|
Migratorische Räume
Brücke - Terrasse - Tasche - Sprungbrett
--
Farbenfabrik und Wohnhaus in Prag lagen nebeneinander. Eine Brücke verband die großelterliche Küche mit dem Fabrikdach. Auf diesem befanden sich eine Schaukel, Blumenbeete und eine kleine Laube für das Laubhüttenfest. Es versteht sich, daß der Transit von häuslicher Strenge zu paradiesischer Ungezwungenheit zu den geliebten Kinderritualen Viléms und seiner zweieinhalb Jahre jüngeren Schwester gehörten. Auch Edith vermuten wir auf dem Dach. Aus dem Alter von sechs erinnert Flusser den jähen Umschlag von Idylle in Pogrom. Von der Brücke aus will er mitangesehen haben, wie der wildgewordene Bernhardiner Barry dem Arbeiter Anton das Bein abbeißt und damit davonläuft. Für Flusser wird dies zur Urszene der Bodenlosigkeit.
--
Samstag- und Sonntagnachmittag verkehrte die Intelligenz von São Paulo auf der Terrasse des Flusserschen Hauses. "Um einen mehr oder weniger stabilen Kern Erwachsener (Künstler, Schriftsteller, Wissenschaftler und Philosophen), brandeten im Laufe von zwanzig Jahren die Ebben und Fluten der sich auswechselnden Jugend." ("Bodenlos", S. 208) Die Terrasse
"ist einerseits organische Fortsetzung des subtropischen Gartens, andererseits Fortsetzung einer Reihe von offenen Räumen. Man gelangt auf sie nur, wenn man die Reihe der Räume durchschreitet. Der Besucher, der die immer offene Zauntür und die meist offene Haustür unbemerkt von den Hausbewohnern hinter sich gelassen hat, kommt also aus der Hitze, dem Hochdruck und dem Lärm der Straße erst in ein kühles Vorzimmer, wo ihn Aquarellstudien Flexors begrüßen, dann geht er durch ein geräumiges Wohnzimmer, von dessen Wänden zahlreiche Gemälde der brasilianischen Avantgarde ins Halbdunkel strahlen und das von Miras durchsichtiger Platte beherrscht wird, durchquert eine kleine Bibliothek, kommt in ein ebenfalls bilderumhängtes Speisezimmer und erreicht schließlich die Terrasse." (S. 207) Dazwischen wird man, sofern die Terrasse im "ewigen schimmelgrünen Frühling" São Paulos das ganze Jahr über offen gehalten wurde, den Wintergarten mit dem in der Tiefe seines Hauses sitzenden Hausherrn vermuten, der sich und seiner kokelnden Pfeife das kühlste Plätzchen, wie später auf Robions Veranda den bequemsten Sessel, zu sichern wußte.
--
Vom äußerlich fast unansprechbaren, die Räume seiner Innenwelt durchquerenden jungen Beuys ist der Satz überliefert: "Ich brauche nur noch einen Rucksack." Sein nomadologischer Wechselbalg Flusser hatte zwar seine gelbe, verschiedenfarbige Mappen enthaltende, reißverschließbare Ledertasche (man ahnt das Geburtstagsgeschenk) 1972 gut über den Atlantik gebracht, doch war sie aus seinem vor einem Pariser Hotel parkenden Auto entwendet und einige Straßen weiter unversehrt wiedergefunden worden. "Der Einbrecher hatte sie für wertlos befunden. Ein niederschmetterndes literarisches Urteil." ("Nachgeschichten", S. 220) Bedanken wir uns dafür, verschafft es uns doch einen einzigartigen Überblick über Flussers brasilianisch-europäische Kassiber. Die Tasche hütete elf Mappen:
--
An der Geste des Fotografierens hatte Flusser besonders das ansichtenvergleichende Springen des Fotografen von Standpunkt zu Standpunkt imponiert. Von 1983 bis 1991 konnte Flusser sein eigenes Sprungvermögen kontinuierlich und sprunghaft steigern. Dabei lassen sich folgende Phasen unterscheiden: 1) Anlauf, Absprung und Aufsprung aufs Podium, 2) Sprung von Podium zu Podium, 3) Sprünge auf dem Podium, 4) Sprünge in den Köpfen der Zuhörer.
Schon der Anlauf verdient eine Tapferkeitsmedaille. Passierte der Mann doch nicht nur sein siebentes Lebensjahrzehnt, nein, er besprang die deutschen Podeste aus der Entrücktheit südfranzösischer Lebenskunst. Da zuckelten die beiden, natürlich fuhr Edith, das Rhonetal hinauf, machten bei Abraham Moles und Victor Flusser im Elsaß oder bei Irmgard Zepf im Schwarzwald Station, fuhren die germanischen Stromtäler hinab und am Verabredungsort nahmen sie noch den pünktlichsten Veranstalter in Empfang. In ausgeklügelter Logistik haben die Flussers auf diese Weise Podien hintereinander geschaltet, deren Betreiber, so sie sich nicht mieden, nie voneinander gehört hatten. Wenn jemand den Kulturstandort Deutschland an der Schwelle der 80er und 90er vernetzte, dann dieser telematische Reisekader, der wie die Maschinen Tinguelys die Möglichkeiten einer überholten Technologie bis zum äußersten ausreizte. Und dann die Sprünge auf dem Podium. Man wagt sich nicht zu erinnern. Die Silben schießen durch den Raum, als sei der Leibhaftige hinter ihnen her, Totenstille, man wird nie wieder atmen. Ein auf einer eingesunkenen Brust aufgepflanztes Gesicht als Menschheitsacker. Man weiß, was los ist, wenn alle Bilder noch einmal aufblitzen. Ein Gebiß knackt, das ist Nußknacker, wie er Deinen Kopf aufknackt. Die Köpfe müßten jetzt zusammengeschaltet werden, das einzelne Gehirn ist restlos überfordert. Gehirnentkalkung, Zellregionen werden wach, die noch nie gedacht haben. Das Vieh vor der Tafel rumst gerade an die Wand. Weiter zurücktreten geht nicht, jetzt muß man konkretisieren. Konkretisiert auf Dich zu, schwebt über Dir, verschlingt die hinterste Bank. Das Untier will jetzt mit Fragen gefüttert werden.
___________________________________
Reinhold Grether: Die Weltrevolution nach Flusser
|