Eine kleine Meditation über die Geräusche des Alltags
Wenn ich des Morgens als eine der ersten Handlungen des Tages meinen PC einschalte, reagiert er auf den entschlossenen Knopfdruck mit einem lang anhaltenden Stöhnen. Es klingt, als würde sich jemand mit größter Anstrengung aus dem Staub tausendjähriger Gräber erheben. Der Ton steigert sich, etwas ringt krampfhaft um Luft, um dann, nach ein paar Sekunden, die mir schier endlos vorkommen, in das gewohnte sanfte Säuseln überzugehen, das den Hintergrund meines werktäglichen Soundteppichs bildet.
Es ist der Lüfter, ich weiß, ich müsste dringend den Vor-Ort-Service benachrichtigen: Techniker kommt, klappt das Gerät mit brachialen Handgriffen auf, alter Lüfter raus, neuer rein, fertig – und nichts stöhnt mehr. Zweimal war das bereits nötig, Lüfter scheinen nicht gerade der Hit in der Produktpalette von Dell zu sein.
Manchmal staune ich, was für innere Resonanzen so ein „stöhnendes Gerät“ auslöst: Mitleid, Schuldgefühle (Himmel, heut‘ ruf ich aber an!), Angst um die Daten (muss mal wieder sichern, dringend!), aber auch eine seltsame innere Genugtuung: ICH habe keinen Grund, so leidvoll zu stöhnen, wie schön! Stehe morgens GERNE auf, beginne den Tag mit Freude und einer großen Kanne Milchkaffee – was will ich mehr?
Das Röcheln der italienischen Espressokanne ist das nächste „typische Geräusch“ des Tages. Es erinnert mich an den Graupapagei eines alten Freundes, der des Morgens genau diesen Ton in täuschender Echtheit zu Gehör brachte, um seinen Besitzer aus dem Schlaf zu locken. Mir bedeutet es fröhliches Loslegen, der Kaffe steht schon bald neben dem Mauspad, der PC hat seine Probleme für diesen Tag hinter sich gebracht – und jetzt wähle ich mich ein: Internet, ich komme! Wie das kreischt, zirpt, quengelt, in den unterschiedlichsten Tonlagen zwitschert! Manchmal denke ich daran, diesen Ton aufzunehmen und zum Download anzubieten: für all diejenigen, die nie im Leben Kontakt mit einem Analog-Modem hatten, zu dem ich hier (mitten in Berlin!) dank der Telekom immer noch verdammt bin. Würde sich bestimmt auch gut als Klingelton machen.
Die Augen kann man schließen, doch gegen Töne kann man sich nicht wehren, wir sind ihnen ausgeliefert. Selbst Oropax und ähnliche Gehörverstopfer schotten nicht hunderprozentig ab. Muss auch nicht sein, denn lange schon wähle ich meine Umgebungen „geräuschbewusst“. Mal eine Stunde Bohrmaschineneinsatz beim Nachbarn stört mich nicht, eine halbe Nacht African Drums pro Jahr nehme ich ohne Protest hin, doch in lauten Kneipen halte ich mich nicht mehr auf, denn ich will ja hören, was der Mitmensch sagt. Meine Wohnung liegt in einem recht ruhigen Viertel mit wenig Verkehr, der nur sehr verhalten zum dritten Stock herauf tönt. Ich arbeite weitgehend in der Stille und verabscheue es, im Hintergrund Radio oder TV laufen zu lassen. Musik schalte ich nur ein, wenn Besuch kommt. Die Pausen im Gespräch wirken dann weniger irritierend, Schweigen wird einfacher, auch mit Menschen, die ich nicht körperlich berühre.
Seelenmassage und Gefühlsdesign
Handwerker beschallen sich in der Regel über den gesamten Arbeitstag. Neben dem Werkzeug ist das Kofferradio ihr wichtigstes Mitbringsel. Was würde ihnen wohl zustoßen, wenn sie der Stille ausgesetzt wären? Darüber habe ich öfter schon nachgedacht, wenn mal wieder einer (Stört Sie die Musik? Nein, nein, machen Sie nur!) auf ein paar Stunden Radio Energy oder sonst einen zeitgemäß lauten und aufgeregten Sender nicht verzichten konnte. Hits der 70er, 80er, 90er und das Beste von heute – rauf und runtergespielt von einem Computer, dazwischen erregte Ansagen über Banalitäten. Haben die alle gekokst? Nicht mein Problem, schließlich hab ich nur selten die Handwerker in der Wohnung, und wenn doch, ist es ein interessanter Einblick in einen fremden Gemütszustand. Was erreichen sie eigentlich mit dem ununterbrochenen Gedudel? Wollen sie keine eigenen Gedanken aufkommen lassen und in eine Art Trance geraten? Etwa so, wie man in alten Zeiten bei körperlicher Arbeit ins Singen kam??? Gesungen wird heute nur noch von wenigen Unermüdlichen in allerlei Freizeit-Chören, ansonsten lassen wir singen, es wäre peinlich, an dieser Stelle zum Do-it-Yourself zurück zu finden – warum eigentlich?
Musik trifft uns unmittelbar und erregt Gefühlsresonanzen. Die Melancholie Leonard Cohens, die euphorische Siegestrunkenheit von Queen, das Pathos der Carmina Burana, die vergeistigte Feierlichkeit der Klavierstücke von Bach, die fröhlich-aufmüpfig-anklagenden Sprechgesänge im Rap – Musik ist Seelenmassage, im besten Fall frei gewählte Stimulation des Gefühlskörpers, der in Zeiten des rechnenden Denkens kaum mehr gespürt wird. Ja, eigentlich tun wir von klein auf alles, um jede natürliche Gefühlsreaktion zu unterdrücken: wir wollen und sollen „cool sein“, die Fassung bewahren, stets besonnen und rational unseren Zielen und Zwecken nachstreben. Durchgeplante Tage in stählernen Gedankengehäusen, die weder Wärme noch Kälte, weder Liebe noch Verzweiflung aufkommen lassen – allenfalls gähnt inmitten der vorgestanzten Pflichten und Termine die ganz große Langeweile. Legt man dann mal „Another one bites the dust“ auf, am besten so richtig laut, fühlt man sich gleich wieder besser, ja, ausgesprochen gut drauf und zu weiteren Schandtaten bereit.
Solches Gefühlsdesign mittels Musik ist nicht mehr mein Ding. Irgendwann Ende der 80ger hab‘ ich aufgehört, an aktueller Musik Anteil zu nehmen. Die alten Kassetten verstaubten in einer Schachtel, bei irgend einem Umzug trennte ich mich von der letzten „Anlage“, wie man das recht großformatige Geräte-Set mit schwarzen Boxen damals nannte. Komischerweise vermisste ich nichts, auch der irgendwann erworbene Radiorecorder blieb die meiste Zeit stumm. Ich führte ein Leben ohne Musik und hasste die zunehmend raumgreifende Hintergrundbeschallung in Kaufhäusern, Aufzügen und öffentlichen Toiletten. Es gibt viele Arten, zum Misanthropen zu werden, dies ist eine davon: Von was für Menschen bin ich eigentlich umgeben, die es keine halbe Stunde mit sich aushalten, ohne ihr Innerstes von außen stimulieren zu lassen? Können sie es nicht mehr wagen, eigene Empfindungen zuzulassen? Müssen sie jegliche Seelenregung übertönen und wegdrücken, um ihren Tag zu bestehen? Was würde ihnen zustoßen, wenn das mal wegfiele? Geraten sie dann in Panik – und warum? So gesehen kann einem der Mitmensch langsam aber sicher recht unheimlich werden!
Mehr und mehr empfand ich Musikbeschallung als rüde Vergewaltigung. Wenn mir ein heftiger Sound ein bestimmtes Gefühl aufzwingt, ist das nichts wesentlich anderes, als wenn jemand meinen Körper fremdbestimmt. Meine Horrorvision ist das Altersheim, in dem man endlos Hits der 60er, 70er und 80er abdudelt und wir als Greisinnen und Greise zu „I can’t get no Satisfaction“ euphorisch mit dem Fuß wippen. Und wenn ich dann endlich ins Koma falle, ist noch immer nicht Ruhe: dann werden mir per Headset Zen-Gongs und tibetische Blashörner eingespielt, auf dass die Seele ihren Weg durch den Bardo nicht unbeschallt antreten muss.
Angst ist hörbar
Gleich wird meine Kaffeekanne zum zweiten Mal röcheln! Draußen erklingt das Tatü-Tata einer Feuerwehr – eigentlich komisch, dass dieser Sound über die Jahrzehnte kein Update erfahren hat! Der Wind fährt durch die Bäume auf dem Rudolfplatz und raschelnd reißen sich die ersten Blätter los, fallen herab auf den Kinderspielplatz, der um diese Zeit sehr belebt ist: Lachen, Schreien – bei geöffneter Balkontür ist hier einiges zu hören, doch es stört mich nicht. In zwei Jahren Leben auf dem Lande hatte ich soviel äußere Stille, dass sie für ein Leben reicht! Seitdem geht der Lärm der Stadt durch mich hindurch, ohne irgendwo im Gemüt anzuecken und genervte Gefühle zu erzeugen. Ein seltsames Phänomen, das sich auch positiv auf die Situation auswirkt, wenn ein Geliebter neben mir einschläft und schnarcht. Auch das geht durch mich hindurch – allerdings nur dann, wenn ich mit ihm eins bin, wenn es nichts an ihm zu meckern gibt und die physische Nähe Ausdruck unserer inneren Nähe ist. Ansonsten schlafe ich lieber allein.
Leider viel zu selten komme ich mal raus aus der Stadt, ins brandenburgische Umland. Dort kann ich dann fast sicher sein, dem schrecklichsten Sound zu begegnen, den ich mir vorstellen kann: Das tiefe und gefährliche Brummen einer Hornisse erkenne ich aus allen anderen Insektenstimmen heraus. Ich weiß, ich weiß, so gefährlich sind sie nicht und meist auch nicht aggressiv – aber ich hab‘ nun mal von Kindheit an eine Bienen-Wespen-Hornissen-Phobie, als deren Rest mir die Angst vor den Hornissen geblieben ist. Mein Begleiter macht gerne Scherze darüber, dass ich sie geradezu anziehe. In den Monaten, die ich einst in einem uralten italienischen Bauernhaus verbrachte, war ich ihnen sehr nahe: jeden Abend umschwirrte so ein Rieseninsekt in Alarmfarben die offene Gaslampe und erlegte sich irgendwann in der Flamme – schauderhaft! Ihr tiefer Ton geht mir durch Mark und Bein, doch hat mich diese Erfahrung, der ich nicht ausweichen konnte, auch inspiriert: meine einzige belletristische Story entstand unter direkter Einflüsterung der Hornissen. Schreibend versuchte ich, den Schrecken, den sie mir bedeuteten, in den Griff zu kriegen. Und wirklich, meine Angst ist seitdem deutlich geringer, doch wenn ich ihren Ton höre, spüre ich es immer noch tief im Bauch.
Der tonlose Ton
Gibt es eigentlich vollkommene Stille? Zur Übung der Meditation sucht man gewöhnlich eine ruhige Umgebung mit möglichst wenigen Fremdgeräuschen auf. Seltsamerweise kann es dann doch sehr laut werden: eine Tür schlägt zu, ein Räucherstäbchen knistert, ein Vogel zwitschert, jemand niest, hustet oder räuspert sich – je mehr die Stille gesucht wird, desto mehr scheint sie sich zu entziehen. Von John Cage wird erzählt, er habe mit großem technischen Aufwand nach der absoluten Stille gesucht – und sie doch niemals gefunden! Kein Wunder, sie ist ja nicht „da draußen“, sie ist der Hintergrund, auf dem alle Töne erscheinen. Wenn es uns gelingt, von allem abzusehen, sämtliche Eindrücke widerstandslos – also ohne Bewertung – durch uns hindurch gehen zu lassen, dann hören wir vielleicht den „tonlosen Ton“, den Urgrund aller Dinge, den Nicht-Sound der Leere, die die Fülle ist.
Soweit hab‘ ich’s aber auch noch nicht gebracht! Ich arbeite noch dran, meinem PC das Stöhnen wieder abzugewöhnen: HEUTE werde ich bei Dell anrufen, bevor mir der Lüfter noch ganz verreckt. Ganz bestimmt!
Dieser Artikel wäre nie entstanden, hätte ihn nicht ein Diary-Leser unterstützt und sich das Thema gewünscht! 1000 Dank! Ich habe die mir so geschenkte „Schreibzeit“ sehr genossen!
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