Das Gebüsch (unter 5)
Auf dem Weg in den Kindergarten gab es ein Gebüsch, auf das ich mich jedes Mal freute, wenn ich an Mutters oder Großvaters Hand dorthin geführt wurde. Es war groß genug, mich darin zu „verstecken“ – ein wilder Verhau aus Hollunder, Brombeeren und anderen Gewächsen, die ich noch nicht mit Namen kannte. Gerne lief ich ein wenig voraus, um die kurzen Momente im Gebüsch zu genießen bis meine Begleitung aufgeholt hatte und mich wieder an die Hand nahm. Das Gebüsch war die erste „Natur“, die ich als Stadtkind zu Gesicht bekam. Eines Tages war es weg – und ich unendlich traurig.
Das Gärtchen (6-11)
Umgezogen vom ordentlichen Schwabenländle nach Hessen gab es ab 1959/60 plötzlich einen großen Hinterhof mit Wiese und Weidenbaum mitten drauf. Auf schmalen Beeten am Innenrand des 50ger-Jahre-Häuserblocks wuchsen Stauden und kleine Büsche. Auch der Sandkasten war von Gebüsch umgeben, in dem man sich den Blicken der Mütter entziehen konnte, die gelegentlich aus den Fenstern schauten. Aus Steinen und einem Brett bastelte ich mir ein Bänkchen in diesem „großen Versteck“. Dort saß ich dann, lauschte den Vögeln und war für Momente glücklich in diesem kleinen, gefühlt „eigenem“ Refugium. In einer verborgenen Ecke hinter den Büschen bearbeitete ich den Boden und begann zu gärtnern. Ich verpflanzte Gänseblümchen von der Wiese in mein Gärtchen und steckte Erbsen in den Boden, die sich zügig entwickelten. Drei Erbsenschoten, die erste eigene Ernte – welch ein Wunder, welch ein Glück! Irgendwann zerstörte jemand aus der Kinderbande das Gärtchen. Trauer und Hass verbrannten mich fast.
Der „richtige Ort“ (7 – 14)
Sonntags dann Familienausflüge. Stundenlange Fahrten durch den Taunus oder das Rheintal auf der Suche nach dem „richtigen Ort“: Eine leicht zugängliche Wiese, am besten mit Bach, dazu ein Weg am Wald entlang, ein guter Parkplatz – und bitte keine anderen Ausflügler! Oft dauerte es gut zwei Stunden, bevor wir endlich eine Stelle fanden, die alle Kriterien erfüllte. Bis dahin war mir meist schon richtig übel, denn beide Eltern rauchten im Auto, eine ganz besondere Qual. Am Ort der familiären Sehnsüchte endlich angekommen, wurde groß ausgepackt: Decken, Picknick, ein aufblasbares rundes Planschbecken für meine kleinen Schwestern – gerne hätte ich mich in die Büsche geschlagen und den Wald erkundet, aber das war nicht erlaubt. Irgendwann spazierte man gemeinsam gemessenen Schrittes eine halbe Stunde den Waldweg entlang und zurück. Mit 14 hielt ich mit meiner Meinung über diese Zwangsveranstaltungen nicht mehr hinterm Berg und sagte Sachen wie „Ihhhh! Es stinkt nach Wald….“. Obwohl es wirklich nicht der Wald war, der mich so nervte.
Bella Italia (9 – 17)
Sommers ging es dann für mehrere Wochen nach Italien: mit dem VW-Bus und zwei Zelten, später mit Wohnwagen auf einem Campingplatz unter Pinien am tyrrhenischen Meer. Wow, was für ein Leben! Mit der Taschenlampe beobachtete ich nachts die Zikaden beim Ausschlüpfen, sah die erste Schlange meines Lebens, fing Eidechsen und schnorchelte im Meer. Ich grub nach Muscheln, sammelte glatt geschliffene Holzstücke im schwarzen Sand und wanderte eine Flussmündung hinauf – gerne allein inmitten dieser noch nicht vom Tourismus umgeformten, weitgehend unberührten Natur. Mit den Jahren ließ meine Freude daran jedoch nach, das andere Geschlecht war ja so viel spannender! Mein „richtiger Ort“ wurde die Strandbar, natürlich eine andere als die, in der mein Vater seine Tage verbrachte.
Kiezleben und Friedhöfe (26 – 35)
Mit 26 der große Umbruch: Ich zog nach Berlin, entdeckte dort „das Kiez“ und fühlte kaum je das Bedürfnis, mein Kreuzberger Viertel zu verlassen. Eine nie zuvor gekannte übersichtliche Dörflichkeit begeisterte mich. Endlich fühlte ich mich wirklich zuhause, kannte bald jede Ecke, jedes Haus, jeden Laden, jede Kneipe. Ich besetzte Häuser, verbrachte die Tage im Mieterladen, machte Sanierungspolitik und sah als Tag- und Nacht-Aktive „Natur“ nurmehr auf den drei Friedhöfen an der Bergmannstraße, durch die ich mit einem Liebsten wandelte, der ein Spaziergänger war. Umso wichtiger wurde jegliches GRÜN im politischen Raum: wir rissen den Gehsteig auf und pflanzten Bäume, erkämpften ein „Hofbegrünungsprogramm“ und stritten um jedes „Spontangrün“, das irgendwo einer Baumaßnahme zum Opfer fallen sollte. Die alternative Szene propagierte die Vollwertküche, Müsli wurde DAS WG-Frühstück und „Plastikklamotten“ waren ein NoGo. Währenddessen vertrockneten unsere Zimmerpflanzen, doch NATUR galt uns als das Summum Bonum, Hort des Guten, Wahren und Schönen, Ziel einer Sehnsucht, die weit mehr Attitüde denn reales Verlangen war. Nach „draußen“ schafften wir es nämlich fast nie…
Brüchige Idylle (33 – 40)
Heute würde man den Zustand, in den ich mich am Ende dieser überaktiven Jahre befand, als veritablen BurnOut bezeichnen. Zum Glück hatte mein „Spaziergänger“ sich mit seinem frühen Erbe ein altes Gehöft in der Toskana gekauft. Ich kam gerade rechtzeitig, um den Verkauf zu verhindern, den er aus persönlicher Enttäuschung in Sachen „naturnah leben“ bereits plante. Mir erschien dieses Refugium in der Ferne, inmitten sanfter Hügel und mediterraner Natur als wahres Paradies! Warum nicht ganz dorthin ziehen, alles hinter mir lassen, es mal mit ein bisschen Selbstversorgung versuchen? Endlich konnte ich gärtnern, wilde Katzen leisteten uns Gesellschaft, ein sardischer Schafhirte machte im Erdgeschoss Käse, die Luft duftete nach würzigen Kräutern – ich war hin und weg!
Ca. drei Jahre lang verbrachte ich in kurzen Abständen jeweils mehrere Monate dort, auch im milden Winter. Es dauerte nicht lange, bis die Idylle bröckelte. Niemand dort „versorgte sich selbst“, allenfalls mit Gemüse. Die ansässigen Auslandsdeutschen hielten nicht nur Hühner, Schafe und Ziegen, sondern vor allem Touristen. Ihnen zuliebe wurden die Bäder und Duschen ausgebaut, der Nachbar bohrte einen neuen Brunnen, wodurch unsere romantische, von einem Mini-Wäldchen umwachsene Quelle austrocknete. Nachts wachte ich auf und sah einen Skorpion an der Wand, zehn Zentimeter neben meinem Kopf. Abends kamen verirrte Hornissen aus dem offenen Kamin, die im Schornstein ein Nest gebaut hatten und erlegten sich früher oder später an der offenen Gaslampe, die von der Decke hing. Für mich ein Horror-Erlebnis, das ich oft genug von draußen mit ansah, während mein Liebster versuchte, mit einem Besen das riesige Insekt zu vertreiben.
Der Schafhirte hatte auch so seine Probleme, blieb manchmal Tage lang weg und ließ seine vielen Käse komplett verschimmeln. Auch die Schafe wurden zu meinem Erstaunen immer wieder krank, obwohl sie doch „in der freien Natur“ lebten, für mich ahnungslose Städterin der Ort der Gesundheit schlechthin. Die Ziegen des Nachbarn wilderten in unserem Garten, der dachte jedoch nicht im Traum daran, Zäune aufzustellen, wozu er als Tierhalter verpflichtet gewesen wäre. Die Freundlichkeit all der ansässigen Immigranten entpuppte sich als oberflächliche Fassade für die Besucher. Hinten herum waren sich viele spinnefeind, obgleich man sich bei Festen traf und nett übers Wände kalken und ähnlich spannende Themen plauderte. Echte Probleme, die sie alle hatten, waren tabu. Und so traf es mich wie ein Schock: ein deutsches Paar mit großem Anwesen hatte uns am Nachmittag noch alle Schönheiten ihres Landlebens vorgeführt, als wir tags drauf erfuhren, dass sich die Frau des Hauses in der Nacht mit einem Bolzenschussgerät umgebracht hatte.
Nicht nur die Menschen, auch die Natur abseits menschlicher Bezüge ent-täuschte mich. Im realen Kontakt beobachtete ich Phänomene, die meine naive Bewunderung drastisch konterkarierten. Zum Beispiel wurde mir erst jetzt klar, was „instinktgesteuert“ bedeutet. Nur etwa einen Meter verschob ich mal einen Zaunpfahl nach rechts, an dessen oberen Ende ein Wespennest hing. Prompt schwirrten die Wespen „am alten Ort“ in der Luft durcheinander. Es war ihnen unmöglich, das nur wenig entfernte Nest wieder zu finden. Für mich wurde das zur Metapher für automatenhaftes Verhalten, fürs Kreisen in eingefleischten Gewohnheiten, die längst überlebt und ohne jeden Sinn sind.
Richtig „gebrochen“ wurde meine naive Liebe zur Natur jedoch erst, als ich einer Schlupfwespe zuschaute. Diese „parasitoiden“ Hautflügler fangen kleine Grashüpfer, injizieren betäubendes Gift und legen ihre Eier in den Opfern ab. Irgendwann schlüpfen die Larven und fressen die Heuschrecken bei lebendigem Leib von innen auf. Ích hätte kotzen können vor Abscheu!
Heftige Wut auf diese „natürliche“ Grausamkeit des Fressens & Gefressen-Werdens erfasste mich. Ich zeigte der Göttin Natur den Stinkefinger, genau wie einst dem alten Christengott meiner Kindheit, der mir niemals, auch nicht im größten Elend, auf meine Hilfe-Ersuchen geantwortet hatte.
Heimelige Festplatten und unendliche Weiten (40 – 44)
Am Ende war ich einverstanden mit dem Hausverkauf, kehrte nach Berlin zurück und entdeckte den Computer. Ich lernte Programmieren und erschloss mir eine neue, durchweg künstliche Welt aus gehorsamen Algorithmen und Programmen, die nicht mit bösen Überraschungen aufwarten. Im kühlen Licht des Monitors vermisste ich die Sonne lange nicht mehr – und mit dem Internet der frühen Jahre taten sich mir Türen in eine neue Welt auf, die soviel friedlicher und freundlicher schien als alles, was ich als „naturnahes Leben“ hinter mir gelassen hatte. Als ich 1996 meine erste Webseite baute, war ich grade 42 (!) – und wieder einmal fühlte ich mich „angekommen“.
– wird (gelegentlich) fortgesetzt –
Done! Hier gehts zu Teil 2.
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37 Kommentare zu „Die Natur und ich – kleine autobiografische Geschichten“.