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Flusser im Examen
Menschheitsgeschichte konzipiert Flusser im Medium von Mediengeschichte. Immer wenn es Menschen gelingt, aus der jeweiligen Wirklichkeit zurückzutreten, um sie in einer repräsentativen Ordnung zu fokussieren und zu operationalisieren, entsteht ein mediales Universum mitsamt dazugehörigem Menschentypus und dazugehöriger neuer Wirklichkeit.
Aus der Raumzeit haben die Menschen die Zeit abstrahiert und Raum im Medium des Volumens, nämlich der paläolithischen Plastik, in den Griff genommen. Dann haben sie die Raumdimension abstrahiert und die Welt im Medium der Fläche, nämlich der jungsteinzeitlichen Höhlenbilder, in Bann geschlagen. Später haben sie die Bilder kritisiert, indem sie die Figuren zu Charakteren vereinfachten und der Reihe nach erzählten, und so entstand im Medium der Linie die mesopotamische Schrift. Diese enthielt immer schon Begriffszeichen (Ideogramme) und Zahlzeichen (Numerale). Als es gelang, die Zahlen aus der Zeile herauszuklauben, in algorithmischen Vorschriften zu codieren und in elektronischen Zuständen zu repräsentieren, entstand im Medium von Punkten das Universum der technischen Bilder. Im Medium von Punkten kann man, Flusser zufolge, nicht nur wie mit den vorangegangenen Medien auf die faktische Welt durchgreifen, um ihr hier und da den Willen aufzudrücken, jetzt kann man sie Punkt für Punkt über diesen Willen informieren, sie voll und ganz repräsentieren, programmieren, automatisieren und ihre Widerständigkeit abschaffen. Darin also besteht die Weltrevolution nach Flusser, nämlich die faktische Wirklichkeit im Leerlauf ihres ferngesteuerten Automatismus zu liquidieren, ein Universum hypothetischer Welten zu entwerfen und aus der faktischen in die hypothetischen Welten umzuziehen. Es ist dies die technisch-mediale Realisierung des alten Traums der Philosophen, die faktische durch die theoretische Welt zu ersetzen. Wo Subjekt war, sollte immer schon Projekt werden.
Die Dimension der Punkt-Nichtse, der Null, bildet für Flusser den Wendepunkt der Menschheitsgeschichte. Bisher war eine abstrahierende Einbildungskraft gefordert, die dem Menschen den Rücktritt aus der Wirklichkeit erlaubte. Nun ist eine konkretisierende Einbildungskraft vonnöten, die alternative Welten erzeugt. In den Schriften "Vampyrotheutis infernalis" und "Angenommen" hatte sich Flusser bereits auf die Suche nach dieser neuen Einbildungskraft gemacht. Er war sogar bereit, neue Menschenarten zu züchten, um der neuen Einbildungskraft zum Durchbruch zu verhelfen. Große Erwartungen verband er, dessen Schicksal exemplarisch von ihnen geprägt war, mit den Farben. Ihm schwebte eine denotative Farbensprache vor, deren Abermillionen Unterscheidungen differenziertere Mitteilungen als die Wortsprache erlauben würde und diese womöglich einmal ablösen könnte. Denn wenn die Wortsprache den abstrahierenden Ast der Menschheitsgeschichte begleitete, müßte nicht auch der konkretisierende Ast eine eigene Mitteilungsform ausbilden? So hat Flusser vielleicht wie Goethe die Farbenlehre als Achse seines Schaffens angesehen.
Flusser, der selbst den Widerspruch zelebrierte, war Einwänden durchaus zugänglich. Brachte man sie vor, wurde er seiner Pfeife immer ähnlicher. Er schmurgelte, kokelte und dampfte vor sich hin, bis der Wortschwall aus ihm herausplatzte. Versuchen wir also, durch überzogene Kritik einen Flusser-Golem zum Leben zu erwecken. Als einem Mann der Schrift wird man Flusser den Linearismus der Menschheitsgeschichte nachsehen. Allen Stufentheoretikern kann man vorwerfen, daß Stufentheorien in der Regel nicht dem Weltbild der höchsten Stufe entsprechen. Flusser hat auch immer eingeräumt, daß sich Elemente der einzelnen Stufen im realen Leben mischen. Man wüßte aber schon gern, was den von Flusser ins Auge gefaßten Medien ihren menschheitsbestimmenden Rang verleiht. Kann man die Menschheitsentwicklung tatsächlich aus der Mediengeschichte einer bestimmten Medienklasse, nämlich den Medien von Volumenplastik, Bildfläche, Textschrift und Pixelkomputat erklären? Zurecht widerspricht Flusser einer Klassifikation dieser Medien als reiner Aufzeichnungsmedien und betont deren wirklichkeitsbegriffsbestimmendes Feedback. Doch obwohl er beständig der Sprache die Menschheitskrone aufsetzt, läßt er das Verhältnis von Sprache und Medien eigentümlich ungeklärt. Daß erst aus einer allgemeinen Medientheorie, welche die Medien Geld, Recht, Macht, Liebe, Strafe mitverhandelt, Aussagen über die anthropologische Relevanz einzelner Medien gewonnen werden können, kommt garnicht in den Blick. Flusser erschließt seine medienanthropologischen Einsichten aus einer Phänomenologie der Gesten. Und über die Gesten glaubte er, die Menschheitstotalität einholen zu können. Aber gerade das gleichnamige Buch gehört neben "Die Schrift" zu Flussers schwächsten Arbeiten. Ein weiteres Fragezeichen setzen wir hinter die informationsästhetische Gleichsetzung von Codierung und Programmierung. Werden die Empfänger von Nachrichten tatsächlich durch deren Verschlüsselungsart programmiert? Oder handelt es sich hierbei um einen theoriedesignbedingten Kurzschluß, der aus der fehlenden Systemstelle des Rezipienten resultiert? Kanäle verzerren Botschaften, das weiß die Informationstheorie der fünfziger Jahre. Und der Rezipient kann nur das empfangen, wofür er selbst Antennen ausgebildet hat, erklärt die Rezeptionstheorie der sechziger Jahre. Es gibt also einen unschließbaren Bruch zwischen Codierung und Programmierung. Wenn der Rezipient den Code entschlüsselt, wird er nur insoweit programmiert, als das Programm seines Rezeptionsschemas es zuläßt. Und dieses Schema wird mit Sicherheit nicht nur von den Flusserschen Medien programmiert. Klärungsbedarf besteht auch beim Geschichtsbegriff. Schrift, Linearismus und Geschichte fallen bei Flusser in eins. Ist mit Geschichte ein Ablauf von Ereignissen, wie er immer vorkommt, eine Systematisierung von Ereignissen, wie sie mit der geschriebenen Überlieferung faßbar wird, die Semantisierung dieser Systematisierung als Geschichte des auserwählten Volks mit seinem Gott, die Professionalisierung der Geschichtsschreibung als Erzählung multikultureller Zusammenhänge bei Herodot, die mittelalterliche Geschichtsapokalyptik oder die Fortschrittssaga der Geschichtsphilosophie des 18. Jhs. gemeint? Der Fortschritt hat selber eine Geschichte, so müßte Flusser sagen, und die Genesis dieser Geschichte ersehen wir aus den mesopotamischen Listen. Schön und gut, vom Fortschritt werden wir in der "Nachgeschichte" nicht mehr geplagt, aber von allem anderen, was das menschliche Zusammenleben so unerträglich macht und das gemeinhin Geschichte genannt wird, werden wir nach wie vor belästigt. Wo also liegt der Epochensprung? Wir nehmen dem Menschen die Entscheidungen ab, sagt Flusser, zerlegen sie in Aktome, Operanden und Dezideme, füttern diese in den Computer und voilà! Nix voilà, um sie in den Computer füttern zu können, muß ich sie in Algorithmen verschlüsseln, und zwischen denen, die über den Optimierungsschlüssel für die Dezideme streiten, kommt es zum selben Geschichtsschlamassel wie zwischen denen, die über den Kryptoschlüssel für die Algorithmen streiten. Bunte Bildchen im Blick, ersteht die Geschichte in unserem Rücken neu. Distanz schafft, wie eh und je, die alte Einbildungskraft. Die Menschheitsgeschichte wird dann als Geschichte der Virtualisierung gefaßt. Der Mensch wäre immer schon Überschuß über seine Wirklichkeit hinaus. Und hätte seine Virtualität einer Vielzahl von Medien und Formen eingebildet. Nach dem dritten und vierten Geschlecht käme, schalom, das fünfte und sechste.
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Reinhold Grether: Die Weltrevolution nach Flusser
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