffe über - oder wird sogar stofflos, z.B. indem man ein Workaholic wird. Ich hätte dagegen weitere Disziplin setzen müssen: auch das Essen problematisieren wie vorher das Rauchen, regelmäßig Sport treiben, absichtlich den Ausgleich veranstalten, Fitneßzentrum, Joggen, Massage, Sauna - doch dazu war und bin ich nicht bereit. So sehr will ich einfach nicht um meine Befindlichkeit kreisen, das langweilt mich und ich konnte noch nie viel Energie in Dinge stecken, die mich langweilen.
Allerdings hat das Ganze doch eine Folge: als ich der Nikotibestie wieder verfallen und mir über all dies klarer geworden war, nahm ich den Wunsch, die Stadt zu verlassen, zum ersten Mal ernst. Vom Computer aufstehen und einen Schritt in den Wald gehen, einen Garten pflegen, zu Fuß die Dörfer in der Umgebung erkunden - DAS sind Aktivitäten, die ich mir schon lange wünsche. Ich hoffe, sie werden mich nicht nur glücklicher machen (eigentlich bin ich ja glücklich genug!), sondern mir den körperlichen Ausgleich bringen, der es mir gestattet, das blödsinnige Saugen am Glimmstengel wieder sein zu lassen.
03:06:99
Das sind natürlich nur realitätsfremde Gedanken eines Workaholics während des "Arbeitsanfalls"! Sobald das Ende erreicht ist, lasse ich alles stehen und liegen und lungere ein bis zwei Tage herum, lese und schreibe Mails, bastle an Webseiten, die wirklich völlig frei vom "Um-zu" sind (...noch im Bau!) und frage mich, warum es eigentlich nicht reicht, für das Nötigste zu arbeiten und ansonsten in der Sonne zu sitzen!
Na, schon bald kann ich das ausprobieren. Ab 15.Juni können wir in die neue Wohnung auf Schloss Gottesgabe. Mein Lebensgefährte wird zuerst hinfahren und die Leitungen checken: ISDN an die richtige Stelle, TV-Kabel in beide Zimmer. Ab 1.Juli kann es dann losgehen, und ich bin langsam wirklich gespannt, freu mich riesig auf Wiese, Wald, Pflanzen und Getier, auf die Erforschung der Umgebung und auf all die Abenteuer, die so eine Veränderung des Lebensstils (von der Metropole ins winzige Dorf) mit sich bringt.
So ein Umzug in die Fremde ist ja nicht dasselbe wie vor den Zeiten des Netzes. Meine Online-Fühler sind lange schon ausgestreckt und ich bin über alles im Bilde:
und lasse die Worte "Schwerin" und "Mecklenburg" von
Tracerlock überwachen, bekomme also täglich Mails, welche Webseiten sich
angemeldet haben.
Ungerufen haben sich aufgrund dieser Tagebucheinträge mehrere Leute eingefunden, die meine
alte Wohnung übernehmen wollen - ich brauch da garnix mehr machen...
Eine wunderschöne Site entdeckte ich gestern: www.duemmer.de ist die Seite des Naturschutzgebiets Dümmersee, etwa 10 km von meinem künftigen Wohnort.
Die Bildergalerie ist ein Traum! Ich kann es kaum erwarten, in diesen
Landschaften leibhaftig herumzulaufen.
Es ist nicht mehr lange bis zu unserem Umzug aufs Land. So langsam stellt sich ganz unterschwellig ein gewisses Spannungsgefühl ein, so eine Art Prickeln wie vor einem großen Abenteuer. Und das ist es ja auch, nach 20 Jahren Berlin.
Ab heute gibt es eine FAQ zum Tagebuch - denn immer wieder werde ich gefragt, WARUM ich schreibe und für WEN. Es ist allerdings keine sehr webtypische FAQ, nicht knackig kurz, sondern eher gemütlich.
Gestern abend war ich mit meinem lieben Freund und Lebensgefährten zu Besuch bei den Freunden, mit denen wir bald in das kleine Dorf Gottesgabe bei Schwerin ziehen. Es war wie immer sehr umtriebig, drei aufgeweckte Kinder und zwei häufig klingelnde Telefone ließen die Zeit wie im Flug vergehen. Dann, daheim vor unserer Haustür angekommen, beschlossen wir, noch eine ruhige Stunde bei Wasser und Wein zu verbringen. Doch es sollte nicht sein, kaum hatten wir uns niedergelassen, kamen alte Bekannte und setzen sich zu uns. Sie waren in äußerst aufgeräumter Stimmung und redeten wie die Wasserfälle, legten los und hörten nicht mehr auf. Jeder für sich, oft auch gegeneinander, einander ins Wort fallend, ohne Ende. Ich hatte nicht den Eindruck, daß mit uns gesprochen wird oder gesprochen werden solle - sie kämpften mehr miteinander um die Redezeit, und darum, wer hier oder da Recht hat.
So und ähnlich sind viele 'Gespräche'. Menschen machen die allergrößten Anstrengungen, um zu Wort zu kommen, möglichst interessante Dinge zu sagen, wunderbare Ideen, Thesen und Argumente zu bringen oder zu widerlegen - oder sie erzählen und erzählen und erzählen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was das Gegenüber denn mit dem Thema zu tun haben könnte.
Früher hab' ich mich darüber geärgert, doch im Grunde nur, weil ich selbst in solchen Situationen nicht genug Redezeit ergatterte, bzw. mich dazu unziemlich anstrengen mußte. Heute muß ich glücklicherweise nicht mehr viel reden, wahrscheinlich, weil ich es lange Zeit ausgiebig genug betrieben habe, um sämtliche Illusionen und Selbsttäuschungen über irgendeinen möglichen "Sinn" solcher Abquatschereien zu verlieren. Wenn mich jemand mit einem Redeschwall überschüttet, stimmt es mich eher traurig und ich bekomme Fluchtgedanken.
Die Fluchtgedanken kommen auf, weil das ganze einen Energieverlust verursacht. Selbst, wenn man es schafft, die eigene Ruhe zu bewahren, so ist gegen die hektische Stimmung und die vielfältig negativen Emotionen kein Kraut gewachsen. Traurig stimmt es mich, weil es so absurd und dazu noch vergeblich ist. Absurd ist die Tatsache, daß der militante Redner eigentlich nichts anderes will, als durch das Viel-Reden wahrgenommen zu werden, Anerkennung und Zuneigung vom anderen zu bekommen. Und er (oder sie) sieht nicht, daß so eher das Gegenteil erreicht wird. Selbst wenn der WAHRE ZUHÖRER zur Verfügung steht, völlig leer, ganz offen, dem Redner voll zugewandt, bemerkt der in seinem offensiven Output Gefangene ihn nicht. Bemerkt garnichts mehr, nicht das Gegenüber, nicht die Musik, die Farben und Formen, die anderen Anwesenden, das Kommen und Gehen, das Wetter, die Nacht....
Und außerdem ist es vergeblich. Der Spruch "geteiltes Leid ist halbes Leid" ist falsch. Wer andere mit ausufernden Geschichten von der bösen Welt und den schlimmen Mitmenschen 'beglückt', befreit sich selbst kein Stück davon, zieht nur - im schlimmeren Fall - die anderen mit ins psychische Elend.
Zu bauchhaftig?
Zum Eintrag vom 15. bekam ich eine Mail, in der die "Bauchhaftigkeit" meiner "Argumentation" beim Thema Geldmacke gerügt wurde. Begriffe wie "Sünde" oder "Schuldgefühl" seien da nicht angebracht. Und weiter:
Genau betrachtet sind diese Regungen doch eine fast instinktive Abwehr
des imperialistisch alle Strukturen und Beziehungen zersetzenden
Fetischcharakter des Geldes und des damit verbundenen
Tauschwertprinzips. Freud hat das noch unter dem Thema "Das Unbehagen an
der Kultur" subsumiert, inzwischen geht es allerdings viel tiefer.
Die Vernichtung traditioneller sozioökonomischer Strukturen (Stichworte:
Zerfall der Familie, Beziehungsunfähigkeit, Verlust des Subjekts)
reduziert die Menschen doch immer stärker auf den Besitz ihrer
Gegenstände bzw. deren Geldwert, frei nach der Formel: Bist du was, hast
du was. Sich diesen Tendenzen zu widersetzen halte ich für überaus legitim, was
mich in keinster Weise daran hindert an den richtigen Stellen auch
richtig Geld zu verlangen.
Es gibt psychische Macken, die eine ganze Generation mit sich herumschleppt und es dauert eine Weile, bis man bemerkt, daß es sich hier um kein individuelles Problem handelt. Unter den "Post-68ern", zu denen ich gehöre, ist das zum Beispiel die Haltung zum Geld-Verdienen. Es hat etwas grundsätzlich "sündhaftes" an sich, obwohl der Begriff "Sünde" für diejenigen, die in den 70gern erwachsen wurden, schon immer völlig out war.
Heute, am hellichten Sonntagmorgen, bin ich um kurz nach sieben rausgegangen, um mir eine Zeitung und Zigaretten zu holen. Wie still das war! Wie leer! Freie Straßen, kein Mensch weit und breit, ein bißchen Vogelgezwischer, sonst nichts. Und das in der geographischen Mitte Berlins, der Metropole, mit der man ständige Bewegung, Lärm, Buntheit und vielfältiges Leben assoziiert. Ja, das Wetter ist heute nicht besonders, der Himmel ist bedeckt und sieht nach Regenschauern aus - das schreckt sogar die fröhlichen Frühspaziergänger ab.
Ich freu mich schon sehr auf Gottesgabe, wo ich in drei Wochen hinziehe!
Seit wenigen Tagen genieße ich wieder "Freizeit", ein umfangreicher Auftrag ist weitgehend fertig. Erleichterung! Irgendwie schaffe ich es nie, diese Endphasen heftiger Arbeit mit Termindruck zu vermeiden. Ich will es garnicht, so scheint es, denn diese Zeiten entfalten eine eigene Qualität: ich erlebe dann eine ungewohnte Leistungsfähigkeit, produziere gewaltigen Output pro Tag und fange schon an, mir Gedanken zu machen: wenn ich immer so arbeiten würde - du lieber Himmel, was könnte ich da alles auf die Beine stellen!
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