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Sapientismus

Darunter versteht Flusser die ideologische Stillstellung des Menschenprojekts. In "Menschwerdung", seiner Fragment gebliebenen Summe, unternahm er eine phänomenologische Rekonstruktion der Urszenen der Menschwerdung, um darin Entwürfe alternativer Menschenarten aufzudecken. Schon Peter Sloterdijk ("Es kommt Sloterdijk, den wollte ich immer schon kennenlernen.", "Zwiegespräche", S. 104) hatte im wichtigsten Klammerausdruck der achtziger Jahre "(aber vielleicht kommt noch ein sapiens hinzu)" ("Eurotaoismus", S. 225) sein Projekt einer Überwindung des homo sapiens sapiens umschrieben.

Nun gehört die "Suche nach dem neuen Menschen" geradezu zur anthropologischen Basisausstattung des alten, sodaß wir nur eine kleine Liste aktueller Versionen bemühen:

  1. Jesus solo (ohne Christus). Wenn die Katastrophe, wie Flusser zu betonen nicht müde wurde, bereits hinter uns liegt, war der neue Mensch vielleicht auch schon da (David Flusser ist dieser Meinung). Jedenfalls ist die von Jesus ins Zeichen der "Entfeindung" (Wolfgang Feneberg) gefaßte Globalisierung ethnisch gebundener Kultureme eines der brisantesten Projekte der Gegenwart.

  2. der Ostmensch. Wie von Marx vorausgesagt, wurde die staatliche Form nach Schaffung des neuen Menschen entbehrlich. Daß der westliche Retro diesen als abscheulich erlebt und behandelt, kennzeichnet den zurückgebliebenen Artgenossen.

  3. Techno. Der neue Mensch wird ertanzt und nach dem chill-out flüchtig.

  4. Extropy. In Umkehrung einer Herbert Wehner-Maxime muß, wer reinkommt, auch wieder rausgehen. Auf Inkarnation folgt "Exkarnation" (Aleida Assmann). Bringt Kryonik, das freezing von Leichenavataren, denselben noch einmal und Cloning, das Kopieren von Zellprogrammen, denselben hierhin wie dorthin (genauso arbeitet das auf Speicher und Datentransfer aufgebaute Internet), so eröffnet die vom fleshfactor emanzipierte und ins Netz verlegte "Informationsmaschine Mensch" einen gänzlich unvorstellbaren morphologischen Tropismus, dessen gentechnologische Variante kaum noch als Ökonostalgie durchgeht und den von Flusser in Aussicht gestellten virtuellen Orgasmus (Woody Allens "Sleeper" muß ihn mächtig beeindruckt haben) ohne peinliches Gestrampel auf Dauer stellt.

  5. Chymische Hochzeit. Alternder Schlagersänger heiratet Gibsonsche Softwarelösung "Idoru" und ihrer Liaison entspringt der Gutcyborg.

  6. die tibetische Variante. Was die Juden für die antike, sind die Tibeter für die moderne Ökumene. Es wird demnach zu einer Modifikation des tibetischen Buddhismus, wahrscheinlich aus der Karmapa-Schule, kommen, die dessen traditionelle Bildwelt in derart interessante synthetische Bilder übersetzt, daß sich die gesamte lebende Kulturmenschheit in sie versenkt und dadurch das dritte sapiens in sich aufschließt.

  7. Ostafrika. Alle bisherigen Menschenarten kommen aus Ostafrika. Weshalb nicht auch die künftigen?

Bleibt Keiko Sei. Warum hatte Vilém Flusser sich beim Abschied von Prag noch einmal umgedreht und als letzten der Nachwelt überlieferten Satz zu ihr gesagt: "Bleib, wie du bist." Wollte er sagen, Du bist der letzte alte Mensch und wir brauchen Dich als zoologisches Vergleichsobjekt? Wollte er sagen, Du bist der erste neue Mensch, und sie werden Dich jagen? Oder bezeichnet Keiko Sei die im Kampfruf "Sei Keiko" zu überspringende Schwelle?

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Reinhold Grether: Die Weltrevolution nach Flusser
präsentiert von Claudia Klinger
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