Über Menschenfresser, Märchen und Menschlichkeit
Anlässlich einer TV-Doku über Mary Kingsley, die als 32-Jährige im Jahr 1892 das viktorianische England verließ, um das westliche Afrika zu bereisen, suchte ich anschließend nach den Fang, dem „Menschenfresservolk“, mit dem Mary als erste Weiße in Kontakt getreten war, um ihre Fetische und Rituale zu erforschen. Anders als die männlichen Abenteurer und Forscher reiste sie nicht mit einer wohl bewaffneten Truppe, sondern engagierte lediglich ein paar Einheimische als Führer und handelte mit den Menschen, denen sie begegnete.
So auch mit den Fang, vor denen sich alle fürchteten, Weiße wie Schwarze. Mit feinen englischen Blusen bezahlte sie die alte Schuld eines ihrer Begleiter, den die Fang zum Frühstück verspeisen wollten, da er nichts hatte, was er geben konnte. Meist blieb sie gefasst, was auch immer an Ungewöhnlichem geschah, nur einmal wurde es ihr Angst und Bange angesichts des Inhalts einer ihr zum Geschenk gemachten Tasche, in der sich verschiedene Körperteile in diversen Verwesungsstadien befanden. (Das Geschenk soll sich heute im Besitz der Royal Geographical Society befinden).
Mary war in manchen Gegenden die erste Weiße, die die Eingeborenen zu Gesicht bekamen. Sie lebte in ihren Dörfern, teilte ihr Essen, lernte ihre Sprache, sammelte unbekannte Fische, Pflanzen und Insekten für die Wissenschaft und machte Fotos. Bei alledem trug sie als Tochter ihres kürzlich verstorbenen Vaters durchweg feine englische Trauerkleidung, immer ein Korsett und einen langen, schwarzen Wollrock. Auf den Ruhm, einen bis dahin noch nie bereisten See „entdeckt“ zu haben, verzichtete sie, da sie der Meinung war, man könne nichts „entdecken“, was für die Anwohner doch immer schon da war.
Ich bin fasziniert von dieser Frau und ihrem Mut zu einer Zeit, als Frauen nicht einmal ein Recht auf Schulbildung hatten und als Unverheiratete mit 32 auch definitiv keinen Platz in der Gesellschaft. Gerne würde ich ihre beiden Bücher lesen, doch traue ich mir das „alte Englisch“ nicht zu und eine deutsche Übersetzung („Die grünen Mauern meiner Flüsse – Aufzeichnungen aus Westafrika“) ist vergriffen und kostet antiquarisch sündhafte 58 Euro!
Entdeckung: so fern, so vertraut
Was mich dann bei meiner Suche nach den „Fang“ so berührt hat, dass ich es hier berichte, ist jedoch nicht Marys erstaunliches Leben, sondern eine Entdeckung: Nach einem Blick auf die kunstvollen Masken und magischen Reliquienbehältnisse führte mich ein weiterer Klick auf eine Seite mit Märchen der Fang. Da mich jetzt interessierte, was das für Menschen waren, auf die Mary Kingsley gestoßen war, las ich einfach mal rein in
- Akulenzame, der Mann mit dem Sack, die Geschichte eines häßlichen Kleinwüchsigen, der heiraten will, aber von den in Frage kommenden Frauen wegen seiner unschönen Gestalt abgelehnt wird.
- Angonzing und Ndongmba, die Geschichte vom Krieg zwischen den Riesenmenschen und den Zwergmenschen (ich musste gleich an die heutigen Tutsi und Hutu denken…)
- Die drei Söhne Adas, die Geschichte der Drillinge, die dem Brauch entsprechend eigentlich sofort getötet werden sollten.
- Und zu guter Letzt dann noch „Fang keinen Streit an“, eine Story, die in aller Kürze drastisch klar macht, was es mit Nachbarschaftsstreitigkeiten auf sich hat.
Obwohl ich seit der Kindheit keine Märchen mehr lese und die Freude, die man als Erwachsener an solcher Lektüre hegen kann, bisher nicht teile, war ich auf einmal hin und weg: Anders als mit 6, 10 oder 12 Jahren kommen mir diese Geschichten gar nicht mehr „märchenhaft“ vor – ich staune! Natürlich gibt es die ins Wunderbare übersteigerte Kampfkraft der Helden, es gibt Geister und wandernde oder gar gefangene Seele, aber die wesentlichen Inhalte der Geschichten, die Gefühle und Motive der Beteiligten, sind so allgemein menschlich, so verständlich, so nah, wie ich es nie im Leben von einem „Menschenfresservolk“ angenommen hätte. (Ganz intuitiv nicht und nur bezogen auf die damaligen „Wilden“, nicht auf die heutige Ethnie).
Dass auch jede Menge Köpfe abgeschlagen und Bäuche aufgeschlitzt werden, unterscheidet sie kaum von uns Heutigen – wir haben ja nur Glück, selber meist nicht so nah dran zu sein am Hauen, Stechen und Foltern unserer Tage. Passagen wie „Dann nahm man sich den feindlichen Häuptling vor. Die Frauen zerrten ihn am Kopf, streuten ihm gestoßenen Pfeffer in Nase und Augen. Er wurde in die Mitte des Dorfes geführt, um dem Fest beizuwohnen. Als es beendet war, schnitt man ihm die Kehle durch“ wirken im übrigen geradezu harmlos und human gegenüber den Folterungen unserer Zeit, mit denen ich jetzt aber niemandem per Link die Stimmung vermiesen will.
Menschlich, allzu menschlich – human?
Denn die „Märchen“ vermitteln mir eher ein Gefühl der Beglückung: es gibt also doch Medien, die der Völkerverständigung (mein Gott, welch langweilige Phrase!) dienen können. In diesen Geschichten von Konflikten und ihrer Bewältigung erkennt man die tiefste Gleichheit der Menschen trotz aller äußeren Verschiedenheit. Man erkennt es in den höchsten und niedrigsten Strebungen und Regungen, bezüglich derer man in der Moderne beschlossen hat, nur erstere als „human“ zu bezeichnen – und das weniger Schöne als „allzu Menschliches“ schamhaft abzutun, wenn es gar nicht mehr zu bemänteln ist.
„Menschlich“ ohne „allzu“ davor meint also bereits den Übermenschen, meint den, der wir sein wollen, sein sollten, aber leider immer noch nicht sind. (Siehe: Humanismus)
In der Postmoderne geben wir dann sogar den Glauben auf, es werden zu können, lehnen den Anspruch ab, es werden zu sollen, und verlegen uns auf das „technische Verunmöglichen von Fehlverhalten“, um ein wenig sozialen Frieden von außen zu erzwingen. Ein Armutszeugnis, geboren aus der Abspaltung der „dunklen“ Seiten, die nicht etwa aufgehoben ist: es sind immer die Anderen, die überwacht werden müssen…
Die ANDEREN: für sie gibt es viele Namen und gerne wird ihnen nach und nach die Menschlichkeit abgesprochen, je mehr sie als Gegner erscheinen, bzw. zu Gegnern und Feinden erklärt werden. Denn dann ist es leichter, „mit allen Mitteln“ gegen sie vorzugehen, wogegen „Menschen wie du und ich“ doch eine gewisse Tötungshemmung auslösen. (Übrigens auch bei allen bis heute bekannt gewordenen „Menschenfresservölkern“: nirgends wurde je außerhalb krasser Notlagen Kannibalismus zum Zweck der Ernährung festgestellt.)
Märchen, so hab‘ ich heute gelernt, sind wie vorbeugende Medikamente gegen den Virus der feindseligen Entmenschung Anderer. Ich werde mehr davon lesen.
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Nachtrag/Update: Jetzt stimmt auch der Link zur Geschichte „Fang keinen Streit an!“. Offenbar liest kein Mensch in die Märchen rein, denn niemand hat’s bemerkt, zumindest nicht mitgeteilt.
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Ein Kommentar zu „Fang keinen Streit an!“.