Vilém Flusser - Philosoph Arbeit, |
Vilém Flusser - Intro Die Krise der Codes
"Vilém ist tot!" Betrübt schaute der Typ am Tresen in sein leeres Weinglas, offenbar erwartete er keine Antwort und wollte
seiner Bemerkung auch nichts hinzufügen. Es war im Mai 1991 und ich wunderte mich, daß der Tod von Vilém Flusser, der
gerade bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war, solche Betroffenheit auslöste - auch bei Leuten, die ich nicht zu den philosophisch Interessierten gezählt hätte.
Noch während ich das schreibe, wird auch mir wieder traurig zumute, denn Vilém Flusser war einzigartig in seiner Art zu denken,
vorzutragen, zu lehren und zu schreiben.
Gerade lese ich seine "Vorlesungen zur Kommunikologie" und bin aufs Neue fasziniert
von seiner Präsenz und seiner - auch bei den komplexesten Darstellungen - immer verständlichen Sprache. Nie hat er es nötig,
seine Texte mit mehr verwirrenden als belehrenden Verweisen zu spicken - auch Fußnoten finden sich nicht. Flusser konzentriert sich allein auf den Gang seiner Gedanken und er kann sich das erlauben, denn sie sind
spannend und neu. Es macht Spaß, ihn zu lesen! Ebenso ist die Form seiner Rede erwähnenswert: er
beschreibt die Dinge konsequent phänomenologisch, unvoreingenommen betrachtend, ohne vielerlei intellektuelle
Vorentscheidungen über die zu beschreibende Sache.
Ein Beispiel:
Diese Art "Schreibe" hat etwas Verblüffendes und deshalb auch dann noch Amüsantes, wenn es sich um todernste
Probleme handelt, wie etwa den anstehenden Untergang des Menschen, des speziell Humanen am Menschen.
Womit ich bei Flussers Themen bin, die sich rund um den Begriff "Krise" anordnen, einer Krise, angesichts der er sich immer
auf ermutigende Weise geweigert hat, Pessimist zu sein. Er sieht die Menschen in der Situation, sich darüber aufgeklärt zu
haben, ein Nichts im Nichts zu sein: Die moderne Wissenschaft hat gezeigt, daß das Objekt nicht etwas Solides ist, sondern
eine Ausbuchtung einander kreuzender Beziehungsfelder. Die moderne Psychologie und Existenzanalyse legen nahe, daß
wir keinen 'harten Kern' haben bzw. kein solcher Kern sind (alles, was einmal den Menschen ausmachte: Freiheit, Verantwortung,
Geist, Seele - wurde zu Ende analysiert und nichts blieb übrig außer den zufällig gegebenen sozialen und genetischen Bedingungen,
die ja auch nichts Festes sind).
Dies macht einen Sturz ins Bodenlose unvermeidlich. Wer nicht mehr an die Dinge glauben kann, glaubt auch nicht mehr
an das Heil, an ein Ziel der Geschichte und an die technische Herstellbarkeit des Glücks. Die Krise ist so umfassend, daß der
herrschende Code menschlicher Kommunikation, das lineare Alphabet, mit in den Abgrund gerissen wird. Die Texte verlieren
ihre Funktion, uns mit ihrer Hilfe ein Bild von der Welt zu machen, denn ein wissenschaftlicher Text über die Welt ist nicht mehr (allgemein-)
verständlich, man kann sich zu ihm nichts mehr vorstellen. Weil dies so ist und weil die Wissenschaft dennoch
unsere "herrschende Lehre" bleibt, werden Texte bedeutungslos: man kann ihnen nicht mehr glauben, man konsumiert sie nur noch wie eine beliebige Freizeibeschäftigung.
Flusser zentriert seine Beobachtungen in dieser gefährlichen Lage auf das Heraufkommen eines neuen Codes,
des Codes der technischen Bilder, der das Alphabet ablöst. Er arbeitet den Unterschied zwischen technischen Bildern,
die Bilder von Begriffen sind, im Vergleich zu traditionellen Bildern heraus, die noch eine Realität abbilden. Und
er beleuchtet die verzweifelte Lage der menschlichen Kommunikationsstrukturen: Im Zuge des Umbruchs der
Codes geraten die Methoden menschlicher Verständigung zu wirkungslosem Leerlauf (z.B. in der Politik) und
bewußtlosem Programmiert-werden durch die Massenmedien, die sich der neuen Technobilder (Fotografie, Filme, Fernsehen)
bedienen. Es droht ein voll automatisierter totalitärer Techno-Staat. Dabei macht Flusser nicht
"die Sender" für das Geschehen verantwortlich, nein: wir alle seien (noch!) nicht in der Lage, mit Technobildern und
neuen Medien angemessen umzugehen, weil wir noch alphabetisch konditioniert sind und mit unserem geschichtlichen
Bewußtsein hilflos in einer Welt herumrudern, die schon längst einen neuen Code schreibt.
Den neuen Bewußtseinszustand, der den Technobildern angemessen ist, nennt Flusser "Technoimagination" und versucht, sich
- und uns- vorzustellen, wie er aussehen könnte.
Besonders spannend für Internet-Interessierte macht Flussers Denken - von dem ich hier nur einen winzigen
Appetithappen vorgestellt habe - seine Feststellung, daß es technisch leicht möglich wäre, die (Amphitheater-)Struktur
"Großer Sender - Massenpublikum" in eine dialogische Struktur zu verändern, bei der jeder Teilnehmer gleichzeitig Sender
und Empfänger ist. Das WorldWideWeb hat er leider nicht mehr mitbekommen, es hätte sicher seinem Bemühen, in der Krise
neue Wege aufzuzeigen, Auftrieb gegeben. Trotz seiner Weigerung, Pessimist zu sein, war er - angesichts dessen, was vor
sich geht - mehr als besorgt und war sich vor allem klar, daß der anstehende "Bewußtseinssprung" kein Spaziergang wird:
Flusser war sein Leben lang Migrant: geboren 1920 in Prag, mußte er 1939 vor den Nazis nach England fliehen.
Von dort emigrierte er 1940 nach Sao Paolo, wo er bis 1972 Kommunikations- und Wissenschaftsphilosophie
lehrte. über seine Situation an der Universität schrieb er:
Dennoch übte er auf die Studenten eine ungewollt charismatische Wirkung aus, was ihm aber wenig half:
1972 mußte er vor dem Militärregime fliehen. Auf einem holländischen Frachtschiff entkam er nach Italien und reiste
wenig später nach Frankreich, wo er sich in einem kleinen südfranzösischen Dorf niederließ. Immer stärker setzte er sich mit den
neuen Medien auseinander, publizierte weltweit und war ein gefragter Redner auf Symposien und Kongressen. Sein erstes deutschsprachiges
Buch erschien 1983: "Für eine Philosophie der Fotografie". Claudia Klinger
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