Die IMAX-Erfahrung
Die Eingangshalle ist erstaunlich nüchtern: Im Saubermall-Charakter der benachbarten Arkaden empfängt mich das funkelnagelneue IMAX-Kino am Marlene-Dietrich-Platz, Daimler-City, Berlin. Alles ist neu hier: Platz, Straßen, Gebäude, Einkaufsparadiese - nicht schwer, sich mitten drin alt und schmuddelig zu fühlen. Doch ich habe mich euphorisch gestimmt, bin gespannt, ja, so richtig 'bereit für eine neue Erfahrung'. In der Hoffnung, daß sich die Versprechungen einmal nicht als bloße Marketinglyrik erweisen möchten, erstehe ich für 11 Mark 50 mein Ticket.
Das Maximum im Reich der Lichtspieltheater, so heißt es. Haushohe Leinwand, Bilder so scharf und nah, daß Zuschauer Teil des Geschehens werden; eine Technik, so aufwendig und spektakulär, daß es lohnt, dafür gigantische Kinos und eigene Filme zu produzieren. Kurze Filme mit Namen wie "Wunderwelt der Meere", "Blue Planet", "Antarktica" - Natur scheint der Hit zu sein an dieser vordersten Front der Unterhaltungsindustrie.
Herumstehen in der Halle bis der Film beginnt, ist wenig ergiebig. Zwar leuchtet hier und da ein Lichtpunkt aus dem Boden - für eine richtige Sternenhimmelanmutung sind es aber zu wenige. Ein paar herumliegende Prospekte, der kino-übliche Cracker-Popcorn-Cola-Stand, doch nur ein einziger Stehtisch - und keine Aschenbecher. Ich vermisse die gewisse Night-Life-Atmosphäre, das warme Gebärmuttergefühl, die Dunkelheit, die sonst den Übergangsbereich in gut gestylte Traumfabriken kennzeichnen.
Andere Besucher streben der Tür zu. Geht man schon rein? Der letzte Film dürfte noch nicht zu Ende sein, es ist zehn Minuten vor 4, stündlicher Wechsel. Eine Rolltreppe transportiert uns an der Innenseite der Glasfassade empor in mittlere Höhe des Gebäudes: wieder ein Eingang, kein Kartenabreisser zeigt sich und etwas irritiert betrete ich den neuen Raum.
WAS, das soll ein IMAX sein? Ich bin geschockt von der niedrigen Decke, den wenigen Sitzreihen, der Anmutung von Enge, die auf Anhieb klaustrophobische Gefühle wachruft. Ein Blick in die Runde zeigt: dies ist nicht das eigentliche Kino (ein Glück!), sondern eine zweite Wartehalle, an deren Stirnseite eine Monitorwand Filme über die IMAX-Technik zeigt. Die "Sitzreihen" sind Stehhilfen zum Anlehnen, bei näherem Hinsehen ist der Bereich weitläufiger als vermutet. Ein etwas schickerer Food-Tresen schöpft noch vorhandene Kaufkraft ab und es ist deutlich dunkler als in der Eingangshalle. Mehr Leuchtpunkte auf dem Boden, mehr Stehtische, sogar mit Aschenbechern.
Aha, dies ist ein Kanal: aus der hellen Alltäglichkeit des Nachmittags wird der Besucher herausgeholt und Schritt für Schritt an die kommende Bilderwelt angepaßt. Er muß warten, seine Augen ans Dunklere gewöhnen, in einer kleinen Menschenmenge unter niedriger Decke stehen, sich nach Licht, Weite, Überblick zu sehnen beginnen - und dann gehen rechts und links Türen auf. Die Wartenden schieben sich durch die Reihen auf die Portale zu, vereinigen sich zum geordneten Menschenpulk, einer rechts, einer links. "Viel Spaß!" sagt der Kartenabreisser. Es klingt freundlich, obwohl ich es mir grauenhaft vorstelle, hunderten von Leuten hintereinander viel Spaß zu wünschen - viel Spaß, viel Spaß, viel Spaß, ja doch, ja.
Endlich drin. Aufatmen. Erneut erwarte ich Weite, doch ich sehe nichts als Kinosessel! Wo sich normalerweise Reihe hinter Reihe in die Tiefe des Zuschauerraumes erstreckt, existiert hier kein "hinten". Wie ein leicht schräges begehbares Regal ordnen sich die Sitzreihen übereinander, wir steigen steil aufwärts, steigen Reihe um Reihe, fassungslos noch über die Abwesenheit der Weite, den plötzlichen Verlust an dritter Dimension. Ein suchender Blick nach links, weg von den Sesseln, bricht sich an einer schockierend nahen Mauer. Überallhin erstreckt sie sich, nach oben, links, rechts. Als stände man am Fuß der Staumauer eines gigantischen Stausees, vor die jemand eine Sesselwand gebaut hat, von der aus das Meisterwerk in jeder Höhe und nächster Nähe bequem zu betrachten ist. Ein Kult der Maueranbeter? Neue Klagemauer mit Kino-Komfort?
Etwas mulmig ist mir zumute an meinem mittlerweile eingenommenen Platz, Ende unteres Drittel der Sitzwand. "Zur Not kannst Du die Augen schließen", sage ich zu meinem Begleiter und klappe die Lieder herunter, um mich von so viel Mauer kurz zu erholen. (Merke: Es hilft nicht, mit dem Rücken zur Wand zu sitzen, wenn die Wand davor ebenso groß ist.)
Langsam werde ich mir bewußt, daß meine Gefühle die Lage übertreiben. Es mögen durchaus fünf oder zehn Meter von mir bis zur Leinwand sein, die ungewohnten Proportionen des "Domes" beeinträchtigen mein Vermögen, Entfernungen zu schätzen. Die sich füllenden Sitzreihen, das Murmeln der Besucher und die Beleuchtung haben nichts bedrohliches. Ich entspanne und schaue nach vorn, wieder auf diese krasse Oberfläche ohne Ende, drehe den Kopf auf der Suche nach Rändern, finde keine Ränder, finde aber - schon wieder unruhig werdend - etwas anderes. Weit oben, in Ecken die keine sind, werden Lichtmuster an die Deckenwand projiziert. Zwei klare und genügend kleine Flächen grenzen sich so vom allzu großen Rest ab. Beruhigende Muster in sanfter Bewegung bieten der gestreßten Psyche Halt. Erleichtert parke ich den Fokus der Aufmerksamkeit vorläufig bei den Lichtmustern und empfinde Hochachtung vor den Entwerfern dieser Erfahrung. Sie haben verstanden...
Im Warmen sitzend, die leichte Trance genießend, fühle ich mich rundum wohl, als auf einmal die Lichter verblassen. Die Muster verschwinden mitsamt der Mauer im Nichts, der Raum wird dunkel. Wieder hellwach starre ich in die Schwärze und erwarte nichts weniger als das totale Kino, die Mutter aller Filmwelten.
CocaCola. Ach je, Werbung! Natürlich, wie konnte ich nur annehmen, hier käme man gleich zur Sache! Zwar ist die Fläche, auf der der Werbespot gezeigt wird, bemerkenswert groß, aber ansonsten ist der Anblick enttäuschend. Ein ganz gewöhnlicher Spot, eher aus den 60ern als von heute. Die bekannten schnellen Bewegungen und Schnitte nerven, weil das Auge dem Geschehen kaum folgen kann. Die übergroßen Darsteller wirken verzerrt, der Spot ist eher altbacken - das kann's doch nicht sein. Fürs IMAX werden doch wie man hört spezielle Filme gedreht, die auf die besondere Sehsituation zugeschnitten sind. Dieser hier gehört gewiß nicht dazu.. Er ist nur einfach größenmäßig aufgeblasen. Vor dem inneren Auge sehe ich den Video-Bearbeiter vor seinem Computer sitzen, wie er eine "Export-as-imax"-Funktion anklickt, mehr war wohl nicht drin. Doch keimt in mir auch der Verdacht - schließlich gehört CocaCola nicht zu den Bedürftigen in der Werbewirtschaft - daß die IMAX-Planer vor die Lust absichtlich möglichst viel Frust setzen wollten.
Noch einen weiteren Spot muß das Publikum ertragen, der sensibleren Mägen durchaus zusetzen mag, dann ist es endlich vorbei. Film aus, Licht aus, Sound aus - und....?
Der Anfang ist sanft: eine Männerstimme erzählt die Geschichte aller bisher verwendeten Leinwandgrößen und Filmformate. Ist ja recht, Info braucht der Mensch, aber ich will lieber was sehen. Als hell leuchtende Rechtecke werden die verschiedenen Filmformate jetzt neben- und übereinander in den Raum gestrahlt - ganz wie man verschieden große Briefmarken gut nebeneinander in ein Album kleben kann. Nicht schlecht, man sieht, hier ist Platz genug! Als das bisher größte Breitwandformat neben die anderen projiziert ist und noch immer wirkt wie ein Balkonfenster, kündigt der Redner die letzte Entwicklung an: IMAX.
Die Rechtecke lösen sich auf, verschwinden in gleißender Helligkeit, von Horizont zu Horizont ist auf einmal strahlendes Licht, Licht, das sogleich Bild wird. Wo die vermeintliche Mauer durch ihre platte undurchdringliche Oberfläche den Geist beschränkte, ist jetzt Raum, Weite, Tiefe. Kein Bildschirm und keine Leinwand, überhaupt keine Grenze - überall Bild, nur Bild, aber was für ein Bild!
Leichtes Schwindelgefühl erfaßt mich, wo ich auch hinsehe, ist eine Inselwelt, überall Wasser, wir fliegen - hoch und dann wieder tief, das Wasser ist bedenklich nah - schließlich tauchen wir unter die Oberfläche und eine Märchenwelt umfaßt uns von allen Seiten: Korallen, Seetangwälder, bunte Fischschwärme - und wir immer mitten drin. Warum nur sag ich auf einmal "wir"?
In den ersten zwanzig Minuten kommen mir dreimal die Tränen, so sehr werde ich vom bloßen Dasein und So-Schön-Sein all dessen, was ich sehe, angerührt. In der nächsten Stunde spielt die Kamera mit meinem Empfinden, gleichzeitig in Ruhe und Bewegung, in der Welt da draußen und im sicheren Sessel zu sein. Ich begleite Surfer auf ihrem Wellenritt, Haie auf ihrer Jagd, trete Löwen, Elephanten und Nielpferden unglaublich nah, ja laufe fast zwischen ihre Beine. Erlebe ein Rettungsboot beim Übungseinsatz auf schwerer See: 200 Tonnen Wasser brechen pro Welle auf uns herunter - ich stehe mitten drin mit der Besatzung auf dem Deck, werde so erschreckt, daß ich es in der Magengrube fühle - und dann diese Euphorie, wenn ich merke, wie SICHER ich doch gleichzeitig bin. Dran sein, mitten drin sein - und doch ganz unverwundbar, unangreifbar, faktisch unsterblich.
Nach einer faszinierenden halben Stunde meldet sich langsam der Verstand zurück. Mühsam gelingt es, die übliche Distanz zum Ereignis in Teilen zu restaurieren: was geschieht hier? Was sagen uns diese Bilder jenseits dessen, was sie zeigen? Sie erregen Begeisterung, ja Liebe zum Gesehenen. Was ist, genügt, Spielhandlung nicht erforderlich. Aber ist das, was ich sehe, ein Abbild der Wirklichkeit? Welcher Wirklichkeit?
Der Hubschrauber fliegt bodennah durch den Canon, die Vegetation ist ein Dickicht, kein Weg führt durch das Geröll, daß sich mit den urwaldhaften Gewächsen abwechselt. Würde ich mich dort befinden, wäre Weiterkommen ein Problem. Doch der Hubschrauber steigt auf, wir fliegen jetzt auf halber Höhe, ein Gefühl für den Raum des Canons entsteht, fast berühren wir die gefährlich nahen steilen Felswände - doch es geht höher, immer höher, schließlich tauchen wir auf, überfliegen den Rand, die Sonne scheint und vor uns liegt in gleißender Helligkeit das Hochland. Unendlichkeit. Eine Ebene, soweit das Auge reicht: alles ist SEHEN, keine Hindernisse, keine Grenzen, keine Gefahr: endlich ist alles überblickbar, was wir WISSEN.
Das ist die Lüge der Bilder. Niemals werden wir erlebend umfassen, was wir von der Welt wissen. Immer sind wir in eine Situation gekettet, müssen einen Standpunkt ertragen, haben Brillen auf und sind Bedingungen und Gefahren ausgesetzt.
IMAX macht Schluß damit. Läßt unsere Machtlosigkeit und Sterblichkeit, unsere Beschränktheit in jeder Hinsicht vergessen, für schlappe 11 Mark fünfzig, eine knappe Stunde lang.
Zum Ausgang kommen wir über ein Treppenhaus, das uns zwingt, fast fünf Minuten lang vorsichtig abwärts zu steigen. Langsam erinnern wir uns daran, daß unsere Körper ein Gewicht haben und nicht fliegen.
Claudia Klinger
http://www.claudia-klinger.de/