Lange hab‘ ich „Web 2.0“ mehr oder weniger ignoriert: der Hype um die „sozialen Netzwerke“ und Communities, die News-Portale, die „bewerte dies-bewerte-das“-Seiten, die Sammlungen öffentlicher Bookmarks und die unzähligen Möglichkeiten, irgendwo persönliche Daten zu hinterlassen, um „Freunde“ zu finden. All die Gelegenheiten, sich mit allem und jedem virtuell zu verbinden, ließen mich weitgehend kalt. Kein Wunder, es ist ja auch die dritte Welle grundstürzender Internet-Begeisterung, die ich mitbekomme, und so fallen mir zu den meisten hochgelobten Neuerungen erst mal Sätze ein wie „so neu ist das gar nicht!“, „das hatten wir doch 1997 auch schon“ und ähnliche eher abturnende Urgestein-Gedanken.
Ich erinnere mich noch gut an ein Mailgespräch mit Gerd-Lothar-Reschke so ungefähr 1997, als ich gerade selbst heftig ergriffen war und meinte, die Welt würde sich durch das funkelnagelneue Web grundstürzend verändern. Schwer begeistert vertrat ich den Standpunkt, dass mein engagiertes „verwebben“ von allerlei Nichtigkeiten auch jenseits der jeweils verhandelten Inhalte einen guten Sinn habe: nämlich das Erschaffen und Erhalten von Verbindungen, die ja irgendwann einmal wichtig werden könnten. Vernetzung als Selbstzweck, immer in der stillen Annahme, dass – vielleicht gleich morgen – große neue Gedanken blitzgeschwind durch das Netz schwappen könnten, die dann alle Welt bewegen und letztlich auch das sogenannte „Real Life“ verändern würden.
Tatsache war, dass mir schon damals mein „Reales Leben“ recht gut gefiel und ich gar keine großartigen Veränderungen wünschte. Hauptsache, der Netzzugang war gesichert, der nicht nur Spaß und vielfältigen Austausch mit anderen Menschen ermöglichte, sondern mir auch ganz beiläufig ein neues Berufsfeld erschloss, auf dem ich mich kreativ austoben konnte.
Die zweite und dritte Welle
Mit der Weltveränderung ging es dann auch nicht so schnell wie gedacht, im Gegenteil: Ab 1998 eroberten „die Kommerziellen“ das Web. Das Primat des Ökonomischen drang ein in eine Welt, die sich bis dahin als „neues Land der Freiheit“ verstanden hatte, in dem Eigentum und Rendite keine Bedeutung haben sollten – von wegen! Während die erste Netizen-Generation nur langsam begriff, dass es eine totale Trennung zwischen dem Reich des Geld-Verdienens, Kaufens und Verkaufens einerseits, und dem des Geistes, der Kunst und des zweckfreien Austauschs andrerseits nicht geben kann, schwoll die Start-Up-Blase immer weiter an und platzte schließlich im Jahr 2001, womit der „zweite Netzhype“ sein Ende fand.
Mit dem Aufkommen der Blogs setzte dann die dritte Welle ein: wieder einmal wurde die Möglichkeit, dass nun „jeder sich öffentlich äußern kann“ in den Himmel gelobt und als „total neue Qualität“ gefeiert, bzw. von den etablierten Medien und Mächten gefürchtet. Ich war verblüfft: Genau DAS war doch bereits mit dem Aufkommen des Webs verwirklicht, war lang und breit diskutiert, in sämtliche denkbaren utopischen bis abgründigen Visionen gegossen, durchgekaut bis zum Abwinken! Bedeutungsschwangere Symposien, herum reisende Netz-Promis und Propheten, auf den Zug aufspringende Geisteswissenschaftler, die endlich ihr Thema finden, Aktive, die sich als Elite fühlen und die Masse der Konsumenten und noch Ahnungslosen, die allenfalls „Katzencontent“ beitragen – been there, done that, irgendwie kam mir das alles soooooo bekannt vor und gar nicht mehr spannend.
Teilnehmende Beobachtungen
Immerhin hab‘ ich trotzdem weiter hingeschaut, was Web 2.0 so alles bietet, denn ich sehe durchaus die Gefahr, im Gefühl „kenn‘ ich doch alles schon“ zu vergreisen und dann nicht mehr zu bemerken, wenn es WIRKLICH etwas Neues gibt. Hab‘ also mein bis 2005 statisches Web-Diary in ein „Blog“ verwandelt, weitere Themen-Blogs gestartet, Social Bookmarking eingebunden und auch die eine oder andere Community besichtigt und ausprobiert. Mit Interesse beobachte ich, wie diejenigen, die alles nutzen und überall dabei sein wollen, mit Hilfe von „Aggregationstools“, die gerade wie Pilze aus dem virtuellen Boden schießen, im Ozean des Information-Overflows versuchen, den Kopf über Wasser zu halten. Und immer schneller zucken die Botschaften durchs Netz: im Moment ist „Twitter“ mit seinen 140 Zeichen pro Stimmfühlungslaut das „große Ding“, mittels dem sich der Schwarm versammelt bzw. bewegt. Vor einem Jahr hab‘ ich mir das schon einmal angesehen, keinen Sinn darin gefunden und darüber gespottet. Jetzt twittere ich wieder mal mit und siehe da: es ist doch nicht nur blödes „Gezwitscher“, auch wenn es beim drüber lesen so aussieht.
Alles in allem verdichtet sich bei mir derzeit der Eindruck: Was wir „damals 1996“ als Vernetzung von allem mit allem geträumt haben, wird jetzt tatsächlich gesellschaftliche Wirklichkeit. Es hat länger gedauert als gedacht, denn zunächst hat sich HTML, die Sprache des Webs, derart verkompliziert, dass ein Bremseffekt eintrat: es konnte eben nicht mehr jeder „mal eben eine Seite bauen“ – nur wir, die wir das von Beginn an getan hatten, konnten fast anstrengungslos ins immer Kompliziertere hineinwachsen. Und haben dabei kaum bemerkt, dass uns „die Massen“ gar nicht mehr folgen konnten, selbst wenn sie schon gewollt hätten!
Mit dem „Web 2.0“ hat sich das geändert: ganz real, nicht nur als Möglichkeit. Und die Bedeutung, die das auf den unterschiedlichsten Ebenen hat, lässt sich nicht mehr am einzelnen „Inhalt“ ablesen, der durch die Kanäle strömt, sondern erschließt sich dem Teilnehmenden in der Wirkung aufs je eigene Leben – und auf das, was „Gesellschaft“ in Zukunft sein wird.
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11 Kommentare zu „Web 2.0: Beschleunigt, zerstreut, mit allem verbunden“.