Thema: Lebenskunst, Philosophisches

Reflexionen über Wesentliches

Claudia am 28. April 2006 — 3 Kommentare

Updates und Häutungen

Etliche Wochen sind vergangen seit dem letzten Diary-Eintrag. Ich brachte es nicht mehr über mich, auch nur noch einen einzigen Satz “in der alten Technik” (händisches Codieren!) hier zur Ansicht zu bringen! Nun ist es endlich geschafft: Das Digital Diary läuft ab jetzt auf dem Blogscript WordPress, dass ich meinen Bedürfnissen und optischen Vorstellungen wunderbar anpassen konnte. Wer hier irgendwelche Fehler bemerkt, möge mir bitte mailen!
Niemand braucht wegen der Umstellung befürchten, hier gäbe es nun auch nur noch die aus vielen Blogs bekannten “Texthäppchen”. Der “Content” kommt immer noch von mir, nicht von der Technik, die ihn zur Ansicht bringt. Die Neigung zu längeren Texten werde ich in diesem Leben wohl nicht mehr ablegen, doch freu ich mich auch darüber, dass es nun möglich ist, auch “einfach mal so” von überall aus ins Diary zu schreiben – und nicht erst mindestens fünf Dateien erstellen und mich um die stimmige Navigation kümmern zu müssen. Weiter → (Updates und Häutungen)

Diesem Blog per E-Mail folgen…

Claudia am 23. Januar 2006 — 3 Kommentare

Vom Schreiben und Erkennen

Heute las ich im Logbuch von Gerd Lothar Reschke den Satz:

„Schreiben will etwas; es hat einen Grund, eine Aufgabe. Es geht um Erkenntnis – und nicht um „mich“, mein Denken, meine Gefühle oder sonstigen Interessen, Wünsche oder Vorbehalte. Und es geht nicht um Kunst, Kultur, „Resonanz“. Es ist die Anwendung eines Instruments auf die Sache – auf die Situation, das Ausgangsmaterial.“

Dieser Satz steht im Rahmen einiger Reflexionen über das Herausgeben von Büchern, darüber, in welcher Weise das den Autor vom „Eigentlichen“ ablenken kann. Fragen der Vermarktung, der Selbstdarstellung und der damit verbundenen Eitelkeiten drängen sich vor, und wer das nicht bemerkt, wird flugs verschluckt von der Eigendynamik des „Geschehens“, wie J. Krishnamurti das Alles-Was-Ist zu nennen pflegte. Weiter → (Vom Schreiben und Erkennen)

Diesem Blog per E-Mail folgen…

Claudia am 12. Dezember 2005 — Kommentare deaktiviert für Vom Glück

Vom Glück

1997 baute ich das erste Mal eine Website zum Thema Glück. Ich schrieb einen langen Artikel, bekam tief schürfende Lesermail, der ich (händisch!) neben dem Text Platz einräumte, gestaltete das Ganze möglichst mystisch und investierte jede Menge Herzblut in die vielen Details – was für eine nette Erinnerung an bewegte Netz-Zeiten, als noch nicht jede Seite eines Projekts aussehen musste wie die andere!
Inhaltlich aber entlockt mir das meiste, was ich damals schrieb, heute ein großes Gähnen. Ganz nett, recht unterhaltend, stellenweise geistreich und philosophisch, letztlich aber reine Zeitverschwendung: abstraktes Geplaudere über dies und das, wie es sowieso aus allen Medien quillt. Da wird viel spekuliert, was Glück bedeuten könnte oder auch nicht: ein fester Arbeitsplatz, Reichtum, Ruhm und Ehre, Konsum und Erfolge? In pseudo-objektivem, fast journalisitschen Stil und im Duktus eines wolkigen „wir“ schreitet der Text voran, bzw. mäandert recht ziellos von Gegenstand zu Gegenstand, um schließlich das Thema „Glück“ zugunsten anderer interessanter Themen ganz zu verlassen, ohne dies irgendwie zu rechtfertigen.

Das Abenteuer

Letzteres war mein Glück! Das echte, wahre, gelebte Glück der freien Entfaltung im Augenblick: Zum ersten Mal wagte ich es damals, einen Text zu beginnen, ihn auch auszustellen und um Kommentare zu bitten, von dem ich zu Beginn und über weite Strecken nicht wusste, wohin mich all diese Gedanken führen würden. Das war neu, für mich geradezu revolutionär, die ich doch gewohnt war, zuerst zu denkerischen Ergebnissen zu kommen, um dann abzuwägen, ob sie für „die Welt“ geeignet seien. Wie es dem Publizieren im Druck eben entspricht: man schreibt einen Artikel und bewertet dann, ob er die Veröffentlichung wert ist – Unsicherheiten während der Erstellung, mangelnde Stringenz der eigenen Meinungen und allerlei weitere Stolpersteine werden gemeistert, BEVOR man sich mit seinem Werk einer Öffentlichkeit aussetzt.

Mit „Glück“ verließ ich diese ausgetretenen, gesicherten Pfade und fühlte mich wie auf dem Hochseil! Ich agierte ohne den Schimmer einer Ahnung, ob „Glück und mehr – work in progress“ ein katastrophaler Flop werden würde oder ein geniales Textlabyrinth, das alle faszinieren und zum Mitschreiben anregen würde, die damit in Berührung kämen. Ich reihte Sätze aneinander, ohne etwas Bestimmtes sagen zu wollen und freute mich, dass es sich dann doch sinnvoll anhörte: weltkundig, fähig, beschlagen, sympathisch. Ich lernte, dass ich mich auf die allmähliche Entstehung der Gedanken beim Schreiben verlassen konnte, egal, um welchen Gegenstand es sich handelte. „Glück“ im allgemeinen interessierte mich nämlich nicht die Bohne, es ging einzig ums experimentieren, ums publizieren im neuen Medium Internet, in dem ENDLICH jeder selber machen konnte, was er wollte (ja, damals war das noch so!). DAS war der Hammer, das große Abenteuer, das neue Spiel – und „Work in Progress“ das aktuelle Wagnis, der Schritt weiter auf noch unbekannten Pfaden, in dem ich gänzlich aufging – mein Glück eben!

Und das ist es auch heute noch: wenn das Leben nicht einfach so seinen gewohnten Gang geht, wenn ich NICHT fortwährend im Halbschlaf der Routinen agiere, sondern der unergründliche, abenteuerliche, manchmal auch abgründig-absurde Charakter dessen, was ist, spürbar wird: DAS macht mich glücklich! Weil es dem Mysterium entspricht, dem Staunen darüber, dass etwas ist und nicht nichts, wie es die Philosophen in Worte fassten.

Entsprechen

Im Wort „entsprechen“ liegt vielleicht der Schlüssel zum Glück, wie ich es heute verstehe. Es entspricht nicht den Erfordernissen, mir irgend etwas auszudenken, was ich sein, werden oder besitzen sollte, um dann damit glücklich (oder auch nur zufrieden) zu sein. Sondern ich will im „Akt des Daseins“ aufgehen, mit meinen Talenten und Fähigkeiten an passender Stelle das Not-wendige tun – ob es meine Not, deine Not oder unser aller Not ist: egal! Diese Unterscheidungen und Trennlinien sind sowieso reine Einbildung: wie könnte ich glücklich sein, wenn alle um mich her leiden?? Wir sind Primaten und werden uns niemals vollständig vom Wohl und Wehe der „Horde“ lossagen können. Schon der Versuch zeigt an, dass etwas nicht stimmt, dass etwas Wesentliches aus dem Gleichgewicht geraten ist, nämlich die innere Balance zwischen dem individuellen und dem gesellschaftlichen Aspekt.

Wie finde ich nun das, was entspricht? Indem ich hinsehe, was gebraucht wird, und hinspüre, ob ich mich im Tun wohl, bzw. gut und richtig fühle. Es macht mir zum Beispiel Freude, Webseiten zu bauen, neue Projekte zu entwickeln, sie bekannt zu machen und wachsen zu lassen – das ist kein blasser theoretischer Gedanke, sondern gesichertes Wissen aus vielfachem Erleben und fortdauernder Freude an der Arbeit. Wie steht es aber mit der Frage nach dem Inhalt der zu gestaltenden Webprojekte?? Anstatt da nun viel zu grübeln und abzuwägen, was denn von allgemeiner Nützlichkeit und Wichtigkeit sein könnte (vielleicht „Glück“? Das will doch eigentlich jeder… oder nicht?), fände sich die Antwort vergleichsweise leicht in der Serverstatistik. Da steht sehr konkret, was die Welt hauptsächlich sucht, wenn sie auf meine Seiten zugreift, nämlich:

  • Porno für Frauen
  • Tietze-Syndrom
  • Sinn des Lebens
  • Bondage-Geschichten

Seit Jahr und Tag landen Menschen mit diesen Bedürfnissen auf dem Klinger-Web und werden doch nur marginal zu ihrem Wunschthema bedient – mal die Frage nach dem „Sinn des Lebens“ ausgenommen, die durch das Gesamtprojekt ausreichend beantwortet wird (nämlich so: in Sachen „Sinn des Lebens“ sind wir nicht Fragende, sondern geben durch unser Leben täglich selber Antwort).
Bleiben noch „Porno für Frauen“, „Tietze-Syndrom“ und „Bondage-Geschichten“ – warum an selbst erdachten Themen eigenwillig festhalten, wenn es doch so klare Wünsche gibt?
Für den Moment ist diese Betrachtung nur ein Beispiel fürs „Ensprechen“, doch morgen schon könnte ich in die Arbeit an diesen Themen versunken und restlos glücklich sein!

Das „passive“ Glück

Was macht noch glücklich außerhalb des fließenden Werkens und Wirkens, das eine kreative Arbeit bietet? Neben dem Glück in der Aktivität gibt es den anderen Pol: das Glück des Beobachters, bzw. das Gewahrsein und bewusste Genießen dessen, was gerade ist. Dazu braucht es die Fähigkeit, die geistige Kupplung zu treten und den inneren Monolog zu stoppen. Mir gelingt das am leichtesten durch kurze Konzentration auf eine physische Sensation: ein und ausatmen, den Körper spüren – und schon bin ich glücklich, dass es um mich her so angenehm warm ist! Ich genieße die vielgestaltigen Farben und Formen der Umgebung, freue mich, dass gerade keinerlei Schmerzen die Aufmerksamkeit bündeln, gerate gelegentlich in nahezu ekstatische Zustände und fühle unendliche Dankbarkeit, dass ich hier und heute in Frieden und schierem Überfluss lebe.

Der aktive und der passive Zugang zum Glück steht mir zu jeder Zeit offen, doch ist Glück seiner Natur nach nichts Stabiles: mehr oder weniger schnell verwandelt es sich wieder in Richtung Unglück und Leiden. Wäre dem nicht so, könnten wir weder das eine noch das andere wahrnehmen: es ist das Wesen der Polarität, dass es immer nur BEIDE Seiten der Medaille gibt. Oh wie schön, wenn der Schmerz nachlässt – im Grunde ist alles Glück eine Variante dieses Erlebens. (Das größte „gefühlte Unglück“ findet sich denn auch in Gesellschaften, die äußerlich ein reiches und rundum abgesichertes Leben bieten – das Leid kann hier kaum mehr von außen kommen, sondern muss als psychisch-geistige Krankheit von innen an der Seele nagen).

Um die natürliche Flüchtigkeit glücklicher Zustände zu wissen, ihre strukturelle Notwendigkeit zu akzeptieren (es fragt uns eh keiner!), ergibt noch einmal ein tieferes „Glück“: Gelassenheit gegenüber der ständigen Veränderung, innere Unabhängigkeit, Freiheit vom Stress des Strebens, Frieden und ein heiteres Gemüt.

Glückbringende Zweisamkeit?

Und wo bleibt der Mitmensch? Das vielbesungene Liebesglück?? Zweisamkeit, Familie, Gesellschaft? Wer das Glück beim Andern sucht, sitzt einer Illusion auf und richtet sich damit mehr als das übliche Quantum Unglück an. Dass es gewiss die attraktivste der gängigen Illusionen ist, noch dazu im Fall der Verliebtheit körperchemisch heftig unterstützt, ändert nichts am grundsätzlich illusionären Charakter der Vorstellung, unser Nächster sei Glücksgarant oder Lieferant. So zu denken, sich so zu verhalten, bedeutet die Begründung einer (vermeintlichen) Abhängigkeit und das Abwälzen von Verantwortung für den eigenen Seelenzustand auf andere. Irgendwann wachsen wir aus dieser Erwartung heraus oder wir versteinern und verbittern, der Welt ewig böse, weil das Gewünschte nicht zu erreichen ist.

Dass die Natur zu Zwecken der Fortpflanzung und Kinderaufzucht das Verlangen nach dem Geschlechtspartner (als erotischer Gespiele, nicht als Beute!) entwickeln und etablieren musste, zwangsläufig mitsamt dem Gefühl der Einsamkeit und Unvollständigkeit, wenn gerade keiner greifbar ist, bedeutet ja nicht, dass das „gewitzte Tier“, das wir geworden sind, das Spiel nicht eines Tages durchschaut. Nicht unbedingt in jungen Jahren (das wäre eher kontraproduktiv), sondern eher in vorgerücktem Alter, wenn Wahrnehmen und Erkennen gegenüber Handeln und Kämpfen auf dem Vormarsch sind.

Wenn ich mich mal des Abends allein zuhause ein paar Augenblicke unruhig und einsam fühle, dann stell‘ ich mir gerne vor, wie es jetzt wäre, wenn dieser oder jener Freund meines Herzens anwesend wäre. Dann wird mir sogleich klar, dass die vorgestellte Zweisamkeit auch eine negative Seite hat: Für A bin ich eine andere als für B oder C, mit jedem Gegenüber lebt sich ein etwas anderer Teilbereich dessen aus, was ich bin. GANZ bin ich nur mit mir alleine, in der Potenzialität ohne Verwirklichung bin ich der Vollständigkeit am nächsten, bin bei mir zuhause – wie schön.

Seit ich das nicht nur weiß, sondern allein und in jedem Zusammensein auch spüre, empfinde ich keinen Mangel mehr, was andere Menschen angeht. Der Wegfall des Haben-Müssens nimmt einen Stress weg, dessen Abwesenheit auch der Mitmensch wohltuend spürt. Glückliches allein sein ergibt ein fröhlich entspanntes Miteinander – ich kann es nur empfehlen!

Glück – nun hab‘ ich einen ganzen Vormittag mit der Meditation dieses „Schreibimpulses“ verbracht! Zu Weihnachten hin schließe ich so manche Brotarbeit ab und hab‘ wieder etwas mehr Zeit für „geplante Themen“ und andere Kreativ-Arbeit – was für ein Glück!!!

Wenn es mit dem Spruch „Only bad news are good news“ etwas auf sich hat, wird dieser Diary-Beitrag zu den langweiligsten und überflüssigsten gehören, die je geschrieben wurden!

Macht aber nichts – macht mich nur glücklich!

Dieser Artikel wäre vielleicht nur eine Idee geblieben, hätte ihn nicht ein Diary-Leser unterstützt! 1000 Dank! Ich habe die mir so geschenkte „Schreibzeit“ sehr genossen!

Diesem Blog per E-Mail folgen…

Claudia am 05. Dezember 2005 — Kommentare deaktiviert für Lebenszeichen: Kleine Inventur im Dezember

Lebenszeichen: Kleine Inventur im Dezember

Seit über drei Wochen kein Eintrag! Zwischen schlechtem Gewissen und Schreibblockade schwankend, will ich nun zumindest ETWAS von mir hören lassen: ich arbeite soviel wie noch nie! Mein Arbeitsalltag hat sich mit Übernahme der Pflege einer großen Website sehr stark verdichtet. Noch kämpfe ich um die Beschränkung dieser Arbeit auf ein erträgliches Maß, bzw. auf die vereinbarten 10 Stunden pro Woche. Gelingt mir das nicht, werde ich den Job wieder abgeben müssen, denn davon leben kann ich bei weitem nicht. Weiter → (Lebenszeichen: Kleine Inventur im Dezember)

Diesem Blog per E-Mail folgen…

Claudia am 08. November 2005 — Kommentare deaktiviert für Der Nase nach – Dufterlebnisse zwischen Terror und Verführung

Der Nase nach – Dufterlebnisse zwischen Terror und Verführung

Jeden Morgen beginne ich den Tag mit einer Kanne Espresso. Aufschrauben, Sieb ausleeren, säubern, Wasser und nicht allzu fein gemahlenes Kaffeepulver einfüllen, zuschrauben, auf den Gasherd stellen. Daneben ein Topf mit einem halben Liter Milch. Wenn der Espresso röchelnd in der oberen Hälfte der Kanne angekommen ist, ist auch die Milch gerade heiß genug. Überhöre ich das Geräusch, kocht die Milch über und der Kaffee verspritzt sich nach und nach quer über die Herdplatte.

Zum Glück passiert das selten, zumindest nicht morgens, denn da ist meine Nase noch nicht vom Zigarettenqualm betäubt und ich werde vom Espresso-Duft, der jetzt durch die ganze Wohnung zieht, in optimistische Stimmung versetzt. Heute werde ich bestimmt alles schaffen, was auf der Todo-List steht! Ich fühle mich stark und aktionsfähig – wär‘ es nur ein „normaler“ Kaffe, wäre die Wirkung nicht vergleichbar. Viele Jahre Italien-Urlaub schon in Kindertagen haben mich auf Espresso geprägt, die normale deutsche Kaffe-Plörre ist mir ein Graus.

Gut riechen – schlecht riechen

Düften und Gerüchen bin ich ausgeliefert, sie gehen am Denken vorbei und beeinflussen das Befinden, ohne mich zu fragen. Vielleicht bedauere ich es deshalb kaum, keine feine Nase zu haben. Mein Yogalehrer konnte so gut riechen, dass seine Schülerinnen und Schüler nur frisch geduscht, geseift, mundgespült und unter Vermeidung von Knoblauch und Zwiebeln am Vortag zu seinen samstäglichen Stunden anzutreten wagten. Und selbst das bot keine Garantie: er roch die Raucher heraus und die Schweinefleisch-Esser, und manchmal nahm er über seine Wahrnehmungen kein Blatt vor den Mund! Ich dachte mir damals: Wenn man auf dem Yogaweg SO empfindlich wird, dann ist das vielleicht gar nichts für mich. Will ich denn leidend durch die Straßen gehen? Staub, Dreck, Autoabgase, Hundescheiße und all die vielfältigen Ausdünstungen der Mitmenschen – gar nicht auszudenken, wenn all das ständig im Vordergrund der Aufmerksamkeit ankäme!

Das waren natürlich nur bequeme Ausreden. Ich war immer nur eine Gelegenheits-Yogini, mal mehr, mal weniger motiviert, doch – abgesehen vielleicht vom ersten Jahr – niemals wirklich bereit, ein „voll gesundes Leben“ zu führen. Immer mal wieder ein Versuch, mit dem Rauchen aufzuhören, kurze Phasen als Fast-Vegetarierin oder Vollwertköstlerin: all das scheiterte alsbald wieder am Alltag, an meiner Trägheit und am Unwillen, mich fortwährend auf „Nebenkriegsschauplätzen“ aufzuhalten.

„Du riechst so gut“ ist ein Kompliment, das mich verlegen stimmt, hab‘ ich festgestellt. Insbesondere, wenn es von Menschen kommt, mit denen ich keine erotische Beziehung habe. „Du stinkst nach Rauch“ ist mir da fast lieber, mit Kritik kann ich umgehen und das Rauchen und seine Folgen ist mir ein gewohnter Stachel im Fleisch. Die exzessive Körperlichkeit der Gerüche empfinde ich als Störung und manchmal als Verstörung. Kein Wunder, dass sich das Riechorgan ganz allgemein zurück entwickelt, es passt nicht mehr so gut in eine Zeit, in der das Auge alles dominiert und die Mehrheit der Menschen in die Städte strebt, deren riesige Dunstglocken erst aus der Entfernung drastisch sichtbar werden. In den zwei Jahren, die ich draußen auf dem Land verbrachte, war jeder Berlinbesuch von „Eingangskopfschmerzen“ begleitet: jetzt roch ich, was ich sonst nicht bemerkte – und es war NICHT gut so!

Riechen als Leiden – seltsam, dass mir das zuerst einfällt, wenn ich daran denke. Schließlich gibt es jede Menge angenehmer Düfte und Gerüche: der erste Frühling, wenn langsam die Erde aufweicht und das Grün zu sprießen beginnt, die Baumblüte im Mai, die reine Luft nach einem Sommerregen! Und dann Weihnachten, Lebkuchengewürze, angekokelte Tannenzweige, ein Duftmix, den man ab Oktober in manchen Supermärkten riecht. Nicht natürlich entstanden, sondern gemacht, auf dass – am Denken und an der Einkaufsliste vorbei – die Kunden von der Lust auf Schokoladennikoläuse und Christstollen ergriffen werden mögen. Mich vertreibt das eher, als dass es mich anregen könnte, genau wie ich den Geruch in Kaufhäusern hasse, dieses Konglomerat aus allerlei Parfüm, das heute zum Einkaufserlebnis gehört wie der Duft von Leder oder Latex zu einem „ordentlichen Fetisch-Outfit“.

Im kollektiven Kindergarten

Der Duft der Zeit ist Vanille. Vilém Flusser hat die gesellschaftliche Entwicklung als – im negativen Fall – zum kollektiven Kindergarten hin strebend beschrieben, und mir scheint, die exzessive Verwendung des Vanille-Aromas deutet darauf hin, dass dieser negative Fall lange eingetreten ist. Kaum mehr ein Tee ohne Vanille-Touch, zu Marmelade und Fruchtaufstrichen passt das eigentlich nicht, wird aber nichtsdestotrotz immer häufiger beigemischt. Oft merke ich es erst, wenn es zu spät ist! In Süßigkeiten, Joghurts, Cremes, löslichem Kaffe, in Haarwaschmitteln und Bodylotions, im Weichspüler und in Duftkerzen: Vanille ist überall, erinnert unvermeidlich an die schöne Zeit im Sandkasten, als wir nach sinnlicher Lust strebten, keine „richtigen Sorgen“ hatten und im besten Fall geborgen in einer harmonischen Familiensituation wie aus der Margarine-Werbung unbeschwerte Kindertage verlebten. Je mehr Vanille-Duft in der Luft liegt und aus den Dingen strömt, desto schlechter ist es um das Land bestellt, denke ich mir. Unser Gemüt soll sich beruhigen und in archaischen Wohlgefühlen schwelgen, während die Zeiten härter werden. Vanille überall ist politisch, wenn es auch keine Verschwörung gibt, die hier zum einschläfernden Duftangriff bläst.

Alles in allem bin ich froh, keine allzu sensible Nase zu haben. Meine Versuche in jungen Jahren, mich mittels irgend eines der zahlreichen Parfüms zu besonderen Gelegenheiten etwas weiblicher zu stylen, scheiterten schon an der Unfähigkeit, einen passenden Duft auszuwählen. Hatte ich drei oder vier auf dem Handrücken ausprobiert, roch ich schon nichts mehr, bzw. nur noch intensives, sehr fremd stinkendes Geruchschaos. Ich ließ es bleiben und fand mich damit ab, den Ansprüchen der Frauenmagazine auch in diesem Punkt nicht zu genügen. Neuerdings trifft der Duftstress ja auch die männliche Hälfte der Menschheit, der mit aller medialen Macht suggeriert wird, es brauche nur das richtige Deo, und schon werde die holde Weiblichkeit vor Verlangen nur so dahin schmelzen. Und für HardCore-Duftgläubige gibt’s Pheromone, damit konnte man zu Anfang des Hypes als Internet-Versender richtig reich werden, genau wie mit „Penisverlängerung“.

Trotz aller Ablehnung diverser Duft-terroristischen Anschläge auf mein limbisches System, nutze ich gelegentlich selber Räucherstäbchen und ätherische Öle – sie dürfen aber weder nach Vanille noch nach Patschuli riechen, der Duft aus alten Hippie-Tagen, der vielen recht verhasst ist. Wenn Besuch kommt, lüfte ich die Räume, auf dass der Zigarettenqualm sich weitmöglichst verziehe, den Rest erledigt ein glimmendes Sandelholzstäbchen. Auch Zitrone, Melisse oder Orange reinigen die Luft. Das „Zitronige“ darf allerdings nicht dominieren, wenn es ein erotischer Anlass ist: dann mische ich eher Ylang Ylang bei, auch mal Moschus oder Rose. Alles ein bisschen weniger intensiv, als es für mich „richtig“ wäre, denn dann wäre es für meinen Gast mit der Nichtrauchernase schon wieder zuviel. Ihn selber rieche ich am liebsten „im Original“, ohne dass sich ein künstlicher Duft allzu sehr vordrängt, wenn wir uns sehr nahe kommen.

Jetzt ruft mich die Arbeit und dafür koche ich mir die zweite Kanne Espresso des Tages. Die rieche ich schon deutlich weniger als die erste, hoffentlich überhöre ich über dem Lesen der ersten Mails das „Röcheln“ nicht wieder! Wenn ich dann eines Tages auch noch schwerhörig bin, installiere ich mir eine digitale Eieruhr – Sinnlichkeit ist wunderbar, aber man kann sich behelfen! :-)

Dieser Artikel wäre vielleicht nur eine Idee geblieben, hätte ihn nicht ein Diary-Leser unterstützt! 1000 Dank! Ich habe die mir so geschenkte „Schreibzeit“ sehr genossen!

Diesem Blog per E-Mail folgen…

Claudia am 02. November 2005 — Kommentare deaktiviert für Statusmeldung: Von der Schwierigkeit, in Bewegung zu bleiben

Statusmeldung: Von der Schwierigkeit, in Bewegung zu bleiben

Es ist kurz vor acht, ich versinke in einer Email, lese einen eigenen Text von gestern noch mal durch, mache einen Abstecher auf die Themenliste der gesponserten Diary-Beiträge – es ist die morgendliche Suchbewegung, die Freude an der geistigen Wachheit, die ein Feld sucht, das jetzt gepflügt werden will. Kein konkretes Verlangen stört die Offenheit, keine Hektik kribbelt im Körper, noch bin ich nicht getrieben von dem, was heute muss – ein wundervoller Zustand, der mir in den letzten zwei Wochen kaum zugänglich war.

Mit Arbeit zugeschüttet – schon erstaunlich, wenn man bedenkt, dass die so Zugeschüttete sich noch im September inmitten einer „Krise der Arbeit“ befand, finanziell am Tiefpunkt, noch 300 Euro vom Dispolimit entfernt und ziemlich ratlos, wohin die Reise gehen soll. Ich war am Ende der gewohnten Praxis angelangt, die Dinge einfach auszusitzen, mich aufs „tatsächliche Befinden“ zu konzentrieren und mir vorzumachen, Zahlen auf Kontoauszügen seien ja doch nur Zeichen, von mir selbst mit Bedeutung aufzuladen oder auch nicht. Ich musste mir eingestehen, Angst zu haben, existenzielle Angst um mein gewohntes, selbst bestimmtes Leben, um meine für eine Hartz4-Existenz zu große Wohnung, um mein weiteres Fortkommen, das im Dunkeln lag und von dem ich nur wusste: ich will nicht fort, ich will DA bleiben, wo ich gerade bin!

Einen Status verteidigen, die Besitzstände wahren – wie oft hatte ich über solches Denken und Fühlen gelästert, nun aber war es höchste Zeit, mich darauf zu besinnen! Die Frage „was tun?“ kreiste in meinem Kopf und versuchte, sich gegen die spirituelle Matschbirne durchzusetzen, die vom „Tun des Nicht-Tuns“ faselt und glaubt, sich in den Augenblick (hier & jetzt!) retten zu können, indem handfeste Probleme einfach ausgeblendet werden. Was nicht „von selbst“ geschieht, kann gar nicht gut sein – das ist ihr Credo, damit verweigert sie trickreich Anstrengungen jenseits bekannter Aktionsfelder, bestätigt den Konservatismus gewohnter Verhaltensrepertoires, macht träge und schwach. Es soll Menschen geben, die diese Haltung soweit treiben, dass sie allen Ernstes darauf warten, dass sich in ihrem Briefkasten Geldscheine materialisieren!

Wer bin ich?

Wer versucht, seine Alltagsperson mit ihren Bedürfnissen und Not-Wendigkeiten aus dem großen „Selbst“, von dem alles kommen soll, auszuschließen, sitzt einem bequemen Missverständnis auf. Der Ich-Gedanke ist nur einer unter vielen Gedanken, ja – aber die Miete muss dennoch gezahlt, der Müll trotzdem raus getragen werden. Jeder Körper befindet sich im Stoffwechsel mit seiner Umwelt und hat gelegentlich Anpassungsleistungen zu vollbringen, die sich als „Kampf ums Dasein“ darstellen. Will man dem immer nur ausweichen, die gewohnte Ruhe bewahren, in meditativen Schonräumen geistiges Ikebana treiben anstatt zu tun, was anliegt, dann wird man alsbald zum bloßen „Opfer der Verhältnisse“ – und nicht etwa frei! Verhältnisse, gute und schlechte, entstehen aus dem Verhalten von Menschen. Sich raushalten ist kein Programm, sondern ein Sich-drücken-wollen, das zu immer bedrückenderen Situationen führt.

Wer immer auf derselben Stelle sitzen bleibt, dem verkümmern die Muskeln, Bewegung wird zur Zumutung, später zur Qual. Würde ich immer wie ein Fettauge auf reichhaltiger Suppe schwimmen, gäbe es keinerlei Herausforderungen, ich würde mich nicht weiter entwickeln, sondern zusammen schrumpfen, verknöchern und versteifen.

Solche Betrachtungen waren es allerdings nicht, die mich schließlich in Bewegung versetzten, sondern einfach der Druck der finanziell katastrophalen Lage. Mit dem Durchbrechen der Gewohnheit, über Geldprobleme nicht zu sprechen, stellte sich sofort die gewisse Abenteuerlust ein, die mich ergreift, wenn ich Neuland betrete, das auch Risiken birgt. Ungewohnt war auch der nächste Schritt, das JA zu einem „unselbständigen“ Minijob an zwei Tagen pro Woche. Wenig aber regelmäßig eintreffendes Geld, dafür Rädchen im Getriebe sein, weisungsgebunden, nicht kreativ Neues erschaffend, sondern Vorhandenes pflegend. Von einem schicken Laptop, den ich nur besaß, aber nicht benutzte, hab‘ ich mich ohne größeres Bedauern getrennt, dann folgte eine umfassende Inventur all meiner Aktivitäten: was tue ich und was will ich künftig tun? Was soll dabei heraus kommen? Womit will ich Geld verdienen und was tue ich „just for fun“? Wie eine Existenzgründerin erstellte ich Listen, überlegte Ziele und Zwecke und die Wege dahin.

Und „wie von selbst“ erfuhr ich Unterstützung von den verschiedensten Seiten! Ein neuer Kunde mit einem interessanten Web-Projekt fand sich ein und machte eine Anzahlung; der mehrfach verschobene Schreibimpulse-Kurs zum Thema „Altern“ kam auf einmal doch zustande, ein Freund meiner Texte trat in mein Leben und bot mir einen zinslosen Privatkredit an, Diary-Leser sponserten bis heute zwölf Beiträge. Und als ich eines Morgens gänzlich unerwartet ein paar größere Scheine im Briefkasten vorfand, Morgengabe eines langjährigen Geliebten, war ich wirklich hin und weg!

Wach bleiben, dran bleiben

Würde ich mich unter diesem ermunternden Schulterklopfen der Existenz nun wieder dem gewohnten Dämmerschlaf hingeben, in leicht geänderten Routinen versacken, Business as usual betreiben, dann wäre ich schnell wieder da, wo mich die Finanzkrise erwischt und in Bewegung versetzt hat. Dreh- und Angelpunkt nachhaltiger Veränderung ist in meinem Fall die (tätige!) Auseinandersetzung mit dem Willen und der Motivation. Die darf sich nicht darin erschöpfen, lediglich für ein ausgeglichenes Konto und eine gewisse Verstetigung des Einkommens zu sorgen, um ansonsten ungestört „im Augenblick leben“ zu können. Das JETZT ist nicht der Urlaub, in den man geht, wenn alles getan ist, jetzt ist genau hier, vor diesem Monitor, im Schneidersitz auf dem Stuhl, im vollen Gewahrsein der sich anbahnenden Nackenverspannung und des leichten Ziehens im rechten Oberarm.

Wenn ich weiß, was ich will und warum ich hier sitze, dann bin ich im Stande, auch mal aufzustehen und ein paar Übungen zu machen, um es ohne Schaden noch länger tun zu können. Geht es aber nur um den Cash-Flow, ums Vermeiden einer Hartz4-Existenz, trägt mich das nicht weit, bzw. eben nur bis zur Abwendung der aktuellen Gefahr. Dann folge ich wieder den 10.000 Impulsen, die der Tag für mich bereit hält, wünsche nichts, fürchte nichts, gehe häufig in die Sauna und schreibe darüber, wie nett das ist – bis mich die nächste Krise erwischt: eine neue Ohrfeige der Existenz, weil ich unterhalb meiner Möglichkeiten verharre, Herausforderungen vermeide und versuche, mich im Gemütlichen einzurichten.

Was tun?

Oft schon habe ich darüber geschrieben, dass man seinen Däimon finden muss, um in kreativer Bewegung zu bleiben, habe Käferforscher beneidet, die ihre Lebensaufgabe genau kennen, habe beklagt, dass ich zwar mit der Liebe zur Arbeit geschlagen bin, aber auch unfähig, mich zwischen allerlei möglichen Engagements zu entscheiden. Drüber reden reicht ja meistens schon, dann fasziniert wieder das nächste „mögliche Projekt“ und heraus kommt nur selten etwas. WARUM sollte ich denn auch zusätzliche Anstrengungen machen, wenn doch das Konto bei 1500 steht und die Auftragslage den übernächsten Monat bezahlbar erscheinen lässt? Mehr Sicherheit hatte ich nur selten im Leben und Jahre lang hat es doch so geklappt, was spricht dagegen, so weiter zu machen?

Nichts. Nichts und niemand spricht dagegen. Ich bin es ganz allein, die hier antworten muss. Und es hilft dabei gar nichts, zu wissen, was „man tun sollte“!

Da gerade mein Kurs übers Altern läuft, schiebt sich jetzt wie selbstverständlich der Gedanke an „Altersvorsorge“ ein. Ja, ja, warum soll ich nicht auch endlich vernünftig werden, an die Zukunft denken, mehr Geld verdienen und ordentlich vorsorgen? Nichts dagegen, aber als einziges Ziel täglichen Strebens scheint mir Altersvorsorge ebenso untauglich wie „Hartz4 vermeiden“ – da zieh ich mir lieber eine interessante Krankheit zu und sterbe vorzeitig weg! Ich brauche einfach diesen Hauch von Abenteuer, der nur aufkommt, wenn es um etwas geht, das mich begeistert und erfüllt. Bloßes Bemühen um Absicherung der Bestände kann das niemals leisten.

Lange Zeit hab‘ ich schon nichts mehr Neues angefangen, weil ich mir selbst nicht traute. Diese fluktuierenden, unzuverlässigen Begeisterungen für die eine oder andere Idee, die mich recht häufig anwandeln und schnell wieder verschwinden – sollte ich einer davon aufsitzen? Etwa so, wie ich auch in meinen wenigen Begegnungen mit Geldspielautomaten lieber die Stop-Taste drückte, anstatt zu warten, bis die wirbelnden Scheiben zum Stehen kommen? Am Automaten kassiert oder verliert man immerhin gleich, im richtigen Leben aber geht es nach der Entscheidung erst richtig los: Konzepte werden Projekte, Realisierungen binden, die anfängliche Begeisterung weicht der Ernüchterung und die Mühen der Ebene müssen durchgestanden werden. Ja wie denn? So ganz ohne eine drückende Not oder treibende Gier?

„Wir haben das Glück erfunden“ – sagen die letzten Menschen und blinzeln.
Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbar und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme.
Krank-werden und Misstrauen-haben gilt ihnen sündhaft: man geht achtsam einher. Ein Thor, der noch über Steine oder Menschen stolpert!
Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben.
Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt, dass die Unterhaltung nicht angreife.
Man wird nicht mehr arm und reich: Beides ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich.

Mit diesem Auszug aus Nietzsches „letztem Menschen“ mach ich für heute Schluss. Den hab‘ ich schon öfter zitiert in all den Jahren, mal im Gestus der Empörung über seinsvergessene Mitmenschen, mal als Selbstverspottung oder Ermahnung. Heute aber freu‘ ich mich einfach daran, wie gut der Text passt – zu einer Daseinsweise passt, die ich bis ins letzte Detail aus eigenem Erleben kenne. Auf einmal sehe ich die ganze ausweglose Perfektion des „letzten Menschen“ – aber ich schaue von außen darauf, es geht mich nicht mehr an.

Was daraus folgt, muss ich erst erleben, bevor ich drüber schreiben kann – ich hoffe mal, es wird nicht ZU beschwerlich! ;-)

Diesem Blog per E-Mail folgen…

Claudia am 17. Oktober 2005 — Kommentare deaktiviert für Von der Macht der Worte und der Kraft des Schweigens

Von der Macht der Worte und der Kraft des Schweigens

„Vogelgrippe-Alarm: Türkei-Urlauber bleiben gelassen“ – der Beitrag des RBB, der mit diesen zwischen Fakt und Vorwurf oszillierenden Worten anmoderiert wird, zeigt Reisende, die auf die besorgten Fragen der Reporter befremdet reagieren: Ja, man habe davon gehört, nein, Auswirkungen habe es nicht gegeben, ja, man habe im Urlaub ungestört Hähnchen essen können, nein, niemand habe auf dem Flughafen nach mitgeführtem Geflügel gefragt.

So einfach ist das. Ein paar Fragen mit durchaus erwartbaren Antworten (wer führt schon tote Hühner im Reisegepäck mit?) und schon steht der „Vorwurf an die Verantwortlichen“ im Raum, sich nicht konsequent um die Gefahrenabwehr zu kümmern. Damit kann nun weiter journalistisch gearbeitet werden: Man rufe morgens um 7 ein paar Politiker an und befrage sie zu den noch immer nicht eingeleiteten Schutzmaßnahmen – und schon gibt’s neues Material, „Fakten“ sind geschaffen, zu denen sich andere Politiker wenig später werden verhalten müssen. Das Karussell aus Nachfrage, Antwort, Nachricht, Stellungnahme, Kommentar, Brennpunkt, neue Nachfrage beschleunigt sich, die Woge hysterisierender Meldungen schwillt an und verbreitet alarmierte Erregungszustände, steigert Quote und Auflage. Im Sog
des medialen Katastrophenvakuums zwischen Neuwahl und Erdbeben bot sich die Exhumierung des Vogelgrippen-Themas geradezu an – ich hatte mich schon besorgt gefragt, was wohl aus ihr geworden ist!

Wirklichkeit erschaffen

Immer wieder staune ich, wie aus ein paar Worten Wirklichkeit entsteht: Vor der Elephantenrunde am Wahlabend hätte niemand aus dem Ergebnis heraus gelesen, dass Angela Merkels Aussichten auf die Kanzlerschaft in Frage stünden. Auch knappe Mehrheiten sind und bleiben Mehrheiten – sollte man meinen. Dass sich auch anders denken lässt, lernte die verdutzte TV-Nation erst aus Schröders „Machtworten“, mit denen er sich unerwartet als Sieger inszenierte und ihr den Führungsanspruch absprach, als handle es sich um realitätsferne Träumereien („Man muss doch die Kirche im Dorf lassen!“). Genauere Prüfung der Sachlage ergab, dass Schröder tatsächlich Chancen hätte, im dritten Wahlgang gegen Merkel anzutreten und – mit einigen Stimmen aus der Linkspartei – auch zu gewinnen. Diese „mögliche Realität“ hatte niemand in Betracht gezogen, bis Schröder sie ins Bewusstsein hob: eine Möglichkeit, die zwar den parlamentarischen Gepflogenheiten widerspricht, gleichwohl aber gesetzeskonform wäre. Wie wirkungsmächtig bereits eine solche „mögliche Wirklichkeit“ sein kann, wissen wir heute besser als in den Tagen nach der Wahl: ohne jene markigen Worte hätte die SPD eine schlechtere Verhandlungsposition, sie hätte weniger Ministerien und weit geringere Chancen, ihre Politik in der großen Koalition umzusetzen. Macht neigt eben zum Wachstum, wenn man sie wortstark behauptet.

Dass es so einfach und oft so erfolgreich ist, mit bloßen Behauptungen Realitäten zu erschaffen, liegt daran, dass in einer x-beliebigen Situation nur das gewiss ist, was die sinnliche Erfahrung den Anwesenden jeweils vermittelt: dass da drüben ein Tisch steht, dass es Tag und noch nicht Nacht ist, darauf kann man sich (meistens jedenfalls) problemlos einigen. Alles andere aber, Zukunft, Vergangenheit und sämtliche Zusammenhänge, die zur gerade erlebten Situation führen oder aus ihr folgen mögen, sind Vorstellungen, Erinnerungen und Hoffnungen in den Köpfen der Beteiligten. Die gemeinsame Wirklichkeit entsteht aus der Schnittmenge zwischen diesen Vorstellungen: wenn die Mehrheit einer Gruppe überzeugt ist, dass die Mondlandung niemals stattgefunden hat, dann ist das für die Beteiligten die wahre Wirklichkeit – und alle, die anderes behaupten, sind bloß arme Opfer einer von finsteren Mächten gesteuerten Medienkampagne.

Deine Wirklichkeit – meine Wirklichkeit

Was tun, wenn da ein Mensch vor mir sitzt, der in einen „Privatglauben“ verstrickt und damit sichtlich unglücklich ist?? Früher hab‘ ich mich dann schwer engagiert, ich versuchte alles, ihm die düsteren Weltsichten argumentativ auszureden, in der naiven Meinung, es werde ihm sofort besser gehen, wenn er von seinem Glauben abließe. Statt dessen ging es MIR schlechter, ich rieb mich in sinnlosen Streitereien mehr oder weniger auf, ich spürte, wie sich der Andere mit aller Macht an seine ver-rückte Sicht der Dinge klammerte, die ihn doch – aus meiner Sicht – nur unglücklich machte. Es gelang in keinem Fall, ihn aus dem tiefen Brunnen zu ziehen, im Gegenteil, er zog mich mit hinein. „Worte der Vernunft“ richten nichts aus, wenn es gar nicht um Welt- und Selbsterkenntnis geht, sondern um die Stabilisierung eines Weltbilds, das derjenige offenbar nötig hat, um nicht noch Schlimmeres glauben zu müssen.

Wer zum Beispiel der festen Meinung ist, von unbestimmten Feinden verfolgt und in den eigenen Lebensäußerungen behindert zu werden, mag unter diesem Glauben leiden, doch kann dieses Leiden immer noch „angenehmer“ sein als die Einsicht, fürs eigene Unglück selbst verantwortlich zu sein. Ebenso „nützlich“ sind einfache Weltbilder, von Jehovas Zeugen bis hin zu den wildesten Verschwörungstheorien: wer sie glaubt, weiß immer, wo der Feind steht und muss die Komplexität und Unberechenbarkeit der Wirklichkeit nicht ertragen. ANGST ist der tiefere Grund für die mentale Verstrickung und gegen Angst kommt Vernunft nur sehr selten an, das erlebe ich an meiner eigenen „Angst vorm Fliegen“.

Hier und jetzt spielt die Musik

Das Mittel der Wahl, mit solchen Menschen umzugehen, ist nicht das Argument, der Versuch, das Gegenteil des unglückbringenden Glaubens zu beweisen. Ich musste erst zigmal scheitern, bevor es mir in Situationen absoluter Gesprächsmüdigkeit („dann leck mich doch…!“) unverhofft gelang, vom verbissenen Streit um die „wahre Wirklichkeit“ in eine gelassene, liebevolle Stimmung zu kommen. Das geschieht, wenn ich bei MIR bleibe und nicht versuche, den Anderen zu bekehren: Gut, du meinst, die Welt sei schlecht – aber was machen wir JETZT? Das Wetter ist super, wie wär’s mit einem Spaziergang?

Hier und jetzt ist die wirklichste Wirklichkeit. Das Leiden ist allermeist nur Vorstellung, Bewertung, Voraus- und Nach-denken. Wenn ich mich selber darauf besinne und jeden Anspruch aufgebe, besser zu wissen als mein Gegenüber, was der Fall ist, dann kann ich das Terrain des Denkens und Grübelns verlassen und zum gemeinsamen Erleben übergehen – ein Feld, auf dem es fast unmöglich ist, in miesen Stimmungen zu verharren.

Über die Macht der Worte wollte ich schreiben, doch Worte alleine sind leere Zeichenketten, die nur auf dem Hintergrund von Stimmungen, Ängsten, Wünschen und Bedürfnissen ihre Kraft und Bedeutung entfalten. Manchmal ignoriere ich die Botschaften der Medien für ein paar Tage oder Wochen, dann setzt eine regelrechte „Entwöhnung“ ein, die den Wirkungsgrad der beiläufig aufgenommenen Zeitungsschlagzeilen drastisch herab setzt. Die Welt wird nicht schon dadurch besser, dass ich an jedem der unzähligen Übel inneren Anteil nehme. Im Gegenteil, sie kann sich leicht noch ein wenig verschlechtern, wenn ich ständig empört, wütend, besorgt, geängstigt und verzweifelt bin und ganz vergesse, dass ich zuallererst mein Hier & Jetzt verantworte: mein Körper, meine sinnliche Erfahrung, meine Stimmung, meine Art und Weise, Eindrücke zu verarbeiten und zum Ausdruck zu bringen: vermehre oder vermindere ich damit das allgemeine Unglück? Jeder Mensch ist ein Katalysator und hat die Macht, Stimmungen in diese oder jene Richtung zu verstärken. Worte sind das Mittel dazu, doch die grundsätzliche Entscheidung, ob man positiv oder negativ verstärkend wirkt, fällt in einem Raum vor allen Worten und bleibt oft unbewusst.

Bewusst da sein – geht das ohne Worte, ohne Gedanken??? Im Augenblick intensiver Wahrnehmung denke ich nicht, sondern gehe im Erleben auf. Kaum taucht ein bewertender Gedanke auf, ist das Erleben bereits wieder vorbei: es gibt wieder die Denkende und das Objekt der Betrachtung. Der Verstand ist unfähig, ins Paradies einzugehen, und deshalb verzichte ich – so beobachte ich immer wieder – auf das Erleben zugunsten des Denkens. Diese Reaktion kennen viele, etwa im Gefühl, etwas Schönes TEILEN zu wollen: erlebt man es alleine, erscheint es unvollkommen, bzw. die Vollkommenheit erweckt den heftigen Drang, es jemandem zeigen zu wollen. Ich sehe das als Überlebensstrategie des Verstandes: Drüber reden lässt ihm Raum, bloßes Erleben macht ihn entbehrlich. Und solange ich mich hauptsächlich mit diesem „Ich denke“ identifiziere, bleibe ich ausgeschlossen aus allen Paradiesen des Erlebens, treibe mich missmutig und verlangend vor den Pforten herum, nicht realisierend, dass ich mir nur selber im Wege stehe, weil ich das Denken nicht mal für Momente loslassen will.

Vom Schweigen

Eine Betrachtung über die Macht der Worte, Gedanken und Überzeugungen wäre unvollständig ohne einen Blick auf das Schweigen. „Wissen, wollen, wagen, schweigen“ ist eine alte Weisheit abendländischer Magie-Tradition. Da ich ziemlich gerne rede hab‘ ich lange nicht verstanden, um was es in dem Satz geht: Worte und Gedanken verbrauchen Energie – nicht nur die physikalische Energie, die man in den Aktivitäten des Gehirns messen kann, sondern vor allem psychische Energie. Wenn ich eine gute Idee habe, eine Eingebung oder Intuition, die mittels weiterer Gedankenspiele zum PLAN für ein Handeln reift, dann tue ich gut daran, das nicht gleich auszuposaunen. Denn die Begeisterung, die mich zum Handeln treibt, könnte nicht besser vernichtet werden als durch aufgeregte Mitteilungen: „Hey, stell dir vor, was mir grade eingefallen ist! Ich könnte doch….“ – meist entspinnt sich dann ein engagiertes Gespräch über mein Vorhaben, an dessen Ende mir die Lust aufs Verwirklichen vergangen ist. Und nicht etwa deshalb, weil der Andere quasi automatisch den Advocatus Diaboli spielt und meine Plänen kritisch hinterfragt, sondern weil die Entwicklung und Mitteilung der „Geistgestalt“ des Vorhabens bereits dieselben Gefühle erzeugt, die ich mittels der Realisierung erleben würde. Das REICHT mir dann oft schon: die Idee ist vorgetragen, der Plan in Worte gefasst, ich habe Bestätigung und Anerkennung erfahren – warum nun noch die Mühen der Ebene auf mich nehmen? WAS könnte jetzt noch zur Verwirklichung motivieren? Irgendwie ist „die Luft raus“, das Vorhaben schafft es vielleicht noch auf die ToDo-List, wo schon die anderen „gesprächsweise verbrauchten“ Ideen schlummern und irgendwann ausgesondert werden.

Nicht zu sprechen, etwas erst mal für sich behalten, ist für sehr kommunikative, mitteilungsfreudige Menschen eine schwierige Übung. Umso spektakulärer sind die Ergebnisse, denn das Selbstgefühl verwandelt sich im Schweigen: Man spürt, wie die Idee gleich einem Samen zu keimen beginnt, man traut sich erste Schritte, ohne irgend eine Bestätigung von irgendwem zu brauchen – ein innerer Vorgang, bei dem man zusehen kann, wie Kraft entsteht und größer wird, Kraft, von der die Macht der Worte zehrt, die ansonsten als bloßes Geplapper zu Nichts zerrinnen.

Dieser Artikel wurde gefördert von Zitate online zitate-online.de. 1000 Dank! Ich habe die mir so geschenkte „Schreibzeit“ sehr genossen!

Diesem Blog per E-Mail folgen…

Claudia am 11. Oktober 2005 — Kommentare deaktiviert für Vom Stöhnen des Lüfters zur Stille des Seins

Vom Stöhnen des Lüfters zur Stille des Seins

Eine kleine Meditation über die Geräusche des Alltags

Wenn ich des Morgens als eine der ersten Handlungen des Tages meinen PC einschalte, reagiert er auf den entschlossenen Knopfdruck mit einem lang anhaltenden Stöhnen. Es klingt, als würde sich jemand mit größter Anstrengung aus dem Staub tausendjähriger Gräber erheben. Der Ton steigert sich, etwas ringt krampfhaft um Luft, um dann, nach ein paar Sekunden, die mir schier endlos vorkommen, in das gewohnte sanfte Säuseln überzugehen, das den Hintergrund meines werktäglichen Soundteppichs bildet.

Es ist der Lüfter, ich weiß, ich müsste dringend den Vor-Ort-Service benachrichtigen: Techniker kommt, klappt das Gerät mit brachialen Handgriffen auf, alter Lüfter raus, neuer rein, fertig – und nichts stöhnt mehr. Zweimal war das bereits nötig, Lüfter scheinen nicht gerade der Hit in der Produktpalette von Dell zu sein.

Manchmal staune ich, was für innere Resonanzen so ein „stöhnendes Gerät“ auslöst: Mitleid, Schuldgefühle (Himmel, heut‘ ruf ich aber an!), Angst um die Daten (muss mal wieder sichern, dringend!), aber auch eine seltsame innere Genugtuung: ICH habe keinen Grund, so leidvoll zu stöhnen, wie schön! Stehe morgens GERNE auf, beginne den Tag mit Freude und einer großen Kanne Milchkaffee – was will ich mehr?

Das Röcheln der italienischen Espressokanne ist das nächste „typische Geräusch“ des Tages. Es erinnert mich an den Graupapagei eines alten Freundes, der des Morgens genau diesen Ton in täuschender Echtheit zu Gehör brachte, um seinen Besitzer aus dem Schlaf zu locken. Mir bedeutet es fröhliches Loslegen, der Kaffe steht schon bald neben dem Mauspad, der PC hat seine Probleme für diesen Tag hinter sich gebracht – und jetzt wähle ich mich ein: Internet, ich komme! Wie das kreischt, zirpt, quengelt, in den unterschiedlichsten Tonlagen zwitschert! Manchmal denke ich daran, diesen Ton aufzunehmen und zum Download anzubieten: für all diejenigen, die nie im Leben Kontakt mit einem Analog-Modem hatten, zu dem ich hier (mitten in Berlin!) dank der Telekom immer noch verdammt bin. Würde sich bestimmt auch gut als Klingelton machen.

Die Augen kann man schließen, doch gegen Töne kann man sich nicht wehren, wir sind ihnen ausgeliefert. Selbst Oropax und ähnliche Gehörverstopfer schotten nicht hunderprozentig ab. Muss auch nicht sein, denn lange schon wähle ich meine Umgebungen „geräuschbewusst“. Mal eine Stunde Bohrmaschineneinsatz beim Nachbarn stört mich nicht, eine halbe Nacht African Drums pro Jahr nehme ich ohne Protest hin, doch in lauten Kneipen halte ich mich nicht mehr auf, denn ich will ja hören, was der Mitmensch sagt. Meine Wohnung liegt in einem recht ruhigen Viertel mit wenig Verkehr, der nur sehr verhalten zum dritten Stock herauf tönt. Ich arbeite weitgehend in der Stille und verabscheue es, im Hintergrund Radio oder TV laufen zu lassen. Musik schalte ich nur ein, wenn Besuch kommt. Die Pausen im Gespräch wirken dann weniger irritierend, Schweigen wird einfacher, auch mit Menschen, die ich nicht körperlich berühre.

Seelenmassage und Gefühlsdesign

Handwerker beschallen sich in der Regel über den gesamten Arbeitstag. Neben dem Werkzeug ist das Kofferradio ihr wichtigstes Mitbringsel. Was würde ihnen wohl zustoßen, wenn sie der Stille ausgesetzt wären? Darüber habe ich öfter schon nachgedacht, wenn mal wieder einer (Stört Sie die Musik? Nein, nein, machen Sie nur!) auf ein paar Stunden Radio Energy oder sonst einen zeitgemäß lauten und aufgeregten Sender nicht verzichten konnte. Hits der 70er, 80er, 90er und das Beste von heute – rauf und runtergespielt von einem Computer, dazwischen erregte Ansagen über Banalitäten. Haben die alle gekokst? Nicht mein Problem, schließlich hab ich nur selten die Handwerker in der Wohnung, und wenn doch, ist es ein interessanter Einblick in einen fremden Gemütszustand. Was erreichen sie eigentlich mit dem ununterbrochenen Gedudel? Wollen sie keine eigenen Gedanken aufkommen lassen und in eine Art Trance geraten? Etwa so, wie man in alten Zeiten bei körperlicher Arbeit ins Singen kam??? Gesungen wird heute nur noch von wenigen Unermüdlichen in allerlei Freizeit-Chören, ansonsten lassen wir singen, es wäre peinlich, an dieser Stelle zum Do-it-Yourself zurück zu finden – warum eigentlich?

Musik trifft uns unmittelbar und erregt Gefühlsresonanzen. Die Melancholie Leonard Cohens, die euphorische Siegestrunkenheit von Queen, das Pathos der Carmina Burana, die vergeistigte Feierlichkeit der Klavierstücke von Bach, die fröhlich-aufmüpfig-anklagenden Sprechgesänge im Rap – Musik ist Seelenmassage, im besten Fall frei gewählte Stimulation des Gefühlskörpers, der in Zeiten des rechnenden Denkens kaum mehr gespürt wird. Ja, eigentlich tun wir von klein auf alles, um jede natürliche Gefühlsreaktion zu unterdrücken: wir wollen und sollen „cool sein“, die Fassung bewahren, stets besonnen und rational unseren Zielen und Zwecken nachstreben. Durchgeplante Tage in stählernen Gedankengehäusen, die weder Wärme noch Kälte, weder Liebe noch Verzweiflung aufkommen lassen – allenfalls gähnt inmitten der vorgestanzten Pflichten und Termine die ganz große Langeweile. Legt man dann mal „Another one bites the dust“ auf, am besten so richtig laut, fühlt man sich gleich wieder besser, ja, ausgesprochen gut drauf und zu weiteren Schandtaten bereit.

Solches Gefühlsdesign mittels Musik ist nicht mehr mein Ding. Irgendwann Ende der 80ger hab‘ ich aufgehört, an aktueller Musik Anteil zu nehmen. Die alten Kassetten verstaubten in einer Schachtel, bei irgend einem Umzug trennte ich mich von der letzten „Anlage“, wie man das recht großformatige Geräte-Set mit schwarzen Boxen damals nannte. Komischerweise vermisste ich nichts, auch der irgendwann erworbene Radiorecorder blieb die meiste Zeit stumm. Ich führte ein Leben ohne Musik und hasste die zunehmend raumgreifende Hintergrundbeschallung in Kaufhäusern, Aufzügen und öffentlichen Toiletten. Es gibt viele Arten, zum Misanthropen zu werden, dies ist eine davon: Von was für Menschen bin ich eigentlich umgeben, die es keine halbe Stunde mit sich aushalten, ohne ihr Innerstes von außen stimulieren zu lassen? Können sie es nicht mehr wagen, eigene Empfindungen zuzulassen? Müssen sie jegliche Seelenregung übertönen und wegdrücken, um ihren Tag zu bestehen? Was würde ihnen zustoßen, wenn das mal wegfiele? Geraten sie dann in Panik – und warum? So gesehen kann einem der Mitmensch langsam aber sicher recht unheimlich werden!

Mehr und mehr empfand ich Musikbeschallung als rüde Vergewaltigung. Wenn mir ein heftiger Sound ein bestimmtes Gefühl aufzwingt, ist das nichts wesentlich anderes, als wenn jemand meinen Körper fremdbestimmt. Meine Horrorvision ist das Altersheim, in dem man endlos Hits der 60er, 70er und 80er abdudelt und wir als Greisinnen und Greise zu „I can’t get no Satisfaction“ euphorisch mit dem Fuß wippen. Und wenn ich dann endlich ins Koma falle, ist noch immer nicht Ruhe: dann werden mir per Headset Zen-Gongs und tibetische Blashörner eingespielt, auf dass die Seele ihren Weg durch den Bardo nicht unbeschallt antreten muss.

Angst ist hörbar

Gleich wird meine Kaffeekanne zum zweiten Mal röcheln! Draußen erklingt das Tatü-Tata einer Feuerwehr – eigentlich komisch, dass dieser Sound über die Jahrzehnte kein Update erfahren hat! Der Wind fährt durch die Bäume auf dem Rudolfplatz und raschelnd reißen sich die ersten Blätter los, fallen herab auf den Kinderspielplatz, der um diese Zeit sehr belebt ist: Lachen, Schreien – bei geöffneter Balkontür ist hier einiges zu hören, doch es stört mich nicht. In zwei Jahren Leben auf dem Lande hatte ich soviel äußere Stille, dass sie für ein Leben reicht! Seitdem geht der Lärm der Stadt durch mich hindurch, ohne irgendwo im Gemüt anzuecken und genervte Gefühle zu erzeugen. Ein seltsames Phänomen, das sich auch positiv auf die Situation auswirkt, wenn ein Geliebter neben mir einschläft und schnarcht. Auch das geht durch mich hindurch – allerdings nur dann, wenn ich mit ihm eins bin, wenn es nichts an ihm zu meckern gibt und die physische Nähe Ausdruck unserer inneren Nähe ist. Ansonsten schlafe ich lieber allein.

Leider viel zu selten komme ich mal raus aus der Stadt, ins brandenburgische Umland. Dort kann ich dann fast sicher sein, dem schrecklichsten Sound zu begegnen, den ich mir vorstellen kann: Das tiefe und gefährliche Brummen einer Hornisse erkenne ich aus allen anderen Insektenstimmen heraus. Ich weiß, ich weiß, so gefährlich sind sie nicht und meist auch nicht aggressiv – aber ich hab‘ nun mal von Kindheit an eine Bienen-Wespen-Hornissen-Phobie, als deren Rest mir die Angst vor den Hornissen geblieben ist. Mein Begleiter macht gerne Scherze darüber, dass ich sie geradezu anziehe. In den Monaten, die ich einst in einem uralten italienischen Bauernhaus verbrachte, war ich ihnen sehr nahe: jeden Abend umschwirrte so ein Rieseninsekt in Alarmfarben die offene Gaslampe und erlegte sich irgendwann in der Flamme – schauderhaft! Ihr tiefer Ton geht mir durch Mark und Bein, doch hat mich diese Erfahrung, der ich nicht ausweichen konnte, auch inspiriert: meine einzige belletristische Story entstand unter direkter Einflüsterung der Hornissen. Schreibend versuchte ich, den Schrecken, den sie mir bedeuteten, in den Griff zu kriegen. Und wirklich, meine Angst ist seitdem deutlich geringer, doch wenn ich ihren Ton höre, spüre ich es immer noch tief im Bauch.

Der tonlose Ton

Gibt es eigentlich vollkommene Stille? Zur Übung der Meditation sucht man gewöhnlich eine ruhige Umgebung mit möglichst wenigen Fremdgeräuschen auf. Seltsamerweise kann es dann doch sehr laut werden: eine Tür schlägt zu, ein Räucherstäbchen knistert, ein Vogel zwitschert, jemand niest, hustet oder räuspert sich – je mehr die Stille gesucht wird, desto mehr scheint sie sich zu entziehen. Von John Cage wird erzählt, er habe mit großem technischen Aufwand nach der absoluten Stille gesucht – und sie doch niemals gefunden! Kein Wunder, sie ist ja nicht „da draußen“, sie ist der Hintergrund, auf dem alle Töne erscheinen. Wenn es uns gelingt, von allem abzusehen, sämtliche Eindrücke widerstandslos – also ohne Bewertung – durch uns hindurch gehen zu lassen, dann hören wir vielleicht den „tonlosen Ton“, den Urgrund aller Dinge, den Nicht-Sound der Leere, die die Fülle ist.

Soweit hab‘ ich’s aber auch noch nicht gebracht! Ich arbeite noch dran, meinem PC das Stöhnen wieder abzugewöhnen: HEUTE werde ich bei Dell anrufen, bevor mir der Lüfter noch ganz verreckt. Ganz bestimmt!

Dieser Artikel wäre nie entstanden, hätte ihn nicht ein Diary-Leser unterstützt und sich das Thema gewünscht! 1000 Dank! Ich habe die mir so geschenkte „Schreibzeit“ sehr genossen!

Diesem Blog per E-Mail folgen…

Neuere Einträge — Ältere Einträge