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Claudia Klinger:
Sich entspannen zu können wird immer wichtiger: Vor dem Monitor sitzend, zwingen wir den Körper für viele Stunden in statische und belastende Haltungen und versinken in die Arbeit. Erst, wenn der Schmerz beginnt, merken wir wieder: ach, ich bin ja auch ein Körper!
Viel schlimmer noch als diese äußerliche Verhaltensweise des steten Stuhlsitzens: Wir sind geistig immer aktiv, eingespannt zwischen Sein, Sollen und Wollen, wir käuen die Vergangenheit wieder oder widmen uns dem Ausmalen der Zukunft, den zu erreichenden Zielen und den Wegen dahin (oder den drohenden Gefahren und Möglichkeiten, ihnen auszuweichen).
Irgendwann werden wir gewahr: der Abschalter fehlt, wir haben keine Macht darüber, unseren eigenen Status zu bestimmen. Wie eine Maschine, die läuft und läuft, fliegen die Gedanken weiter, auch wenn wir "Pause" sagen oder "Schluß für heute". Mögen unsere "Aktivitäten" zu immer größerer Macht in der Welt der Arbeit führen - Herr im eigenen Haus sind wir nicht, ja, wir werden sogar immer hilfloser, benötigen zunehmend Medikamente, Ärzte, Massagen, Krankengymnasten oder benutzen Drogen, um uns vermeintlich zu entspannen.
Mit fast verzweifeltem Eifer widmen sich viele dem Sport und wollen gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen: abnehmen, fit und kräftig werden, eine marktgerechte Figur entwickeln und Entspannung finden. Aber Entspannen-können ist nur die halbe Miete. Es bringt nur wenig, immer wieder einen vom normalen Leben abgespaltenen "Sonderaufwand" bringen zu müssen, um wieder einmal, für dieses Mal, zu entspannen und eine gewisse Erholung zu erreichen. Eine ganz andere - alltagstaugliche! - Haltung ist Not-wendig: Es muß eine freie und eigendynamische Balancierfähigkeit zwischen Zuständen der Anspannung und Entspannung entwickelt werden, die dazu führt, daß eines Tages die "rechte Spannung" von Augenblick zu Augenblick (aus-) gehalten werden kann.
Das Bemühen beim Erlernen der "rechten Spannung" soll nicht auf dem Grad der Anspannung oder Entspannung liegen, den man gerade zu verwirklichen in der Lage ist (und den man gern mit den Leistungen anderer vergleicht), sondern auf der ununterbrochenen Beobachtung des Geschehens. Man sollte es erreichen, nicht immer erst hinterher zu bemerken: "ach, wie bin ich verspannt" oder "auf einmal fühl' ich mich ja so leicht und locker!", sondern wir sollten es mitbekommen, wie es dazu kommt. Nicht nur intellektuell, sondern aus eigenem Erleben. Es genügt nicht, zu wissen, was die Wissenschaften dazu sagen - ihr Wissen nützt mir nichts beim Versuch, das Entspannen zu lernen, es verhilft mir nicht dazu, MICH zu entspannen.
Weil es allein mit dem Vorsatz zur Aufmerksamkeit kaum zu schaffen ist, empfiehlt es sich, Übungen zu praktizieren, die den Körper einbeziehen. Es ist nicht egal, welcher Art diese Übungen sind, denn es geht nicht um Fitness oder ähnliches. Sie müssen zumindest so langsame Bewegungen beinhalten, daß unser ungeübtes Bewußtsein überhaupt eine Chance hat, ihnen zu folgen und gleichzeitig alle möglichen Parallelempfindungen von verschiedenen Ebenen (Körper, Gefühle, Gedanken) zu verarbeiten und bewußt zu bemerken (nicht nur Computer haben einen "Flaschenhals").
Sport dient also dem Zweck nicht, denn er bringt zwar aktuell Entspannung, man ist aber vom Sport-Treiben abhängig, lernt nicht, wie es passiert, das Entspannen, weil alle Kraft in die (Sport-) Anspannung selbst gelegt werden muß, wo die Aufmerksamkeit dann zwischen einer Zielvorstellung und Schmerzen hin- und herzappt. (Hinterher lesen wir dann Meßgeräte ab, die uns sagen, was wir "geleistet" haben.)
Yoga benutzt zum Beispiel die Methode, in statische Anspannungshaltungen langsam hineinzugehen, diese auf dem Gipfel der aktuell möglichen Anspannung (am Rand, nicht jenseits der Schmerzgrenze!) eine zeitlang zu halten, dann ebenso langsam zurückzugehen und auszuruhen.
Alle Etappen werden gleichmäßig beobachtet.
Beherrschen wir dies, wird die Aufmerksamkeit noch mehr auf die Art der Spannung (und die Atmung!) gelenkt und wir bemerken mit Staunen, daß sich der Körper auch in der Anspannungshaltung entspannt, nämlich alles entspannt, was für das Halten der Übung nicht erforderlich ist. Dies ist etwas, was wir nicht machen können, weil wir garnicht wissen, was wir machen sollten und wie.
Wir sollen auch nicht etwa lernen, bewußt jeden Muskel einzeln fühlen, benennen, und bewegen zu können. Es geht einfach darum, es geschehen zu lassen und zu bemerken.
Bei einem mittelprächtig verspannten Schreibtischleben dauert es seine Zeit, bis der Körper sich wieder erinnert, wie das geht - aber es kommt, sogar bald. Und später - im täglichen Leben, im REAL LIFE - brauchen wir uns nur zu erinnern, wie es sich angefühlt hat und schon kommt es wieder. (Ist das nichts? Da kann doch Technik nicht mal von träumen!). Wir merken jetzt auch viel früher, wann die Anspannungen auftreten. Wir bemerken, daß ein Zulassen von Entspannung auch auf die Stimmung, die Gefühlslage, ja die Gedanken einwirkt und umgekehrt.
Wenn wir uns angegriffen, geängstigt, zornig, geekelt, begeistert und vielerlei anderes fühlen, ist dies Anspannung. Wir stellen fest, daß es in den meisten Fällen ökonomischer und sehr viel angenehmer ist, einfach zu entspannen, anstatt den Gefühlen und Gedanken zu folgen: etwa jeden Fehdehandschuh aufzunehmen, jeder Angst mit hektischem Aktivismus zu begegnen, oder jedes Begehren sofort zu verwirklichen, um die Spannung abzubauen. Und weil wir dann sehr viel öfter entspannt sind, können wir auch besser in der Anspannung verweilen und dennoch einen klaren Kopf behalten, der noch beurteilt, um was es geht und die Übersicht behält (die Fähigkeit kann selbstverständlich im Dienste verschiedener Herren stehen - ich wage aber die Meinung, daß mehrheitlich mehr Friedlichkeit und Fröhlichkeit dabei heraus kommt).
Garnicht mehr aus dem Atem, aus dem Gleichgewicht kommen, egal aus welcher Richtung des Seins gerade etwas kommt: das ist es, soweit es die Spannung angeht.
Natürlich ist dies nicht Selbstzweck, Endziel. Es ist viel mehr Grundvoraussetzung, um wirklich handlungsfähig zu werden: in jedem Augenblick bewußt und nicht getrieben wie ein Blatt im Wind von wechselnden Impulsen und den durch sie ausgelösten Spannungen. Nicht stets nur reagierend im Korsett der eingefahrenen Automatismen, mit denen wir den Herausforderungen des Lebens zu begegnen gewohnt sind. Kommt jemand feindselig daher, schlagen wir zurück. Schmeichelt jemand unserer Eitelkeit, fangen wir an, ihn hochzuschätzen. Treffen wir einen attraktiven Mann oder eine reizvolle Frau, setzt gleich Balzverhalten ein. All dies ist ungefähr so spontan, wie ein 2-Euro-Stück den Schacht im Fahrkartenautomat hinunterrollt, wenn es mal den Einwurfschlitz hinter sich gebracht hat.
Nicht nur die Geheimnisse von Spannung und Entspannung lehren uns die Übungen. Es stellen sich seltsame Fragen: Wer beobachtet? Wer macht das, was da im Körper, ja im ganzen Komplex Gedanken, Gefühle, Körper geschieht? Was lenkt mich immer wieder ab? Warum klappt es nie, wenn ich etwas "selbst machen" will, anstatt es geschehen zu lassen?
Für viele ist diese Frage geradezu beleidigend. Zu sehr sind wir gewohnt, uns selbst als "die Macher" zu sehen und wenn wir eine "Fehlfunktion" orten, wollen wir gleich die Ursache erkennen, ein Mittel ersinnen und die Sache effektiv und ein für alle Mal bereinigen. Daß es die Evolution soweit gebracht hat, ganz ohne "lean Management", ohne Konzept, Abstimmungen und Maßnahmen, die planvoll ergriffen wurden - kaum zu glauben! Diese Einstellung ist eines der größten Hindernisse in der Selbsterforschung, denn man kann nicht etwas beobachten und gleichzeitig zu beeinflussen suchen. Übungen im Sinne des Yoga sind also immer auf mehreren Ebenen angesiedelt: ohne eine bestimmte geistige Haltung verlieren die Körperübungen ihren eigentlichen Sinn, werden zur bloßen Gymnastik, die dann auch nicht mehr hilft als andere Arten des Körpertrainiungs.
Im Üben über längere Zeit bemerkt man nicht nur die langsam sich wieder harmonisierende Eigendynamik des Körpers, auch die Einflüsse der Außenwelt: Sonniger Tag, Wärme, Kälte, Dunkelheit, Tiefdruck, Sommer, Winter, Gemütslage anwesender Mitmenschen. - all dies beeinflußt uns und noch viel mehr, dessen wir uns noch nicht gewahr sind. Man beginnt ganz von selbst, auch im Alltag diese Aspekte zu beachten - ich selbst kannte sie früher sozusagen nur aus Büchern ;-). Man bekommt die Fähigkeit geschenkt, nützlich zu sein, einfach weil man in der Lage ist, die Situation zu erkennen. Oft hat es jemand vielleicht nötiger, ein Glas Wasser zu bekommen, als eine Antwort auf seine wichtige Frage. Die Energie zur Aufmerksamkeit ist nur vorhanden, wenn wir es gelernt haben, uns der Intelligenz unseres ganzen Wesens zu überlassen - Ausgleich geschehen zu lassen! Anderenfalls sind wir eingespannt in unsere jeweilige Getriebenheit, das Korsett der in Jahrzehnten aufgebauten Spannungsmuster bildet einen eisernen Käfig, der unsere Lebendigkeit klein und blaß hält.
Bis hierher beschrieb dieser Text den Weg der Entspannung, der beim Körper beginnt. Es geht auch umgekehrt, vom Denken her - allerdings ist für uns in den westlichen Zivilisationen dieser Weg viel schwerer, es klappt oft nur, wenn uns das Leben selbst die entsprechenden Gedanken aufzwingt, die zur Entspannung führen.
Der Gedanke an den Tod ist die beste Hilfe. Zwar spricht man bei uns von einer statistischen Lebenserwartung von ca. 75 Jahren und jeder meint, diese 75 Jahre seien ihm sicher, aber das ist falsch. Täglich sterben Zigtausende "vorzeitig": an einem Unfall, am Herzinfarkt, an Krankheiten. Stellen wir uns ruhig vor, es könnte uns noch heute abend treffen: ein Gang zum Zeitungskiosk, ein unvorsichtiger Autofahrer - aus! Oder wir erwachen querschnittsgelähmt.... Oder ein Routinebesuch beim Arzt ergibt: Sie haben Krebs! Vielleicht noch 6 Monate....?
Versenken wir uns täglich in diese Vorstellung. Was wäre dann? Was würde geschehen? Wie würde es sein, irgendwo zu liegen und zu wissen: ich sterbe jetzt!? An was würden wir denken? Was fühlen? Was würden wir bedauern? Gibt es etwas Unerledigtes, das uns sehr schmerzen würde? Hätten wir gern noch mit jemandem Frieden geschlossen? Oder jemandem etwas gesagt, was wir immer verschwiegen haben? Hätte jemand durch unseren plötzlichen Tod ernsthafte Probleme?
Wenn wir uns in solche Vorstellungen vertiefen, merken wir, daß die Probleme, die im aktuellen Alltag so wichtig scheinen, im Angesicht des Todes kaum mehr Bedeutung haben. Der Tod sagt uns, was wichtig ist und was nicht. Die Folge ist Entspannung, und vielleicht werden wir sogar einige der "unerledigten Dinge" erledigen, um noch besser entspannen zu können.
Die Annäherung an das Thema Entspannung ist allermeist ein Leiden, ein Verlangen: wir wollen einen Mißstand beheben, uns vielleicht besser und länger konzentrieren können, effektiver arbeiten, uns leichter durchsetzen. Wir haben Ziele und suchen dafür Mittel und Methoden. Auf dem Weg zur "rechten Spannung" muß diese Haltung, dieser "Wille zur Macht" zunächst für die Zeit der Übungen aufgegeben werden. Nach mehr oder weniger anhaltenden Anfangsschwierigkeiten gelingt das auch den meisten. (Man kann ja mal für eine halbe Stunde so tun, als hätte man keine Absichten!)
Je mehr es aber gelingt und die Übungen in den Alltag ausstrahlen, desto problematischer wird diese Haltung insgesamt. Wenn das eiserne Gehäuse der eingefleischten Automatismen aufweicht, sehen wir uns vielleicht "Motivationsproblemen" gegenüber. Zwar sind wir nicht mehr so leicht manipulierbar und in Angst zu versetzen, aber auch der Ehrgeiz läßt nach. Das bewußte Wahrnehmen der eigenen psychophysischen Befindlichkeit und das Gewahrsein dessen, was gut tut und was nicht, untergräbt ganz langsam Werte, wie sie in unserer Gesellschaft fast ungebrochen herrschen. Was ist schon eine Zahl auf dem Kontoauszug? Wie lange kann mich ein neues Auto spürbar glücklich machen? Der Aufstieg, die Karriere ´bringt Anerkennung - aber auch Neid und ärger. Wie wird der Abstieg sich anfühlen? Und wenn all dies nicht mehr für sich allein motivieren kann: WAS DANN? Was füllt die Leere, die sich auf einmal zeigt?
Der bekannte ZEN-Spruch sagt es - es gibt ja soviel zu tun. Die Leere ist der Ort der Freiheit, der Ort, aus dem die Fülle kommt. Je mehr wir uns in der Leere aufhalten können, desto leichter wird es, einfach zu tun, was Not-wendig ist. Dazu braucht es keine Askese, keinen angestrengten Verzicht, und auch keine aufgesetzte "Nächstenliebe". Denn es beginnt ja mit der Not des je "eigenen" verspannten Körpers, geht weiter über die Heilung der "eigenen" verletzten Gefühle, es läßt die destruktiven Gedanken verschwinden und schließlich bleibt nichts mehr zu tun. Wir haben alles, was wir brauchen, sogar mehr. Und mit diesem "mehr" können wir "Holzhacken und Wasser holen", und zwar wesentlich mehr, als wir persönlich brauchen.