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26:07:99 Gottesgabe, Tag 12
 
Gestern der erste freie Nachmittag, seit ich hier wohne! Es war dringlich nötig, denn die Arbeit ist dabei, mir wahrhaftig über den Kopf zu wachsen. Ich kann mich bemühen, wie ich will, es passiert trotzdem, daß ein Auftrag das vorab kalkulierte Zeit-Volumen weit überschreitet. U.a. liegt es daran, daß ich es zu selten fertig bringe, zu sagen: DAS bedeutet aber zusätzliche Stunden, also mehr Zeit , mehr Kosten.... Nein, ich arbeite, bis ich 4-eckige Augen habe, damit der Kunde ja zufrieden ist! Vordergründig eine schöne Eigenschaft in der "Dienstleistungsgesellschaft", sieht man genauer hin, ist es eine Psychomacke, an der ich sporadisch regelrecht krank werde - wobei "krank sein" etwas ist, das ich mir sowieso nicht gestatten würde, solange ich noch den Klickfinger bewegen kann und bei Bewußtsein bin.

Wär ich eine Firma, würde sowieso alles dreimal solange dauern, jeder Handschlag würde extra berechnet und alle Beteiligten fänden das selbstverständlich. Offenbar muß ich hier noch einiges lernen, um mein Leben als Selbständige streßfreier zu gestalten... :-)

Schöne Leserbriefe sind in den letzten Tagen gekommen: ein Gedicht von Ingo Schuch, ein Geburtstagsgruß von Ingo Mack - beide mit sehr atmosphärischen Sätzen über das Landleben. Herzlichen Dank!

Jan Bojaryn kann dagegen garnicht verstehen, wie ein Mensch aus der Stadt das Land überhaupt in Erwägung ziehen kann! Diese Überschaubarkeit und die daraus resultierende Sozialkontrolle sind ja exakt das Gegenteil des anonymen Lebens in der Großstadt. Dazu gibt es eine Menge zu sagen! Doch ich werde das erst morgen oder übermorgen tun und den Gedanken solange noch ein wenig mit mir tragen - jetzt ruft nämlich erstmal wieder die Arbeit!


 

24:07:99 Gottesgabe, Tag 10
 
Gestern war ich das erste Mal wieder in Berlin seit dem Umzug und wahrscheinlich wird es für einige Zeit das letzte Mal gewesen sein. Von 8 Uhr morgens bis 10 Uhr abends unterwegs, Termine, Gespräche, Autoverkehr, Sachen einräumen, einkaufen... Natürlich hat uns die Hausverwaltung versetzt, wegen der wir zur 'Wohnungsabnahme' hingefahren sind! Jetzt werde ich das schriftlich abwickeln, der Nachmieter ist bereits drin und ich sehe nicht ein, dewegen nochmal 450 km zu fahren!

Wie schön, dann endlich wieder in der stillen Küche im Schloß, bei Kerzenlicht und einer Flasche Wein fast wortlos zusammensitzen und dem Wind in den Bäumen zuhören.

Jetzt ist es schon fast 9 Uhr und gleich muß ich Mails abrufen - nach einem Tag offline hat sich da sicher einiges angestaut, auch richtig wichtige Dinge. Wenn die Mails erstmal da sind, finde ich keine Ruhe mehr zum schreiben, dann haben mich die Pflichten im Griff und ich verfalle dem Versuch, möglichst viel "fertig" zu bekommen, an Schreiben ist dann nicht mehr zu denken. So genieße ich diese ruhige Stunde vor der Arbeit, etwas, daß mir nur als Selbständige gelingt. Nie wäre ich früher auf die Idee gekommen, vor dem Aufbruch ins Büro noch eine Stunde herumzusitzen und die Gedanken kommen zu lassen!
 
Nebenbei war gestern mein 45. Geburtstag. Ich feiere Geburtstage nicht, es ist mir immer schon ein bißchen peinlich, Gratulationen und Geschenke entgegenzunehmen, selbst das "Ereignis" zu sein, wegen dem sich Leute bemüßigt fühlen, zusammenzukommen und Aufwand zu treiben. Also hab' ich das schon früh abgeschafft, gleich mit 19, nach dem Auszug aus der elterlichen Wohnung.

Gedanken, die man sich an Geburtstagen macht oder machen sollte, bewegen mich heute kaum noch: Ist es das jetzt? Bin ich da, wo ich sein will, sein soll? Tu ich das, was mir entspricht?

Seit ungefähr 8 Jahren kann ich dazu ohne Einschränkung JA sagen. So lange schon ist das Leben für mich wahrhaft interaktiv: keine mühsame Willensanstrengung in Verfolgung ausgedachter Ziele, kein Sich-Verbeißen in Widerstände, die immer von außen oder von anderen zu kommen scheinen, sondern eher ein mal mehr mal weniger achtsames Ergreifen von Möglichkeiten, die sich "von selbst" bieten. Die Aufmerksamkeit und Hingabe in Bezug auf dieses "von selbst" - im Unterschied zu mentalen Grübeleien wie "Was ist richtig? Was bringt mehr? Was hat Sinn?" - ist Selbst-Verwirklichung.

Eine ganz einfache Sache. Niemand muß befürchten, daß ich sie kompliziert ausformuliere und die Info-Gesellschaft mit einem weiteren Buch darüber belaste! Mit den unzähligen Büchern vom richtigen Leben, die ich zwischen 15 und 35 verschlungen habe, könnte ich eine mittlere Bibliothek bestücken: Es war unterhaltsam, geistig anregend, es hat die Wunschmaschine, das "hoffen&suchen" am Leben gehalten - aber genutzt hat es nichts. Es ist wirklich zum laut loslachen, wie unmöglich es ist, einfache Wahrheiten zu verstehen, auch wenn sie schwarz auf weiß in verständlicher Sprache 10.000-fach zur Verfügung stehen. SELBST-Verwirklichung ist NICHT Ich-Verwirklichung - aber das kann man eben nicht als Info-Input aufnehmen, das muß man ausexperimentieren und erleben.

Genug! Getragene Worte zum 45. - meine Güte, das wollte ich gerade nicht! Draußen zeigt sich die Sonne zwischen den Wolkenbergen, ich werde einen Kaffee aus der Küche holen und mich endlich wieder nützlich machen...


 

22:07:99 Gottesgabe, Tag 8
 
Eine Woche Gottesgabe! Als ordentlicher Bürger fahre ich jetzt zum Anmelden AUFS AMT nach Lützow. Fünf Kilometer gewundene Landstraße, teils durch wunderschöne mecklenburgische Baum-Alleen. Einige Straßen sind noch immer Kopfstein-gepflastert, der Aufschwung Ost hat zumindest hier noch nicht alles glatt gemacht. Rechts und links riesige gelbe Felder, reifer Weizen, ein paar Windräder, die der Landschaft etwas künstlerisches geben.

Ich fahre langsam, denn es gibt keinen Grund, sich zu beeilen. Sowieso bin ich nach 20 Jahren Berlin keine geübte Autofahrerin und mir sehr bewußt, daß ich mit dem Lenkrad den schnellen Tod in Händen halte. Einen langsamen Laster überholen und dabei Gas-gebend auf ein entgegenkommendes Auto zufahren, treibt mir den Schweiß auf die Stirn! Also vermeide ich es, soweit möglich - auf diesen kleine Straßen kein Problem, es kommt sowieso nur selten ein Auto.

Auf der Behörde: ich hab' zwar die Abmeldung dabei, aber nicht den Mietvertrag! Die Sachbearbeiterin sagt mit entschuldigendem Lächeln: "Den muß ich aber einsehen!" Dann füllt sie das Anmeldeformular aus, klebt einen Aufkleber mit der neuen Adresse auf meinen Ausweis, ich unterschreibe. "Ich verlaß mich drauf, daß Sie den Vertrag noch vorbeibringen", meint sie und entläßt mich als korrekt umgemeldete Neu-Mecklenburgerin. Ja, gibts denn das?

In Berlin nicht. Da hätte man mich mißgelaunt angemuffelt, was mir denn einfiele, ohne Nachweis des aktuellen Woihnsitzes überhaupt zu erscheinen! Da könne ja jeder kommen....

Es ist auffällig, wie freundlich die Leute hier sind - im Laden, in der Tankstelle, im Amt. Kein mühsam aufgesetztes Call-Center-Lächeln, weil man ja heute "kunden-orientiert" sein will. Nein, ganz normale gut gelaunte Menschen, die ihren Job machen und dabei offenbar Spaß haben, sich zumindest nicht krampfhaft nach Mallorca oder ins Wochenende wünschen!

Mehr und mehr bemerke ich, was uns in den Städten verloren gegangen ist: die Achtung vor dem anderen, die Freude am Mitmenschen. Wo täglich Tausende vorbeistapfen, sich in U-Bahnen ballen, auf Straßen, Plätzen und in Kaufhäusern einander anrempeln, alle eingesponnen in ihrem aktuellen "Um-Zu", möglichst wenig nach links und rechts schauend, kann diese Freude garnicht mehr aufkommen. Da muß jemand schon etwas leisten, etwas versprechen, aus dem einen oder anderen Grund zum "Objekt der Begierde" werden, bevor ein beide Seiten beglückender Kontakt zustande kommt. Allermeist ist der Andere Störung, Konkurrent, potentielle Gefahr, Hindernis - in der Stadt ist Ignoranz Überlebenstechnik.

Hier dagegen grüßt man sich, auch unbekannterweise. Nur weil da ein MENSCH entgegenkommt! Einfach, weil er auch da ist und es GEGEN DAS GEFÜHL gerichtet wäre, still wegschauend aneinander vorbeizugehen.

In der Stadt ist dieses grundsätzliche Gefühl nicht anders: Es verletzt, einen anderen nicht zu bemerken, bzw. nicht von ihm wahr-genommen zu werden. Aber in den Menschenmassen der Metropolen müssen wir über dieses Gefühl hinweggehen, lernen, es nicht mehr zu bemerken. Und wir lernen schnell, passen uns an, vergessen, daß da überhaupt etwas war.... ein weiterer Stein in der Mauer, die alles ausschließt, was nicht Verstand, Berechnung, Ziel und Zweck ist.
 
 

21:07:99 Gottesgabe, Tag 7
 
Endlich die ersten Bilder, sogar Innenräume fotografiert meine neue Digitalkamera (Olympus Camedia C-2000 Z) auf bloßen Klick recht passabel: z.B. die Küche und mein Wohn/Arbeitszimmer. Sicherheitshalber hab' das ich Licht angeschaltet, es wäre aber wohl auch ohne gegangen (die Bilder sind gegenüber dem "Original" schon gewaltig datenreduziert).

Immer wieder wundert mich das Phänomen des Abbildens: sobald ein Stück der Umgebung zum "Motiv" geworden ist und damit als Objekt zur Verfügung steht, gewinnt es eine eigene Magie, die Magie des Bildes. Das Bilderverbot in manchen Religionen kann ich mittlerweile verstehen. Immer wirken die Bilder ganz anders als die Realität, es entwickelt sich zudem ein Drang zum Abbilden, der psychologisch einen Jagd-Aspekt beinhaltet, vor allem aber den Abbilder aus der Realität herauszieht und ihn - vermeintlich - daneben, bzw. darüber stellt.

Und wer abbildet, wählt aus! Ist der Blick direkt von der Schloßtreppe ins Dorf nicht schön? Und erst der Blick auf den Eichenweg nach rechts! Die pure Idylle! Was unübersehbar zwischen diesen Blickwinkeln, nämlich schräg-rechts steht, würde normalerweise nicht abgebildet: der verfallene Stall, an dessen Stelle - vielleicht - einmal ein Gemeindezentrum entstehen soll.-
Wer mag, kann sich die Bilder (und noch ein paar mehr) im Zusammenhang ansehen - immer aufs Foto klicken!

Übrigens ist hier noch eine Wohnung frei, auch eine Maisonette mit Wendeltreppe: oben ein großer Wohnraum mit amerikanischer Küche, unten zwei kleine, eher dunkle Zimmer zum Schlafen und Werken. Ca. 70 m², vom großen Zimmer aus führt eine eigene Treppe nach hinten zur Schloßwiese hinaus. Ich schätze, die Wohnung kostet so 850,- warm - für eine Einzelperson ideal. Mir würde gefallen, wenn ein Networker oder eine Networkerin da einzieht.
 
 

20:07:99 Gottesgabe, Tag 6
 
Der erste Regen. Die ganze Nacht hat es gewittert und noch jetzt gießt es wie aus Kannen. Eine hübsche Eigenheit des Schlosses ist der Lichthof, in dem die Wendeltreppe die beiden Stockwerke der Wohnung vebindet. Auf das Glasdach, das den Lichthof nach oben abschließt, prasselt jetzt der Regen und es hört sich an, als lebe man in einem großen Zelt.

Ich schaue auf die Wiese hinaus und stelle fest, daß ich für diese Witterung nicht gerüstet bin. Es braucht hier Gummistiefel! Überhaupt brauche ich dieses und jenes, und meine Neigung, zum "Jagen&Sammeln" in die Umgebung zu fahren, ist gering. Zu stark der Kontrast zwischen der hiesigen Land-Idylle und den Großmärkten auf der grünen Wiese, diesen brachialen Veranstaltungen durchmaschinisierten Konsums. Dann schon lieber ganz ohne körperlichen Einsatz shoppen: In Zukunft werd' ich alles per Web bestellen, was ich brauche!

Ach, wenn ich daran denke, was früher meine Themen waren und worüber ich heute schreibe! Diese philosophischen oder zumindest nachdenklichen Texte über Glück, über das Virtuelle und das Reale.... Und heute schreibe ich über Schnecken!

Als ich gestern abend aus dem Küchenfenster sah, das ebenerdig auf ein kleines Beet mit Farnen und Ackerschachtelhalm führt, sah ich sie herankriechen: bestimmt 20 Nacktschnecken hatten offenbar nichts anderes im Sinn, als uns einen Besuch abzustatten. Ich mußte an Steven King denken, der so wunderbar den amerikanischen Horror & Ekel angesichts unkontrollierter Natur in gruslige Geschichten spinnt!

Im nächsten Jahr, wenn der Garten bepflanzt wird, werde ich den Kampf gegen die Schnecken aufnehmen, an dem unsere Nachbarn bereits gescheitert sind: sie fressen einfach alles weg und es sind sehr viele! Ich werde es mit einem Schneckenzaun versuchen. Harte Chemie kommt nicht in Frage: es ist häßlich, wenn hunderte Schnecken sich im Todeskampf winden und dann ausgestülpt herumliegen und faulen. Die diversen Öko-Methoden (Bier, Sand, Salz...) funktionieren leider alle nur marginal, wie mir engagierte Gärtner versichern. Also blosse Mechanik, mal sehen, ob es nützt!

All diese Eindrücke von Insekten, Pflanzen, der schweren Erde und der verschiedenen Gerüche haben mit den Appetit verschlagen. Großartig! Genau das hatte ich mir gewünscht! In Berlin spürte ich immer diesen suchtartigen Appetit auf nichts bestimmtes, Kochen und Essen bedeuteten ein echtes Highlight im durchschnittlichen Tag. Anstatt in frustrierende Diät-Versuche auszuarten, hab' ich es hingenommen als einen Tribut an das körperferne Stadtleben. Man lebt in Texten, in Medien und Gedanken, der Körper erlebt relativ wenig. Kein Wunder, daß das Essen eine überdimensionierte Bedeutung gewinnt - kein Wunder auch, daß mich 10 Kilo zuviel von meinem Wunschgewicht trennen. Noch! Denn der Appetit ist weg, und ich kann hoffen, daß die Kilos ganz von selbst dahinschmelzen....
 
 

19:07:99 Gottesgabe, Tag 5: Autoklau, Stromaussfall und Illja Richter
 
"Da kommt nicht MEHR", schrieb ich gestern morgen über das ereignislose Dasein auf dem Dorf, doch da klingelte es plötzlich an der Tür. Die Polizei sei bei unserem Auto, sagte der Nachbar, irgendwas sei passiert. Wir eilten zum Parkplatz in etwa 30 Meter Entfernung vom Schloß und sahen die Bescherung: Das hintere Fenster eingeschlagen, alles voller Glasscherben, zwei Polizeibeamte telefonnierten mit ihrem Handys nach der Kriminalpolizei. "Nichts anfassen!", sagten sie mitfühlend, und daß das Stümper gewesen seien, sonst hätten sie es nämlich geschafft, das Auto mitzunehmen. Glück im Unglück also, so eine Scheibe läßt sich ja leicht ersetzen! Schlimmer hatte es das Nachbarauto erwischt, dessen Lenkradschloß die Möchte-Gern-Diebe aufgebrochen hatten. Ihr Versuch, den Wagen anzuschieben, war allerdings mißlungen, sie ließen es mitten auf der Straße stehen. Und DAS war den Polizisten aufgefallen....

Ich mußte an die warnenden Worte eines Auftraggebers denken, der zu meinem anstehenden Umzug gesagt hatte: "Passen Sie auf! Da im Osten wohnen lauter verzweifelte Menschen, die Ihnen alles kaputt schlagen." Na, die Leute jedenfalls, die wir bisher kennengelernt haben, sind durchweg freundliche selbstbewußte Leute, die kein Stück an die Gestalten erinnern, die in den Feuilletons großer Zeitungen als mißgelaunte und vom "Aufschwung Ost" enttäuschte Ureinwohner vorgeführt werden (genauso hoffe ich, kein "typischer" Besserwessi zu sein...). Trotzdem fragte ich: "Meinen Sie, daß das Berliner Nummernschild besonders anregend wirkt?"

"Nein, nein, die Zeiten sind lange vorbei!", sagte der Polizeibeamte, "die kommen aus Schwerin und ziehen nachts über die Dörfer, knacken Autos und fahren 'rum, bis das Benzin alle ist". Aha, nichts Ungewöhnliches also, kommt überall vor und der Parkplatz am Dorfrand ist ja wirklich einladend. Auf einmal verstehen wir besser, warum hier in jedem zweiten Haus ein großer Hund lebt, der laut bellt, wenn jemand vorbeikommt...

Nachdem der Aktenlage genüge getan und die Beamten gegangen waren, kehrten wir die Scherben auf, bastelten aus der Pappe einer Umzugskiste ein Ersatzfenster, verklebten alles schön mit Packband und stellten das Auto erstmal ins ehemalige Feuerwehrhäuschen in Sicherheit. Nun wollte ich ein Schild "Einfahrt frei halten" ausdrucken - aber komischerweise war der Bildschirm schwarz! Kein Festplattenrauschen, alles tot! Stromausfall im ganzen Haus, auch das Wasser weg. Wieder erkundigten wir uns bei den Nachbarn, was davon zu halten sei und ob man etwas unternehmen müsse. "Kommt öfter mal vor", hieß es, "dauert vielleicht eine Stunde...". Naja, eine Stunde Zwangspause ist zu ertragen, doch ich dachte kurz darüber nach, ob ich mir nicht doch einen Notebook mit mehreren Akkus anschaffen sollte, für den Fall, daß es einmal länger dauert.

Mittlerweile war es Nachmittag und wir beschlossen, unseren Schwerin-Besuch doch noch zu unternehmen. In einer Berliner Zeitung hatte ich gelesen, daß da immer "verkaufsoffener Sonntag" sei und das wollten wir für ein paar Einkäufe nutzen. Die 9 km sind ja nur ein Hüpfer...

Wir parkten auf einem bewachten Parkplatz, zahlten zwei Mark fünfzig für das Gefühl, unser Auto sicher abgestellt zu haben, und wanderten durch die Straßen im Zentrum. Von wegen verkaufsoffen! Das einzig offene neben den Cafés in der Fußgängerzone ist das Schloßparkcenter, die örtliche Mall. Wir betraten die nagelneue Konsumkathedrale, die - genau wie das Zentrum insgesamt - einen seltsam leeren Eindruck machte. Alles sieht dort genauso aus, wie in den neuen Arkaden am Potsdamer Platz, genauso, wie wahrscheinlich alle Malls aussehen, diesselben Geschäfte, die gleiche Sauberkeit und Aufgeräumtheit, dasselbe erhöhte Preisniveau - und alles so arrangiert und übertrieben schick ausgebreitet, als sei das ganze Jahr Weihnachten. Nur die Menschenmengen fehlen, die hier eigentlich dazugehören und so wirkt das Ganze ein wenig gespenstisch, wie eine aufwendige Theaterpremiere vor drei Gästen....

Wieder unter freiem Himmel, entdeckten wir ein winziges Café am Dom mit nur vier, noch dazu freien Sitzplätzen auf der kleine Gasse. Wir tranken einen Cappucino, neben uns setzen sich zwei Frauen mittleren Alters - man grüßt sich hier, sogar in der Stadt!

Eine Gestalt mit Hut, Schal und trotz Hitze langem Mantel näherte sich von links. Die Frauen wurden auf den Mann aufmerksam, der sich prompt ausladend vor ihnen verbeugte und in schauspielerhafter Manier begann, mit ihnen zu plaudern. "Lassen Sie mich jetzt einfach gehen", sagte er zum Abschied mit leiser Stimme, "ein Stück von mir bleibt ja doch immer zurück". Ich wunderte mich: ob da die Stadt einen Schauspieler angeheurt hatte, um den Touristen etwas zu bieten? Oder ob der Mann in seiner Maniriertheit einfach ein komischer Kauz war, ein klein wenig verrückt vielleicht, so wie jede Stadt ihre "Originale" hat?

"Das war doch Illja Richter!", sagte mein Lebensgefährte, "kennst du den denn nicht mehr?". Doch, kenn' ich - aber bisher noch nicht als graumelierten Mittfünfziger, der durch Schweriner Gassen wandelt wie der Graf von Saint Germain...


 
18:07:99 ....Gottesgabe, Tag 4
 
Während ich in Berlin jeweils mittags einen Spaziergang in den nahe gelegenen Park unternahm, ist hier eher der Abend die Zeit zum Herumgehen. "Herumgehen" - schon die Wortwahl zeigt, daß es hier eher seltsam wirkt, durch die Gegend zu laufen. Fast niemand tut das, wir begegnen keinem Menschen, wenn wir auf einem der drei möglichen Wege ein Stück vom Dorf weg in Richtung des nächsten laufen.

Auf dem Land geht man nicht spazieren, stelle ich fest. Das ist auch kein Wunder, denn die Häuser, an denen wir vorbeikommen, haben alle wunderschöne, aufwendig gepflegte Gärten. Der Landmensch arbeitet in seinem Garten oder sitzt dort und genießt das Erreichte - warum durch vergleichsweise öde Straßen wandern, entlang an ost-typisch endlosen Weizenfeldern?

Ich weiß, warum doch: der Blick in die Weite, in die ganz leicht gewellte Landschaft aus Feldern, kleinen Wäldchen und Alleen, hinten ein paar Windräder, die sich vor der untergehenden Sonne in den spektakulären Himmel strecken - obwohl es eine Kulturlandschaft ist, fühle ich in diesem Blick die Unabhängigkeit der Erde, die Gleichgültigkeit gegenüber dem Menschen. Und das hat etwas beruhigendes. Was immer uns umtreibt, Liebesdinge, Geschäfte, Politik, die oft nervigen Kleinigkeiten des Alltags - was ist das schon, angesichts des Ganzen?

Mein Lebensgefährte hat den völlig zugewachsenen Garten gerodet. Es wird viel Arbeit machen, in dieser Wildnis wieder eine Reihe bepflanzbarer Beete herzurichten - wahrscheinlich werden wir schon bald auch weniger "herumgehen"....
 
Zur Welt der Symbole, zum Geschriebenen und zur ganzen Online-Welt empfinde ich eine nicht unangenehme Distanz: gut, daß es das auch gibt, aber es ist lange nicht alles. Natürlich weiß das jeder - aber in der Stadt fühlt man es nicht, dort ist fast alles Symbol, "Um-zu", Bedeutugsträger - alle Aktivitäten scheinen auf etwas gerichtet, was später einmal kommen soll. Die ganze "Umwelt" unterstützt mit ihren vielfältigen Eindrücken das stete Plappern im Kopf, das dauernde Kommentieren und Räsonnieren, Bewerten und Kritisieren. Das ist hier nicht so. Alles ist, wie es ist, da kommt nicht MEHR. Und es gibt nicht allzuviel dazu zu sagen. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum Leute fragen: "Ja, wirst du es dort denn aushalten?".

Mal sehen. Noch genieße ich es - und außerdem bin ich nicht hier festgenagelt. (In Berlin war ich das, wo es eineinhalb Stunden Fahrt durch schlimmsten Stadtverkehr erfordert, bevor man aus dem Häusermeer herauskommt.) Heute nachmittag werden wir zum ersten Mal nach Schwerin fahren (9 km), da ist sogar "verkaufsoffener Sonntag"...
 
 

16:07:99 ....angekommen: Gottesgabe, Tag 2
 
Mit einem Teelöffel läßt sich ein Swimming-Pool schlecht ausschöpfen. Genauso unmöglich scheint es mir, mit eigenen Worten etwas "Passendes" über diese unglaubliche Veränderung zu sagen. Ich bin kein Poet und konnte das bis heute nicht bedauern, doch jetzt wär' es schon schön, ein bißchen dichten zu können! Stattdessen werde ich Bilder machen, sobald das Gefühl körperlicher Erschöpfung vorüber ist, das der Umzug von der Metropole aufs Land hinterlassen hat.

In Berlin lebte ich mit meinem Lebensgefährten in einer 70 m² großen Wohnung. Jetzt teilen wir 144 m², Erdgeschoß und 1.Stock, verbunden durch eine wunderschöne Wendeltreppe in einem Lichthof, der sich in meiner Etage zur großzügigen Diele erweitert. Noch nie hatte ich soviel Platz! Es war ein Leichtes, alles mitgebrachte Umzugsgut aus- und aufzuräumen und noch immer ist genug Raum übrig, weit mehr, als ich jemals zur Verfügung hatte. Und Raum macht Freude, stelle ich fest! Macht den Kopf und das Herz frei, erst recht, wenn rund um den 'eigenen' Raum nichts anderes zu sehen ist als Wiese, Wald und Himmel.

Das Zimmer, in dem ich jetzt schreibe, hat je ein Fenster nach Osten und Norden, zur Diele hin eine weiße Flügeltür mit alten, geschliffenen Glas-Kasetten. Dadurch wirkt es noch weitläufiger, als seine vielleicht 30 m² vermuten lassen. Das Rauschen der Festplatte neben dem Vogelgezwitscher ist merkwürdig laut - überhaupt: die Geräusche! Nicht mehr dieses ständige Dröhnen einer aus verschiedensten Quellen zusammengemischten Lärmkulisse, sondern klare, identifizierbare Töne auf dem Hintergrund der Stille.

Und oft genug Stille pur, morgens, abends, in der Mittagszeit und die ganze Nacht über. Auf einmal habe ich wieder Lust, gelegentlich Musik zu hören, ein Bedürfnis, das mir in den Jahrzehnten des Stadtlebens ganz verloren gegangen war. Gegen den Sound der Nachbarn (rechts Türken-Rap, gegenber Techno, links lautes Streiten, unterlegt mit Baulärm und dem steten Rauschen der Autos...) weitere Töne zu setzen, schien mir wie das Nachsalzen eines sowieso schon völlig überwürzten Essens. Doch hier, mitten in die Ruhe hinein, wirkt z.B. die Musik von Ravi Shankar als spielerische Begleitung dessen, was ist; kein Übertönen, kein zwanghaftes Beschallen der außer Form geratenen Psyche, sondern Vertiefung und Erweiterung mittels einer anderen, zutiefst menschlichen Dimension.
 
Hier in Gottesgabe existieren weder Läden noch irgendwelche öffentlichen Einrichtungen. All dies gab es vor der Wende im Schloß, in dem ich jetzt mit weiteren fünf Mietparteien wohne. Der nächste Laden ist heute ein Edeka-Geschäft im 5 km entfernten Lützow. Bequemerweise ist er auch gleichzeitig Post und Zeitungsladen. Während ich bei der Verkäuferin Geld abhebe, lese ich den Steckbrief, der an der Wand hängt: "Raubmörder gesucht". Ich erstehe eine Schweriner Zeitung und kaufe ein wenig ein, bevorzugt interessante Ost-Produkte, die ich in Berlin nie zu Gesicht bekam. Der Weg nach Lützow und zurück ist meine erste Fahrt über Land, gewundene Straßen, wunderschöne Alleen, teilweise Kopfsteinpflaster. Und: nur ganz selten ein anderes Auto!
 
 

13:07:99 ....ausstöpseln...
 
Heute ist der letze Tag in Berlin, dies sind die letzten Sätze, die ich von hier aus eintippe. Gleich werde ich den Stecker ziehen und das ganze Equipment gut verpacken. Morgen früh kommt der Laster, doch dem werden die Geräte nicht anvertraut, nein, wir laden die PCs ins Auto. Nicht auszudenken, wenn auf dem Laster der Compi beschädigt würde....

Eigentlich sollte ich melancholisch sein, traurig, diese Umgebung, die mir 20 Jahre Heimat war, zu verlassen - und voller Freude auf das Neue.... Doch aktuell beschäftigt mich eigentlich nur der Gedanke an den Umzug, das Einladen und Ausladen und was dabei alles schief gehen könnte. Wenn morgen abend alles in der neuen Wohnung steht, werde ich zuerst den PC aufstellen, einstöpseln, und wieder gelassen sein können, wenn die erste Netzverbindung zustande gekommen ist. Wie lange es dann dauert, bis die Spüle funktioniert oder der Fernseher über den neuen Receiver Programme empfängt, ist vergleichsweise unwichtig.

Diese starke Bindung ans Netz ist keine Suchterscheinung: Ich ARBEITE ausschließlich über das Netz und befinde mich mitten in der Abwicklung eines Auftrags, der am 25. fertig sein muß - daneben noch einige andere, die gerade nicht so drängen, aber doch kontinuierliches Tun erfordern. Meine Auftraggeber wissen, daß ich bis Donnerstag out of order bin - aber dann muss es wieder flutschen.

Wie immer zeigen sich zwei Seiten einer Medaille, die einzeln nicht zu haben sind: einerseits macht es die Netzarbeit möglich, daß ich überhaupt aufs Land ziehe. Endlich raus in die gute Luft, weg vom Lärm, mitten in Wiesen, Felder, Landschaft, weiten Himmel. Etwas, daß ich mir untergründig seit Jahren erträume - und Träume werden wahr, wenn man die Gelegenheiten ergreift, die sich bieten.

Andrerseits bindet mich diese Arbeit ans Netz. Ich verliere viel, wenn ich nicht anstöpseln kann: meine ganze wirtschaftliche Existenz und große Teile meiner sozialen und kulturellen Bezüge. Kein Wunder, daß im Moment des Ausstöpselns diffuse Ängste auftreten!

Wie wird es wohl in 10 Jahren aussehen, wenn Menschen überall "verbunden" sind, stets Zugriff auf die Datensphäre haben, wo immer sie gehen und stehen? Ein Blick in den unteren Teil der Brille, ein Flüstern im unauffälligen Headphone - das Netz sagt, wer da drüben läuft, was das dort für ein Geschäft ist, wo ich auf der Straße einbiegen muß und wo ich bin, sogar wenn ich mitten im Wald stehe.... wenn dann mal "ausgestöpselt" wird, wird man eine Welt verlieren und sich alleine, nackt, isoliert und verloren fühlen. Wie ein Fisch auf dem Trockenen.
 
 

06:07:99 Noch 7 Tage...
 
...bis zum Umzug. Sonntag sind wir nach Gottesgabe aufgebrochen und erst gestern abend zurückgekommen. Zwei heiße Tage mit den ersten und wichtigsten Einrichtungsarbeiten, einige Lampen und der Herd funktionieren jetzt. Die Spüle, die aus einer anderen Wohnung stammt, machte noch gewisse Probleme - aber ich glaube nicht, daß die für ein Webdiary interessant genug sind.

Wir sind es ruhig angegangen, sind lange Zeiten auf der Wiese gelegen, ein wenig durchs Dorf geschlendert, mal in einen Nachbarort gefahren. Die Hitze wurde gemildert durch die armdicken Außenwände des Schlosses, die ein angenehm kühles Raumklima erzeugen.

Mir fehlen derzeit noch die Worte, um angemessen zu beschreiben, was für einen Eindruck dieses Land, dieses Umgeben-Sein von Pflanzen, Tieren, Elementen auf mich macht. Es ist wie ein ungeheures Glück, von dem man noch nicht weiß, ob man es verdient und was daraus werden wird. Beim abendlichen "Wiedereinschleusen" in den Moloch Berlin, auf den Stadtautobahnen, im Stau und in den diversen aufeinanderfolgenden Tunneln, wo der Motorenlärm zu lautem Rören anschwillt, empfand ich die Stadt stärker denn je als Gefängnis: Wer verläßt sie schon für einen kleinen Ausflug, wenn es so schwer ist, wieder hineinzukommen? Ein- bis eineinhalb Stunden dauert es vom "Rand" bis zum Zentrum, drei Stunden nervigste Autofahrerei, der Mindestpreis für jeden Kurztrip nach draußen, jede kleine Flucht.

Das ist nun bald zu Ende: am Mittwoch, den 14.Juli, wird unser Umzug stattfinden. Ich werde als erstes den PC ans ISDN-Kästchen andocken, das Telefon einstecken und mal eine halbe Stunde testen, ob es sich arbeitet wie bisher. Das Ausräumen und Einrichten wird kein allzugroßer Aufwand sein, ich besitze nicht viel Gegenständliches und habe noch einiges Überflüssige entsorgt. Andrerseits muß ich diese Woche noch dies und jenes einkaufen, besser hier, denn in Schwerin und Umgebung muß ich die Einkaufslage erst erforschen. Hinzu kommt die vielfältige Verstrickung mit der verwalteten Welt, alle Ummeldungen, Adressänderungen - es ist eine beeindruckend lange Liste abzuarbeiten.

Seit Sonntag früh hab' ich keine Mail mehr abgerufen. Alle, mit denen ich arbeite, wissen Bescheid, daß umzugsbedingt leichte Ausfälle der kontinuierlichen Kommunikation zu erwarten sind. Ich nehme mir vor, jetzt immer sehr früh zu beginnen, vormittags am PC zu arbeiten und nachmittags dann das Organisatorische, das "Real Life" zu bewältigen, das "ganz reale Leben", daß in Zukunft einen sehr viel größeren Stellenwert haben wird, als in meiner bisherigen städtischen Sitz-Existenz. Ich freu mich drauf.
 
 

29:06:99 Wind of Change...
 
...versehentlich gelöscht...
 
 

21:06:99 Wetter ohne Show
 
Gestern sind wir also dort gewesen. Über die Autobahn sind es gut zwei Stunden bis Schwerin, dann verfahren wir uns noch regelmäßig, bis wir die "gelbe" Straße nach Gottesgabe finden. Ein freundlicher Tankstellen-Betreiber half uns weiter, wir hörten zum ersten Mal den Sprachsound des Nordens - Ost oder West macht da offenbar keinen großen Unterschied!

Als wir die "Auffahrt" zum Schloß gefunden und das Auto abgestellt hatten, dachte ich beim Anblick des weiß gestrichenen Hauses mit der Freitreppe und dem Rosenrondell davor: DA WOHNE ICH JETZT. Das ist mein neues Zuhause! Den Gedanken werde ich noch eine Zeit lang üben müssen, bevor er mir selbstverständlich vorkommt. Zu verschieden ist alles von meiner jetzigen Bleibe im Herzen Berlins, wo der Ausblick auf die Häuserschluchten immer nur ein kleines Stück Himmel übrig läßt und der Lärmpegel es oft nötig macht, zum Telefonieren die Fenster zu schließen.

In Gottesgabe ist es dagegen still, eine unglaubliche, wunderbare Ruhe, die am Sonntagmorgen nicht mal durch einen Rasenmäher gestört wird. Wir wanderten ergriffen ums Haus und begrüßten einige Mieter, die draußen frühstückten, stellten uns als "die Nachmieter vom Stober" vor und ließen uns von den Hunden beschnüffeln, damit sie nicht mehr bellen, wenn sie uns sehen. Dann betraten wir UNSERE Wohnung. Leere Räume, frei von allem Gerümpel, Marmorfußboden im Erdgeschoß, Parkett im oberen Stock, wo ich wohnen werde. Leere Räume sind faszinierend, es sind Räume der Möglichkeiten und wenn ich es schaffe, werde ich versuchen, viel von dieser Leere zu erhalten. Das wird nicht schwer werden, denn in meinem Stockwerk sind es zwei Zimmer und eine große Diele - soviel Platz wie nie zuvor!

Nach einem Kaffee in der schon teilweise eingerichteten Wohnung unserer Freunde, die uns ihren Schlüssel mitgegeben hatten, wanderten wir durch den "Schloßpark", die große Wiese hinter dem dreieckigen Haus, die verwilderten Gärten, die sich östlich des Hauses in eine Senke erstrecken, das kleine Wäldchen hinter der Wiese mit riesiegen, uralten Eichen und großen Akazien.

Es war nun nicht mehr still, denn Wind war aufgekommen. Und was für ein Wind! Er bließ dunkle Wolkengebirge vor sich her und wehte mir warm ins Gesicht, ich spürte ihn durch die Kleider, fast wie eine Massage. Je nachdem, wie die Sonne es noch schaffte, durch die Wolken zu scheinen oder nicht, änderte sich die Stimmung rundum von Sekunde zu Sekunde. Und meine Stimmung änderte sich mit! Von einer Art freudiger Glückseligkeit hin zur Melancholie, dann wieder eine erregte Spannung angesichts von etwas Unbekanntem, das sich da in den Wolkentürmen gleich zeigen würde, fast, als käme gleich Gott um die Ecke.

Ich bin ein Resonanzkörper für die Elemente und schwinge einfach mit, eine Qualität, die in der Stadt nur selten spürbar wird. Dort richtet sich das Empfinden auf die Schwingungen des Sozialen, auf die Ausstrahlung der Menschen und ihrer Geräte. Doch unter dem weiten Himmel, umgeben von rauschenden Bäumen und flüsternden Zweigen wird der Gefühlskörper einer Generalreinigung unterzogen. Kein Gedanke schafft es, sich da wirklich festzuhalten, keine Grübeleien und Überlegungen schotten mich von der Umgebung ab, die sich direkt in den Empfindungen spiegelt.

Ich weiß, daß ich mich daran gewöhnen werde, daß es nicht so beeindruckend bleiben wird. Daß es auch im Wald von Gottesgabe möglich sein wird, über das nächste Webprojekt nachzudenken - aber es wird vergleichsweise leicht sein, es zu lassen. Das geht auch in der Stadt, keine Frage. Aber in der Stadt muß ich mich dann erst einmal mit vielem konfrontieren, was nicht gerade die Laune hebt: mißmutige unfreundliche Menschen mit verschlossenen Mienen, die ihre Agressivität an den Dingen auslassen, Müll verstreuen und Hauswände beschmieren (ich rede nicht von SCHÖNER Grafitti!). Luft, die nach Benzin und Fäulnis riecht, so daß mein Geruchsempfinden weitgehend stillgelegt ist, das donnernde Lärmen des Verkehrs und der Baumaschinen, und - wenn es warm ist - laute Musik aus den offenen Fenstern, extra aufgedreht um andere zu übertönen.

Es gibt natürlich auch in der Stadt das Schöne, die Fröhlichkeit, das Feiern auf den Festen, die Straßen mit den vielen Cafés und dem südländischen Flair. die unglaubliche Vielfalt der Gesichter, Körper und Klamotten, und schließlich Kunst und Kultur. All das wird mir fehlen, ich weiß. Doch hier & jetzt, seit 20 Jahren schon darin lebend, nehme ich es sowieso kaum mehr wahr. Dazu muß ich erstmal weg, hin zur anderen Seite des Daseins, wo die Elemente dominieren und nicht die Kultur. Von dort aus werde ich Berlin und andere Städte besuchen und bestimmt viel Freude haben!

Meine Freundin Jolly, die uns gestern nach Gottesgabe begleitet hat, sagte mal: draußen bekommt man von allen Seiten etwas geschenkt. Das stimmt. In der Stadt ist es sehr viel mehr von meiner bereits vorhandenen Befindlichkeit und Stimmung abhängig, wie ich das 'Außen' wahrnehme: deprimierend oder fröhlich, bunt oder grau in grau, friedlich oder agressiv. In der Welt der Elemente dagegen bin ich auf entspannende Weise zweitrangig. Hitze und Kälte, Wind, Regen, Sonne und die Gerüche der Erde spielen die erste Geige. Ich freu' mich drauf.
 

 
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© 1996-2000 Claudia Klinger
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